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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1328–1330

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Christian

Titel/Untertitel:

Alfred Rahlfs (1865–1935) und die kritische Edition der Septuaginta. Eine biographisch-wissenschaftsgeschichtliche Studie.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XII, 520 S. m. 4 Abb. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 489. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-045184-9.

Rezensent:

Folker Siegert

Christian Schäfer, der Verfasser eines Benutzerhandbuchs zur Septuaginta (ein Band über den Pentateuch und einer über das Buch Ruth sind erschienen), legt hier seine bei dem Alttestamentler Reinhard Kratz geschriebene Doktorarbeit vor, ein Werk vom Um­fang und der Reife einer Habilitationsschrift. Auszusetzen gibt es an S.s Arbeit fast nichts. Sie ist so gut wie fehlerfrei (74: scholis lies: scholiis; 77: »mit ermüdlichem Fleiß« lies »mit un-«) und liebevoll gedruckt. Am Ende steht, wie sich das gehört, eine komplette Bibliographie der Veröffentlichungen von Alfred Rahlfs (457–466).
Mit historischer Akribie, philologischem Sachverstand und sicherem Urteil schildert S. die Entstehungsgeschichte jener Septuaginta-Ausgabe, die seit 1935 auf der ganzen Welt sich bewährt, schildert auch die über Jahrzehnte sich hinziehenden Weichenstellungen und Vorarbeiten, die zur ersten »großen« Edition des Buchs Ruth und auch des Psalters geführt haben – beides freilich noch als Provisorium, in ersterem Fall auch bereits ersetzt – und dann zu dem von Rahlfs’ Mit- oder vielmehr Gegenarbeiter Kappler mit großem Apparat edierten 1. Makkabäerbuch. Bekanntlich stehen bis heute noch mehrere Geschichtsbücher aus, und auch der Psalter war für eine ausführlichere Darbietung des kollationierten Handschriftenmaterials gedacht, als Rahls selbst sie noch bieten konnte. Sieht man jedoch, wie planmäßig an diesem Unternehmen gespart wurde – schon Rahlfs musste sich damit begnügen, bis Ende seines Lebens nur außerplanmäßiger Professor zu sein (113) –, so wundert es nicht, dass sich das Unternehmen von der kriegsbedingten Verlangsamung, die noch hinzukam, nie mehr erholt hat. Bis heute kann es nicht leben und nicht sterben.
S. bietet, jeweils mit genauestem Nachweis der Aktenstücke, viel Amüsantes, aber auch Bedrückendes aus der petite histoire dieses Unternehmens. Für Rahlfs begann es mit einer Spezialvorlesung bei Paul Anton de Lagarde 1885, aus der dieser ihn fortschicken wollte, weil er nur Hermann Gunkel als seinen Schüler für dieses Projekt ausersehen hatte (12). Offiziell gegründet wurde das auf 30 Jahre geschätzte Unternehmen am 1.4.1908 mit Unterstützung der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften (86). Späterhin musste Rahlfs verlagstechnisch zwei Herren dienen: In Göttingen hatte er die Große Ausgabe versprochen, in Stuttgart die Kleine und wurde vom Verlag der Großen in Regress genommen für einen befürchteten Käuferverlust durch die Kleine, die »Handausgabe«. Es wurde ihm nämlich als Vertragsbruch ausgelegt, dass diese Letztere, als Interim gedacht bis zum Abschluss der Großen, auch schon kritisch gewesen war. In Stuttgart wünschte man sich offenbar das simpel-mechanische Prinzip des Nestle-NT: Von drei Ausgaben nimmt man die Mehrheitsmeinung, und wo jede etwas anderes hat, hält man sich an die renommierteste (das war damals die von Tischendorf). Das wäre, übertragen auf Codices – was prinzipiell schon nicht geht –, der gewohnte Vaticanus (B) gewesen. Doch was sollte Rahlfs machen, wo dieser im Buch Genesis überhaupt erst gegen Ende einsetzt, und was, wenn auch von den an­dern beiden oftmals nur einer für die fragliche Passage erhalten ist? Da griff er mitunter tief in sein Kollationenmaterial, was wir ihm bis heute nur danken können. Er hätte sein Wissenschaftsethos, für das er doch bekannt war, verleugnen müssen (288). Wer heute die Handausgabe wegen der Knappheit ihrer Angaben tadelt, weiß oft nicht, wie sehr Rahlfs schon für das Wenige, was er bietet, bluten musste.
