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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1321–1323

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Stökl Ben Ezra, Daniel

Titel/Untertitel:

Qumran. Die Texte vom Toten Meer und das antike Judentum.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIII, 462 S. m. Abb. u. Ktn. = utb Jüdische Studien, 4681. Kart. EUR 34,99. ISBN 978-3-8252-4681-5.

Rezensent:

Ulrich Dahmen

Im Jahr 2017 jährt sich die Auffindung der ersten Texte (aus Höhle 1) von Qumran zum 70. Mal. Seit den 1950er Jahren hat eine Vielzahl von Einführungen in das Gesamtphänomen »Qumran« das Licht der Buchwelt erblickt (u. a. Schubert, Stegemann, VanderKam), unter denen die utb als Kooperation von Verlagen für die Veröffentlichung von Lehrbüchern im Blick auf die Qumranwissenschaft eine dankenswerte und nicht zu unterschätzende Vorreiterrolle einnahmen und weiterhin einnehmen. So ist es mehr als 15 Jahre nach der letzten »Einführung« wieder einmal an der Zeit, sich vor dem Hintergrund neuerer Forschungen, Entwicklungen und Perspektiven über das Thema »Qumran« Rechenschaft abzulegen. Dies leistet das hier anzuzeigende Buch von Daniel Stökl Ben Ezra in besonders gelungener Weise.
In fünf Teilen mit insgesamt 21 Ka­piteln werden nach einer »historischen und philologischen Einleitung« (1–85) die »Archäologie der Texte von Qumran und ihrer Umgebung« (87–169), das Verhältnis zwischen den »Rollen von Qumran und der Hebräischen Bibel« (171–236), die »Quellen, Organisation und Religionsbesitzer«, die mit dem Jachad identifiziert werden (237–316), und »neue Einblicke ins antike Judentum«, die sich von Qumran her ergeben (317–392), abgehandelt. Ein um­fangreicher Anhang (393–462) mit allgemeiner Bibliographie (je­des Kapitel ist zusätzlich mit einer speziellen Bibliographie versehen), Abbildungen, Karten, Plänen, Registern u. a. schließen das Buch ab, das sich selbst entsprechend dem Charakter der utb und dessen neuer Reihe »Jüdische Studien« als »Lehrbuch« (VII [Vorwort]; 317 u. ö.) definiert und empfiehlt.
Im 1. Kapitel des ersten Teils zur Historie der Funde und ihrer Publikation wird gründlich mit seit Jahrzehnten liebgewonnenen Legenden aufgeräumt und wissenschaftlich redlich (»wir werden es nie genau wissen«; 8) den belegten und belegbaren Fakten ins Auge geschaut. Weder den Angaben der Beduinen noch den zum Teil unzulänglich dokumentierten Ausgrabungen ist nach heutigen Maßstäben und Wissenschaftsstandards zu trauen. In aller Kürze, aber mit allen notwendigen Details für das Verständnis, werden die Geschichte der »scrollery« in der École biblique, der akademische Skandal über die Verzögerungen bei der Publikation inklusive der theologischen (4Q285) und juristischen Auseinandersetzungen in den 90er Jahren (23) sowie der glückliche Abschluss der Publikation aller Fragmente in DJD (unabhängig davon, dass die grundlegende Revision von DJD V noch aussteht) in 2011 dargestellt. Kapitel 2 beschäftigt sich ausführlich anhand von instruktiven Beispielen (31.36.43 u. ö.) mit der Kodikologie, Kapitel 3 mit der Rekonstruktion von Rollen, Fragmenten und Fragmentengruppen (47–63). Zwei kurze Abrisse über die Geschichte Judäas in hellenistisch-römischer Zeit (65–72) und religiöse Bewegungen im zeitgenössischen Umfeld/Kontext Qumrans (73–85) schließen den einleitenden Teil ab. Hier wird erkennbar, dass der Vf. der klassischen These zu­neigt, die »Be­sitzer der Bibliothek mit den Essenern zu identifi-zieren« (6), zuneigt. Dann