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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1270–1273

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

(1) Tilliette, Xavier (2) Tilliette, Xavier

Titel/Untertitel:

(1) Le Christ de la Philosophie. Prolégomènes à une christologie philosophique.
(2) Philosophische Christologie. Eine Einführung. Aus dem Franz. von J. Disse.

Verlag:

(1) Paris: Cerf 1990. 293 S. 8. Kart. fFr 145,-. ISBN 2-204-04088-6.
(2) Freiburg: Johannes 1998. 314 S. 8. Kart. DM 42,-. ISBN 3-89411-341-3.

Rezensent:

Richard Schaeffler

Der französische Originaltitel gibt die Absicht der vorliegenden Untersuchung deutlicher zu erkennen als der Titel der deutschen Übersetzung: Tilliette, philosophischen Lesern vor allem als Schelling-Forscher bekannt, hatte in den Jahren 1974-1977 eine Reihe von Aufsätzen unter dem Titel "Le Christ des philosophes" (Der Christus der Philosophen) publiziert, die darlegen sollten, auf welche Weise sich Philosophen aus verschiedenen Perioden der Philosophiegeschichte mit der Gestalt Jesu, mit den biblischen Zeugnissen seines Lebens, Leidens und Auferstehens und mit den theologischen Aussagen über ihn auseinandergesetzt haben. (Ein Sammelband von 1993, ebenfalls unter dem Titel "Le Christ des philosophes" faßt diese früheren Veröffentlichungen noch einmal zusammen.) Der vorliegende Band soll nicht dem "Christus der Philosophen", sondern dem "Christus der Philosophie" gewidmet sein, d. h. er soll zeigen, daß und auf welche Weise zentrale Themen der Philosophie, vor allem "der Metaphysik, der Religionsphilosophie, der philosophischen Anthropologie und der Geschichtsphilosophie" (148), aber auch der Ethik eine Reflexion auf Person und Schicksal Jesu notwendig machen. Auf solche Weise "stimuliert die Christologie rückwirkend die philosophische Reflexion und eröffnet ihr neue Möglichkeiten" (ibid.). Läßt sich dies zeigen, dann kann die These gewagt werden: "Die philosophische Reflexion über das geheimnisvolle Sein Christi nützt ... auch der Theologie" (288), ja sie gestattet "eine kritische Überprüfung der von der Theologie bereitgestellten christologischen Sätze" (298), die sich an den Ergebnissen der philosophischen Reflexion bewähren müssen. Freilich: Die hier vorgelegte Untersuchung führt das so beschriebene Programm einer "philosophischen Christologie" nicht aus, sondern will nur eine "Hinführung" dazu leisten (deutscher Untertitel), oder, noch bescheidener, einige "Prolegomena" dazu formulieren (französischer Untertitel).

Im Ersten Teil ("Heuristik") resümiert der Vf. noch einmal seine Beobachtungen über die unterschiedlichen Versuche von Philosophen, sich durch die biblischen Zeugnisse von Christus und durch die Glaubenssätze der theologischen Christologie zu einem neuen Verständnis ihrer eigenen, spezifisch philosophischen Aufgaben anregen zu lassen. Dieser Teil dient dazu, die philosophisch bedeutsamen Themen aufzufinden, die einer kommenden "philosophischen Christologie" gestellt sein werden (daher die Bezeichnung "Heuristik"). Auf solche Weise soll zugleich "auf induktivem Weg die Idee und die Möglichkeit einer philosophischen Christologie" erwiesen werden (278). "Induktiv" ist dieser Weg insofern, als die Argumentation von der historischen Tatsache ausgeht, daß es in unterschiedlichen Epochen vielfältige philosophische Entwürfe einer Aneignung der Christus-Botschaft in den Kontext philosophischer Reflexion gegeben hat und daß diese Entwürfe ihre Fruchtbarkeit für das philosophische Denken und ihren herausfordernden Charakter für die Theologie erwiesen haben.

