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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1317–1319

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Gregerman, Adam

Titel/Untertitel:

Building on the Ruins of the Temple. Apologetics and Polemics in Early Christianity and Rabbinic Judaism.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XIV, 266 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 165. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-154322-7.

Rezensent:

Günter Stemberger

Adam Gregerman vergleicht in diesem Buch jüdische und christ-liche Reaktionen auf die Zerstörung des Jerusalemer Tempels. Dazu untersucht er exemplarisch drei christliche Texte – Justins Dialog mit dem Juden Tryphon, Origenes und Eusebius, denen er auf rabbinischer Seite den Midrasch Klagelieder gegenüberstellt. Geographisch stammen alle Texte aus Palästina und aus ungefähr derselben Periode; auch wenn der Midrasch erst im 5. Jh. redigiert wurde, können doch viele seiner Traditionen auf die Zeit der untersuchten christlichen Autoren zurückgehen. Damit ist eine gute Vergleichsbasis gegeben. Gegenseitige Kenntnis der Texte oder auch nur Ar­gumente ist nicht anzunehmen; minimalste Kenntnisse der je anderen Positionen genügen, um darauf zu reagieren. Auch geht es G. nicht um eventuelle exegetische Parallelen oder Kontroversen, sondern um die Verarbeitung eines einschneidenden geschichtlichen Ereignisses und sich daraus ergebende Be­hauptungen, »the defensive functions of the texts« (8).
Zur Verwendung der Bibel bei Justin ist viel gearbeitet worden, viel weniger zu seiner Verwertung historischer Ereignisse wie jenen des Jahres 70, die im Zentrum dieses Buches stehen (auch wenn das bei Justin nicht wirklich von seiner Schriftauslegung zu trennen ist). Justin sieht die Juden, und zwar auch alle späteren Juden, als die Schuldigen an der Kreuzigung Jesu; mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels werden sie bestraft – der Zeitabstand zwischen den Ereignissen ist für ihn kein Problem. Daher leiden die Juden zu Recht auf Dauer; anders als in biblischen Texten wendet sich Gott nicht nach Bestrafung der Sünden wieder seinem Volk zu. Die Gunst Gottes geht auf die Christen über; damit endet die Verheißung für Israel. Nur um seines Knechtes willen vernichtet Gott nicht alle Juden, sondern lässt sie am Leben, um die christliche Mission zu den Heiden zu unterstützen. Zwar behalten die Christen die Bibel, doch ohne die Gebote, die die jüdische Identität ausmachen. Ohne den Tempel ist ja das Gesetz nicht erfüllbar, haben die Opfergebote, die Israel als Strafe wegen seiner Sündhaftigkeit gegeben wurden, ihre Funktion erfüllt. Die Be­schneidung bleibt als Strafe und Zeichen der Trennung für die Juden, womit auch das Verbot für Juden, Jerusalem zu betreten, kontrollierbar ist. Einst galt der Segen Sem; doch dann wohnt Jafet in Sems Zelten (Gen 9,26–27). Indem Justin Jafet mit den Römern gleichsetzt, sieht er hier den Sieg Roms über die Juden ausgedrückt, der zugleich auch ein Sieg der Christen ist. Nur ihnen gilt es, wenn Jerusalem für das Tausendjährige Reich einst wieder aufgebaut wird.
Wie ansatzweise schon Justin, sieht Origenes Judentum und Christentum als zwei völlig getrennte Religionen, auch wenn die Christen manches aus der jüdischen Tradition übernommen ha­ben. Systematisch führt er das in Contra Celsum aus, dessen intendierte Leser er wohl (auch) in den Christen der religiös gemischten Gesellschaft Caesareas sieht. Auch für Origenes ist der Tod Jesu die Wende der Geschichte, was sich in der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 auswirkt, die zugleich auch Strafe für die Hinrichtung von Jakobus dem Gerechten ist. Damit sieht er die Heidenkirche legitimiert. Juden und Christen haben sich für Origenes schon kurz nach dem Tod Jesu getrennt. Der zeitliche Abstand zwischen Tod Jesu und Zerstörung Jerusalems ist auch für ihn nicht relevant. Die biblischen Gebote sieht Origenes als edle Lehre, deren wörtliche Einhaltung er relativ offen sieht; doch mit der Zerstörung des Tempels sind sie nicht mehr an einen Ort gebunden und somit spirituell zu deuten, was die Mission zu den Heiden und den Erfolg des Christentums ermöglicht.