müsste man die erkennbar konservative und pries­terlich(-zadokidisch)e Ausrichtung der Trägergruppe mit den an-­tiken Informationen über die Essener in Übereinstimmung bringen. Die im Deutschen ungute Multiplizierung der No­menklatur der Qumrantexte (»qumranisch – nichtqumranisch«; »essenisch – nichtessenisch«; »genuin – nicht-genuin«) wird hier um eine weitere Variante bereichert: Der Vf. spricht jetzt mit Blick auf die Eigenbezeichnung der postulierten Trägergruppe (Standard-/Konsens-These) von »jachadisch« und »nicht-jachadisch« (6). Da­hinter stehen immer auch unterschiedliche Konzepte; gleichwohl muss zugestanden werden, dass diese und auch jede andere Terminologie jeweils ihre Schwächen und Missverständlichkeiten hat.
Der zweite Teil beschäftigt sich zunächst mit der Archäologie und den Besiedlungsphasen Qumrans (89–104) sowie einem quasi »synchronen« Blick auf die zentrale Besiedlungsphase zwischen dem frühen 1. Jh. v. Chr. und der Mitte des 1. Jh.s n. Chr. (105–132). Auch hier ist durchgehend die Sympathie mit den klassischen Hypothesen zu spüren; gleichwohl werden im 8. Kapitel (»Qumran im Kontext«; 133–148) auch die alternativen Entwürfe dargestellt. Im 9. Kapitel (149–169) bringt der Vf. die Schriftrollen und ihre Trägergruppen mit der Siedlung Qumran in Beziehung; seine klare These ist, »dass die antiken Besitzer einiger Schriftrollen mit den Bewohnern der Siedlung zu identifizieren sind« (150; vgl. 141 f.), zumindest für die letzte Besiedlungsphase. Damit wird im Blick auf die Archäologie zumindest mit dem Grundsatz (der in den letzten beiden Jahrzehnten gern vernachlässigt wurde) ernst gemacht, dass die Archäologie in ihrem Kontext zu interpretieren ist – und zu diesem gehören die Rollen nun mal hinzu.
Zur Archäologie (inklusive Geologie und Topographie) wären gleichwohl grundsätzliche Anfragen zu stellen, die zugestandenermaßen im Rahmen eines Lehrbuchs gar nicht thematisiert werden können, die aber die Darstellung im Sinne eines wissenschaftlich redlichen »wir wissen es nicht« durchaus hätten relativieren können: Wie sicher können wir sein, dass das Gelände um die Siedlung Qumran vor 2000 Jahren genauso aussah, wie es sich heute darstellt? Wie viele Klippen oder Mergelterrassen sind seit damals eingestürzt/abgebrochen, ohne dass wir das verifizieren können? Stammen die Verwerfungslinien durch die Siedlung tatsächlich von dem Erdbeben 31 v. Chr. (vieles spricht immer noch dafür) oder von natürlichen tektonischen Bewegungen in diesem weichen Mergelgrund? Allein die Tatsache, dass Teile des Friedhofs zwischen den Mergelterrassen inzwischen deutlich tiefer liegen als das Plateau, muss nachdenklich stimmen. Man sollte sich die Zufälligkeit sowohl des archäologischen Be­funds, wie er sich heute präsentiert, als auch der Schriftrollenfunde mehr denn je bewusst ma­chen. Besonders instruktiv ist der abschließende Überblick über die S chriftrollenbestände (151–169), ihre Inhalte und Ausrichtung (keine pharisäischen und pro-hasmonäischen u. a. Texte) und ihre Problemfelder (Kupferrolle; 4Q448); die Problematisierung von 4QMMT in diesem Zusammenhang erschließt sich dem Rezensenten allerdings nicht ganz.