Die dafür herangezogenen Zeugnisse reichen von dem Bekenntnis des Melitto von Sardes "Nostra philosophia Christus est" (womit der Glaube an Christus an die Stelle der heidnischen Philosophie treten soll) über Cusanus und Pascal bis zu Hegels Dialektik, von der der Vf. nachweist, daß der Begriff der "Negation der Negation" an der christlichen Kreuzestheologie abgelesen ist ("Mortem nostram moriendo destruxit"). Von dort schreitet die Darstellung weiter über Fichte, Schelling und Kierkegaard bis zu Blondel, Simone Weil, Unamuno und Edith Stein. Wie bei T. nicht anders zu erwarten, sind besonders aufschlußreiche Analysen der Philosophie Schellings gewidmet, dessen Verständnis der göttlichen wie der menschlichen Freiheit aus einer philosophischen Aneignung der christlichen "Kenosis-Theologie" verständlich gemacht werden kann: Die Freiheit des Gottessohns erweist sich gerade darin, daß er sich "leer gemacht" und "Knechtsgestalt" angenommen hat und erst so den "Namen" empfing, "der über alle Namen ist".

Der zweite Teil ("Topik") führt jene biblischen Texte an, auf die sich das Interesse der Philosophen konzentriert hat: den Prolog des Johannes-Evangeliums mit seiner Inkarnationstheologie; den Hymnus aus dem Brief an die Philipper mit seiner Kenosisbotschaft; die Bergpredigt als Summe der ethischen Botschaft Jesu; vor allem aber die Passionsberichte. Wiederum werden die Philosophen angeführt, deren Denken durch diese Texte auf je besondere Weise herausgefordert worden ist, diesmal aber nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in themenbezogener Weise. "Philosophen haben sich gewissermaßen im Gleichklang um einige philosophisch-theologische Themen herum zusammengefunden und haben bei ihnen verweilt, als wären sie ... wie von einem Magneten angezogen worden" (150). Der Nachdruck liegt hier auf der Spannung zwischen der Einheit des jeweils behandelten biblischen Zeugnisses und der Vielheit der Aspekte, die dabei, je nach der Besonderheit der philosophischen Betrachtungsart, hervortreten. Dabei setzt die Vielfalt der philosophischen Zugänge "die theologische Christologie" in ihrer Einheit "voraus, deren gebrochener Widerschein in der Philosophie das wesentliche Thema vorliegender Studie war" (296 f.). Dadurch soll nicht einer "Polychristie" das Wort geredet werden, einer Aufspaltung des einen Christus in die Vielfalt philosophischer Christusbilder. Vielmehr ist "Christus wie ein Spiegel, der durch das in ihm Abgebildete unberührt bleibt" (286).

Eine systematische Auswertung der vielfältigen Versuche, die Christusbotschaft in das philosophische Denken hinein anzueignen, oder gar ein eigener Entwurf einer "philosophischen Christologie" wird auch in diesem zweiten Teil nicht unternommen. Doch meint der Vf., an Theologen wie "Wolfhart Pannenberg, Jürgen Moltmann und Eberhard Jüngel, aber auch Hans Küng" aufzeigen zu können, daß auch die Theologie davon gewinnen kann, wenn "die Philosophen sich mit an den Tisch der Theologen setzen" (300 f.). Eine philosophische Christologie, zu der hier nur "Prolegomena" geboten werden, erscheint ihm deshalb "in den Bedrängnissen dieser Zeit ein Wunsch und doch auch schon eine Verheißung" (301, letzter Satz des Buches).

Der Vf. ist sich dessen bewußt, daß er mit seinem Projekt einer philosophischen Christologie auf Widerspruch stoßen muß. "Wenn schon der Begriff einer christlichen Philosophie strittig ist, dann um so mehr der einer philosophischen Christologie als deren illegitimer Abkömmling" (278). Die Auseinandersetzung mit diesen Einwänden, die vor allem von Theologen vorgetragen werden, durchzieht das ganze Buch. Das Berechtigte an solchen Einwendungen sieht der Vf. in dem Hinweis auf die Gefahr, daß die philosophisch angeeignete Christologie ihre spezifisch christlichen Inhalte verlieren und sich in Metaphysik, Moralphilosophie oder Anthropologie auflösen könnte. Und dadurch würde zugleich einem religiösen Synkretismus Vorschub geleistet. Ein Sammelbegriff für diese Gefahren lautet "Gnosis". Deshalb wird die Darstellung der verschiedenen philosophischen Entwürfe stets von kritischen Abgrenzungen begleitet, deren Absicht darin besteht, sachgerechte Formen eines philosophischen Sprechens von Christus gegen gnostische Deformationen abzugrenzen.

