Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1326–1327

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lange, Lydia

Titel/Untertitel:

Die Juditfigur in der Vulgata. Eine theologische Studie zur lateinischen Bibel.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. X, 456 S. = Deuterocanonical and Cognate Literature Studies, 36. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-048321-5.

Rezensent:

Bonifatia Gesche

In den letzten Jahrzehnten rücken die antiken Übersetzungen des Alten Testamentes, zunächst die Septuaginta, dann aber auch die lateinischen Versionen, vermehrt in den Blick der Forschung, weil sich immer deutlicher abzeichnet, dass sie einen erheblichen Wert für die biblische Textkritik und für theologische Fragen haben und der spezifische Text dieser Versionen z. B. in der Kunst und Musik aufgegriffen wurde. Doch diese Übersetzungstexte ziehen ihre Bedeutung nicht allein aus dem Nutzen, den sie für andere akademische Disziplinen haben, vielmehr sind sie darüber hinaus als eigenständige Texte wahrzunehmen. In diesen Kontext gehört die hier anzuzeigende Studie von Lydia Lange, die unter der Betreuung von Barbara Schmitz entstand und 2015 in Würzburg als Dissertation angenommen wurde.
L. hat sich zum Ziel gesetzt, die Juditfigur in der Vulgata mithilfe einer narrativen Figurenanalyse zu untersuchen, wohinter der Gedanke steht, dass »die wesentlichen Inhalte eines Textes […] in der Regel über die Figuren einer Erzählung transportiert (werden)« (12). Die Eigenarten der Vulgata gegenüber der Septuaginta und Vetus Latina stehen dabei im Mittelpunkt. Die Studie ist literaturwissenschaftlich, nicht textkritisch ausgerichtet.
Auf eine allgemeine Einführung (1–13), in der L. die Geschichte der Vulgata in groben Zügen skizziert, einige Einzelaspekte des Bu­ches Judit und dessen Platz in der Überlieferung der Bibel aufzeigt, die schwierige Frage diskutiert, in welcher Sprache das Buch ur­sprünglich abgefasst wurde, und schließlich ihr Forschungsziel formuliert, folgt als erstes Kapitel (14–38) ein anschaulicher Überblick über Leben und historisches und soziales Umfeld des Hieronymus, die für die vorliegende Untersuchung eine besondere Rolle spielen, außerdem allgemein über seine Übersetzungstechnik.
Im zweiten Kapitel (39–113) bietet L. eine breit angelegte Darstellung der literaturwissenschaftlichen Forschungsgeschichte mit dem Fokus auf der Bedeutung der »Figur«, untermauert durch umfangreiche Hinweise auf die zugrundeliegende Literatur. Auf die Frage, ob für übersetzte Texte eigene Kriterien gelten, geht sie nur beiläufig ein.
Im dritten Kapitel (114–356), dem Hauptteil des Buches, stellt L. die Ergebnisse ihrer exegetisch-kognitiven Figurenanalyse vor. Die Figur der Judit ist schon in der Septuaginta-Fassung durch ihre Tugendhaftigkeit charakterisiert, weshalb Hieronymus sie den asketisch lebenden Frauen, mit denen er intensiven Kontakt pflegte, als Vorbild vor Augen stellte. Unter diesem Vorzeichen un­tersucht L. die Abweichungen – in vielen Fällen Textüberschüsse – der Vulgata gegenüber der Septuaginta und der Vetus Latina. Mithilfe von narratologischen und kognitiven Figurenanalysemodellen kann sie unter verschiedenen Gesichtspunkten die Charakterisierung der Figur der Judit herausarbeiten. Unter anderem kann sie zeigen, dass Hieronymus in seinen Briefen und in seiner Übersetzung des Buches Judit oftmals derselben ethischen und theologischen Grundhaltung folgt und in vielen Fällen die Le­bensverhältnisse der ihm befreundeten asketischen Frauen auf die Figur der Judit spiegelt. Hierzu zieht L. neben einer ausgiebigen Analyse der Briefe des Hieronymus dessen Übersetzungsstrategien in an­deren biblischen Büchern zurate. Auf diese Weise kann sie auch die Nuancen in den Wortbedeutungen hervorheben. Aus der Vielzahl an Einzelbeobachtungen kommt sie zu scharfsinnigen Schlussfolg erungen, anhand derer sie zeigen kann, wie stark Hieronymus sich bei seiner Übersetzung dieses Buches von seinen theologischen und ethischen Vorstellungen hat beeinflussen lassen, um seine christlich-asketischen Ideale seinem Leserkreis na­hezubringen.