Im dritten Teil geht es um das Verhältnis der sogenannten »biblischen«, der parabiblischen und auslegenden Texte/Kompositionen aus Qumran zur Hebräischen Bibel. Nach eher einleitungswissenschaftlichen Erwägungen zu Kanon und heiligen Schriften (für diese frühe Zeit würde ich eher von autoritativen Schriften sprechen) sowie deren Bezeugungen (Sir-Prolog; 4QMMT; 180 f.) werden im 10. Kapitel »Konturen heiliger Schriften in Qumran« (182–188) anhand von Zitationen, Kommentaren und statistischen Erhebungen samt ihren Grauzonen (187) erhoben, im 11. Kapitel die neuen Erträge der Qumranwissenschaft für die biblische Textkritik (189–211) und schließlich im 12. Kapitel Auslegungstechniken und -themen mit den Stichworten u. a. Midrasch, Rewritten, Paraphrase und Pescher (213–236) dargestellt. Hier werden zwangsläufig Grenzen verwischt, insofern es zum einen um Stellenwert von und Umgang mit autoritativen Schriften geht, zum anderen aber gerade die Pescharim eindeutig jachadische Schriften sind, die ebenfalls viel zu Quellen, Ursprung, Geschichte (!) und Organisation der Bibliotheksbesitzer (vierter Teil) beitragen und aussagen (immerhin gibt es 254 einen entsprechenden Querverweis). Man müsste wohl auch noch deutlicher den unterschiedlichen Umgang mit Prophetenschriften als Rewritten Scripture (Jeremia-Apokryphon; Pseudo-Ezechiel; 222 f.) oder in Pescharim (Jesaja; XII; 228–232) herausarbeiten und zu deuten versuchen.
Der vierte Teil über »Quellen, Organisation und Religion der Bibliotheksbesitzer« ist wohl das Herzstück des Buches; dafür ist er fast zu kurz geraten (237–316) und zwingend durch den fünften Teil (»Neue Einblicke ins antike Judentum«; 317–392) zu ergänzen. Anhand von Texten (CD; 1QS; 1QH; 1QM; 239–254), Organisationsformen (255–263), Selbstverständnis (»Pflanzung der Gerechtigkeit«; 265–282), Ritualen (283–302) und Themen (Anthropologie; Dualismus; Prädestination; Arkandisziplin; 303–316) wird umfassend über die Qumrangemeinschaft und ihre »Ideologie« (303 u. ö.; warum nicht »Theologie«?; vgl. 304) in »Grundlinien und […] Problemstellungen in der gegenwärtigen Diskussion« informiert, die »heute komplexer wahrgenommen (werden) als noch vor 20 Jahren« (304). Sich auf die vier großen Textkorpora zu beschränken, tut vor allem den Pescharim – sicher jachadischen Ursprungs – Un­recht; sie hätten zwingend in der Darstellung berücksichtigt werden müssen. Das fünfte Kapitel ergänzt diese Grundlinien durch weitere Themen (Eschatologie/Apokalyptik/Messianismus; Weisheit; Liturgie; Mystik; Tora und Halakha), die aber nun allgemeiner aus dem Gesamtkorpus der Schriften heraus im Vergleich mit dem Judentum des Zweiten Tempels, mit dem Urchristentum (der vielleicht missverständliche Ausdruck »christliches Judentum« [319 u. ö.] hätte erläutern werden müssen!) und im Ausblick auf das rabbinische und mittelalterliche (Hekhalot-Literatur) Judentum erläutert werden. Hier ist in den behandelten Texte n/Kompositionen sicherlich ebenfalls viel Jachadisches zu finden, auch wenn die Zurückhaltung gegenüber einer Deklarierung mancher Texte als jachadisch (4QInstr; Gebetstexte; Sabbatopferlieder) allenthalben spürbar ist.
Zahlreiche Verweise innerhalb und zwischen den Kapiteln zeigen Zusammenhänge auf, ohne sich in Redundanzen zu verlieren, vor allem aber, dass kaum ein Thema zu/über Qumran für sich allein betrachtet werden kann, sondern immer nur im Kontext des Ganzen. Randmarginalien erleichtern die schnelle Orientierung innerhalb der Kapitel. Der Vf. hat objektiv-neutral die Forschungspositionen dargestellt – bei klarer Benennung der eigenen Präferenz –, abgewogen im Urteil, nachvollziehbar, verständlich und gut lesbar geschrieben, manchmal mit augenzwinkernden Wendungen und Motiven (über J. T. Milik: »der schnellste Mann mit einer Rolle«; 17) – ein wirklich lesenswertes und empfehlenswertes Buch.