Rahlfs hat das Erscheinen seines größten Werks, der Handausgabe, nur um acht Tage überlebt und seiner Familie hohe Schulden hinterlassen. Die griechischen Typen für die Handausgabe hatte er, wehrlos gegen juristische Schlingen, aus eigener Tasche bezahlen müssen (286). Dass diese Typen von nicht ganz gleichen Stärken sind, wird dabei nicht erklärt; aber Rahlfs hatte sicherlich nicht den Mut, so etwas zu reklamieren.
S. macht die editorischen Entscheidungen, die Rahlfs zu treffen hatte und für die ihm die Separatedition des Buches Ruth der sehr geschickt gewählte Probelauf gewesen war, bis ins Kleinste hinein verständlich. Vieles, was man in der von Siegfried Kreuzer und 44 anderen verfassten »Einleitung in die Septuaginta« (2016) vermisst, findet sich nun hier. S. beschreibt auch die sich wandelnden Tendenzen der nicht mehr von Rahlfs selbst bewerkstelligten Folgebände. War Ziegler, der nach Kapplers Unfalltod während des Krieges Rahlfs’ Erbe übernahm, dessen Prinzipien noch treu geblieben und ebenso Hanhart, so sind die Bände von Wevers einem ameri kanischen Positivismus verpflichtet, der schlechte, aber gerade noch brauchbare Lesarten im Text belässt und die Konjektur, auch wo sie mehr Wahrscheinlichkeit hat, in den Apparat relegiert. Quast vollends dokumentiert im Apparat auch solche Textfehler, die durch stemmatische Methode eliminierbar gewesen wären und ihren Platz allenfalls im Einleitungsteil hätten finden können, in welchem schon Ziegler derlei Material abzustellen begonnen hatte.
Wie genau Rahlfs die Lachmannsche Methode, einziges Mittel zur Aussonderung des Späten gegenüber dem Früheren, anzuwenden wusste, zeigen die auf S. 193–208 gebotenen, neu gezeichneten Stemmata und Substemmata zum Buche Ruth. Jede von dessen Rezensionen hat ihre eigenen Verästelungen, die nur dazu ermittelt werden, dass man deren jeweiligen Anfang findet. Viel Mühe kostet die hypothetische Ermittlung der Vorlage der späten und schlechten, aber von hexaplarischen Einflüssen freien lukianischen R ezension (wohingegen auf die von de Lagarde noch vermutete »hesychianische« verzichtet werden konnte); diese Arbeit ist in Spanien inzwischen geleistet worden. De Lagardes Tendenz, jeden Textzeugen nur einer Rezension zuzuschreiben (145.213), ist von Rahlfs vermieden worden durch das Prüfen jeder Handschrift auf ihre eventuellen Bruchstellen. So verästelt aber, wie am Buche Ruth ermittelt, ist die Überlieferung der übrigen Geschichtsbücher, de­ren Edition unter Berücksichtigung der genannten Vorarbeiten nicht ohne Grund bis heute aussteht. Das dafür gesammelte Material ruht nun in Göttingen, nach wie vor (soweit der Rezensent weiß) in Papierform.
Zur Fachsprache sei notiert, dass Dinge wie die Wiedergabe von eisēlthes in den Handschriften als heis ēlthes im Druck als »Emendation« bezeichnet werden (363 f.); das sind sie in Bezug auf die erhaltenen Handschriften, die ohnehin strotzen von orthographischen Fehlern. »Konjekturen« hingegen wären alle darüber hinausgehenden Eingriffe in den Buchstabenbestand. Solche werden bei einem Bibeltext verständlicherweise möglichst wenig gemacht; der Herausgeber will nicht selbst Prophet sein. Dass nicht alle Konjekturen, die doch gemacht wurden, in wünschenswerter Klarheit erkennbar sind, beklagt S. mit Recht (366–370). Das Einzige, was hier helfen würde, wäre eine vollständige Liste der in der Kleinen wie in der Großen Ausgabe gebotenen oder vorgeschlagenen Konjekturen, und zwar in biblischer Reihenfolge. Ein erster, unpraktischer Versuch Siegfried Kreuzers, zu welchem S. einen Fehlerapparat bietet (369), behebt den Mangel noch nicht.
Natürlich überwiegt bei einem solchen Untersuchungsgegenstand die Philologie über die Theologie. Was Letztere betrifft, so hatte gerade de Lagarde damals das Motto ausgegeben, eine solche könne es auf Universitäten gar nicht geben, sondern nur Religionswissenschaft. Angesichts dessen liest man mit Interesse (24), dass Göttingens Theologische Fakultät, die Anstellungsträgerin des künftigen Extraordinarius Rahlfs, diesem die Bedingung stellte, eine Predigt zu halten, welche dann von Mitgliedern der Fakultät mit Zufriedenheit gehört wurde. Erhalten ist sie nicht, dafür aber vieles aus dem Schriftverkehr der Zeit, was Einblick gewährt in das Denken protestantischer Wissenschaftler, die ihrer Kirche wie auch der selbstermittelten Wahrheit in gleichem Maße verbunden waren.