Die Kriterien dieser Abgrenzung sind freilich nicht immer eindeutig. Zuweilen ist davon die Rede, es müsse "möglich sein, die Philosophie vom Joch der Orthodoxie zu befreien, ohne an ihre Christlichkeit zu rühren" (29). An anderen Stellen, und weit häufiger, wird davon gesprochen, "der von der Theologie losgelöste, phänomenologische, spekulative Christus" sei "ergreifend in seiner Größe", laufe aber "Gefahr, in die Irre zu gehen" (296). Es könne nicht darum gehen, "die Glaubensinhalte zu sublimieren und ihnen ein rationales Äquivalent zuzuordnen". Denn dann habe man es "entweder mit einem Christus ohne Christologie zu tun, mit der schönen Seele oder dem religiösen Genie, oder aber mit einer die Idee Christi entfaltenden Christologie ohne Christus" (279). In solchen nicht leicht harmonisierbaren Beschreibungen dessen, was eine philosophische Christologie leisten müßte, werden ungeklärte Fragen der Programmatik und Methodologie offenbar. Aber unerachtet eines hier noch uneingelösten Klärungsbedarfs kann der Vf. beharrlich auf den historischen Befund zurückkommen, daß die Philosophie immer wieder aus dem Versuch, sich christologische Inhalte anzueignen, wichtige Impulse für die Entwicklung ihrer Fragestellungen und Methoden empfangen hat, daß aber auch die Theologie aus solchen philosophischen Denkansätzen fruchtbare Hilfen für die Erfüllung ihrer eigenen Aufgabe gewinnen konnte. Auf solche Begegnungen zu verzichten, würde zugleich bedeuten, die Philosophie wie die Theologie wesentlicher Möglichkeiten ihrer je eigenen Reflexion zu berauben.

Diese historischen und methodologischen Befunde aber findet der Vf. keineswegs erstaunlich. Denn wenn Christus das Wort ist, in dem alles erschaffen wurde, dann lebt auch der menschliche Logos beständig aus der verborgenen Gegenwart dieses göttlichen Worts; und der von der Philosophie angeeignete Christus "kommt in sein Eigentum" und hat einen Anspruch darauf, "von den Seinigen aufgenommen" zu werden: "in propria venit et redit" (301). So sollen die aus der Geschichte des Philosophierens gesammelten Beispiele dazu dienen, als Verheißung verstanden zu werden und eine Hoffnung zu stärken. Als Zeugnis einer solchen durch die Geschichte belehrten Hoffnung verdient das vorliegende Werk intensive Beachtung und hohen Respekt, auch wenn der Weg, den der Vf. beschreitet, noch ungebahnt ist und noch manche Steine des Anstoßes enthält, die das Projekt einer "philosophischen Christologie" zu Fall bringen könnten.

Zuletzt noch einige Bemerkungen zur Übersetzung ins Deutsche. T. bescheinigt ihr, sie sei "dem Original getreu". Gelegentlich, so z. B. in einer Anmerkung zu S. 16, gesteht der Übersetzer selbst die Unübersetzbarkeit der französischen Vorlage ein. In anderen Fällen kann der Leser gewisse Zweifel nicht unterdrücken.

Sollte man, wenn von der "sympathie stigmatisante" Christi die Rede ist, von einer "brandmarkenden Sympathie" sprechen und nicht eher von einer Liebe, die die "Wundmale" an sich trägt (145)? Sind, wenn es um Schellings Auffassung von der Mythologie geht, Herakles, Osiris und Dionysos "Metastasen" Christi - oder sollte man das französische "metastases" an dieser Stelle lieber mit "Verwandlungsgestalten" übersetzen, um den Leser nicht an Tochtergeschwülste von Karzinomen denken zu lassen (203)? Ist "la clarité du Paques" die "österliche Klarheit" oder eher das "aufstrahlende Licht des Osterfestes" (273)? Doch scheint in der gesamten Übersetzung nur ein einziger wirklicher "Unfall" geschehen zu sein, dort nämlich, wo aus der "amnésie" (dem Gedächtnisverlust) des Originals eine "Anamnesis" (eine Wiedererinnerung) geworden ist (290). Zieht man die Schwierigkeit in Betracht, einen in sehr kunstvoller Sprache verfaßten Text ins Deutsche zu übertragen, dann mindern diese wenigen Stellen nicht das große Verdienst des Übersetzers, dem der deutsche Leser zu Dank verpflichtet bleibt.