Eusebius vertritt ähnliche Argumente, arbeitet aber stärker die Kontinuität zwischen Heidenchristen und biblischem Israel heraus (Praeparatio evangelica), zugleich auch die Diskontinuität (Demonstratio evangelica, die hier den Leittext darstellt). Euseb hält am »Beweis« aus der Prophetie fest, die sich in der Geschichte erfüllt; zugleich will er auch für heidnische Leser zeigen, dass der Lauf der Geschichte einem göttlichen Plan folgt. Auch er bemüht sich, die selektive Übernahme der Bibel zu begründen: Die Zeit des Gesetzes war ein Übergang zwischen den heiligen Patriarchen und dem Christentum; das Gesetz diente allein der Erziehung Israels und war nicht ewig und universal gemeint. Es endete mit dem Jahr 70. Nun ermöglicht die mit Jesus zeitgleiche Pax Augusta nach Gottes Plan die Ausbreitung des Christentums.
Die beiden folgenden Kapitel sind rabbinischen Reaktionen auf das Jahr 70 gewidmet, wofür G. exemplarisch den Midrasch Klagelieder untersucht. Zwar kennt natürlich auch der Midrasch die klassischen Antworten der deuteronomischen Theodizee, wonach die Zerstörung Strafe für die Sünden ist; doch konzentriert sich G. auf jene Passagen, die dagegen argumentieren, Israels Gerechtigkeit betonen, das von Gott ungerecht behandelt wird, obwohl es allein die Tora angenommen hat. In der übermäßigen Bestrafung Israels hält sich Gott selbst nicht an die Tora, handeln doch die Völker im Auftrag Gottes an Israel »nicht nach deiner Tora« (Ps 119,85). Das Leiden Israels verbindet der Midrasch nicht mit Israels Sünde; Gott selbst muss Israels Gerechtigkeit bestätigen (1,41). Gott handelt ungerecht, wenn er nicht für Israel eintritt; er ist alt und schwach geworden und kann Israel nicht mehr helfen (Proömium 15, ähnlich 24: er liebt Israel noch immer, kann aber nichts dafür tun). Manche Texte werfen Gott vor, dass er seine Verheißungen nicht gehalten hat, Israel anders, schlechter, als die übrigen Völker behandelt (1,37 und Proömium 24). Der Verlust Israels betrifft auch Gott, doch scheint es ihn nicht zu kümmern (5,1). Wieder andere Abschnitte des Midrasch beklagen den totalen Zusammenbruch der Gerechtigkeit; das Leid Israels ist absolut unerklärlich. Gott kommt in diesen Texten überhaupt nicht vor, so in der Erzählung von Kaiser Hadrian, der Juden tötet, ganz gleich, was sie tun (3,9), oder in jener von Kamtsa und Bar Kamtsa (4,3), wonach das Fehlverhalten eines Einzelnen schwere Folgen für das ganze Volk hat – Gott mischt sich nicht ein, ist damit aber auch nicht mehr Herr der Geschichte.
Diese Positionen vertreten nicht die im Midrasch und sonst in der rabbinischen Literatur mehrheitlich vertretene Meinung; doch es gibt sie und daher sind sie auch als Minderheitenposition nicht zu übergehen. Vielleicht reagieren einzelne Rabbinen damit auf christliche Argumente mit der Zerstörung des Tempels und wehren Behauptungen ab, wonach die Zerstörung das Ende des Bundes mit Israel und des Gesetzes und die Ablösung Israels durch das Christentum belegt.
G. ist es gelungen, die gleichsam virtuelle Diskussion zwischen Christen und Juden Palästinas der ersten christlichen Jahrhunderte herauszuarbeiten. Die Auswahl der christlichen Autoren ist gut getroffen, auch wenn sich deren Argumente oft wiederholen und nur in Nuancen weiter entwickeln. Rabbinisch ist die Konzentration auf den Midrasch Klagelieder und hier wieder gerade auf jene gar nicht so seltenen Texte, die die klassische Theodizee ablehnen, voll gerechtfertigt, zeigt sie doch die Vielfalt rabbinischer Positionen auf. Insgesamt ein lesenswertes Buch zu einem nach wie vor wichtigen Thema.