Im vierten Kapitel (357–387) fasst L. ihre Ergebnisse bezüglich der Eigenarten der Vulgata-Fassung zusammen. So hebt sie hervor, dass Hieronymus die Stellung der politischen und religiösen Führung auf- und im Gegenzug die der Frau abwertet. Auffallend ist zudem, dass verstärkt Emotionen für die Charakterisierung der Figuren eine Rolle spielen. Schließlich unternimmt L. aufgrund ihrer Studie einen erneuten Versuch, die Vorlage, die Hieronymus verwendet hat, näher zu bestimmen, und hält es für fraglich, dass es sich um einen chaldäischen Text gehandelt haben könnte.
Den Abschluss bilden ein Literaturverzeichnis, ein Anhang, in dem die behandelten Kapitel der Vulgata-Fassung des Buches Judit mit deutscher Übersetzung wiedergegeben werden, und schließlich ein Stellenregister.
Diese in vieler Hinsicht inspirierende Arbeit ist leider in textkritischen Fragen oft unscharf. Zwar handelt es sich nicht um eine textkritische Untersuchung, so dass es nicht gerechtfertigt wäre, sie mit dem Maßstab zu messen, den man an eine textkritische Arbeit legen würde, aber einige grundlegende Erklärungen zur textlichen Grundlage wären hilfreich gewesen. So wünscht man sich eine Begründung, warum sowohl für den griechischen als auch für den lateinischen Text die jeweiligen Handausgaben von Rahlfs/Hanhart bzw. die Stuttgarter Vulgata-Ausgabe und von diesen ausschließlich der Haupttext als Grundlage verwendet wurden, nicht jedoch die Ausgaben der Göttinger Septuaginta bzw. die römische Vulgata-Ausgabe mit ihren umfangreichen kritischen Apparaten. Die Festlegung auf den rekonstruierten Text, der in dieser Form wohl nie existiert hat, ist zwar für eine Studie wie die vorliegende zu rechtfertigen, aber die damit einhergehenden Probleme müssten benannt werden.
Auch über die Einordnung der altlateinischen Übersetzung, die L. vor allem an der wichtigen Handschrift 151 aus dem 13. Jh. aufhängt – diese Handschrift hat Hieronymus im Gegensatz zu dem, was die Formulierungen L.s suggerieren (6 u. ö.), übrigens ebenso wenig eingesehen wie die übrigen mittelalterlichen Handschriften, die den altlateinischen Text überliefern –, wäre sicher mehr zu sagen. Hieronymus, dem es bei den Büchern der hebräischen Bibel ein so großes Anliegen war, den Text möglichst genau zu übersetzen, verfolgte offensichtlich beim Buch Judit eine andere Strategie. So hat er nicht, wie er es bei anderen Büchern, z. B. bei Jesus Sirach, getan hat, die altlateinische Version für die Vulgata übernommen, sondern er hat eine eigene Fassung angefertigt. Dies hat L. wohl im Sinn, wenn sie darauf hinweist, dass Hieronymus mithilfe des Juditbuches seine eigenen christlichen Ideale einem breiten Leserkreis nahebringen wollte (378).
Um die einzelnen Varianten und Zusätze gegenüber der Septuaginta und der Vetus Latina zu erklären, kommt jedoch nicht nur die Alternative einer nicht überlieferten hebräischen Vorlage, deren Existenz nach wie vor umstritten ist, und einem eigenen Text des Hieronymus infrage, sondern man kann ebenso erwägen, ob nicht weitere Vorlagen in Betracht kommen. So ist es denkbar, dass Hieronymus aus anderen Teilen der Vulgata zitiert oder Formulierungen übernommen hat, oder auch, dass ihm eine uns nicht überlieferte griechische Textfassung als Vorlage diente.
L. zeigt eindrucksvoll, welch weitreichende theologische Erkenntnisse und Einsichten in die Übersetzungsstrategien die Untersuchung einer antiken Übersetzung eines biblischen Buches unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten bringen kann. Die Erforschung der antiken Bibelübersetzungen steht noch am An­fang und wird uns noch viele neue Erkenntnisse bringen. Das vorliegende Buch ist ein gutes Beispiel dafür.