Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1313–1315

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sinn, Simone

Titel/Untertitel:

Religiöser Pluralismus im Werden. Religionspolitische Kontroversen und theologische Perspektiven von Chris­ten und Muslimen in Indonesien.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XIII, 672 S. = Dogmatik in der Moderne, 8. Kart. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-152756-2.

Rezensent:

Eckhard Zemmrich

Diese Druckfassung der im Kontext des Münsteraner Exzellenzclus­ters »Religion und Politik« entstandenen Promotionsschrift von Simone Sinn sticht in mehrfacher Hinsicht aus deutschen dog-matischen Veröffentlichungen heraus: Nahezu singulär ist die re-­gionale Fokussierung auf Indonesien, thematisch werden ausge-wählte religionstheologische Fragen in diesem fremdkulturellen Kontext behandelt, und methodisch fußt die Studie wie selbstverständlich auf empirischer Forschung. Der dafür ausgewählte, diskursanalytische Ansatz der sogenannten Grounded Theory ermutigt zu gleichsam induktivem Vorgehen und unterstreicht im Ergebnis der Forschungsbemühung die prozesshafte Ausrichtung ihrer theologischen Verarbeitung, die im Buchtitel programmatisch angekündigt wird: »Religiöser Pluralismus«, den es zu entdecken und zu gestalten gilt, ist »im Werden«. »Pluralismus« wird dabei im Unterschied zu »Pluralität« verstanden als »die Bereitschaft, Pluralität zu akzeptieren« (427).
Die Arbeit sondiert unter durchgehender Verwendung indonesischer Originalquellen Bedingungen und Gestaltungsräume für das Wachstum solcher Bereitschaft in einer der weltweit facettenreichsten pluralen Gesellschaften. Dafür werden Ergebnisse vier verschiedener Forschungsbemühungen präsentiert: als Beschreibung diverser religionspolitischer Kontroversen seit dem Sturz des Präsidenten Suharto im Jahr 1998, Analyse von einhundert qualitativen Leitfaden-Interviews mit muslimischen und christ-lichen Verantwortungsträgern, Vorstellung jeweils dreier mus-limischer und christlicher Wegbereiter pluralismusaffiner Theo logie, und schließlich als eigene systematische Reflexion im Ge­spräch mit Autoren in überwiegend europäisch-reformatorischer Tradition, unter der Überschrift »Religiöser Pluralismus im Horizont Gottes«. Methodische Einführung und Anhangsmaterial von je etwa einhundert Seiten runden das umfangreiche, gut lesbare Buch im oberen Preissegment deutscher theologischer Verlagskultur ab.
Die Studie führt die Leserschaft im ersten Hauptteil, dem dritten Kapitel, umsichtig und kenntnisreich in die religionspolitischen Zusammenhänge des Post-Suharto-Indonesien ein. Es werden sieben Bereiche staatlichen gesetzgeberischen Handelns vorgestellt, in denen zwischen 1998 und 2010 normative Festlegungen im Bereich der Religionspolitik erfolgten. Fast alle großen Debatten dieser Zeit werden eingehend verhandelt, darunter die Stellung des Gottesbezugs in der Verfassung, regionale Scharia-Gesetzgebungen, Genehmigungen zum Bau von Gotteshäusern und Umgang mit religiösen Minderheiten. Lediglich der Diskurs zur sogenannten Anti-Pornographie-Gesetzgebung von 2008 wird nicht eigens thematisiert. S. fasst ihren Gesamteindruck zur indonesischen Re­ligionspolitik originell im Anschluss an einen kirchenrechtlichen Begriff der Reformationszeit als cura religionum zusammen, die auf Schutz und Zähmung der Religionen aus ist.
Der zweite Hauptteil (viertes Kapitel) widmet sich einer Auswertung der zahlreichen Experteninterviews. Anhand der dabei ausgebreiteten Vielfalt der Perspektiven öffentlicher Verantwortungsträger identifiziert S. vier Haupt-Diskurse über religiösen Pluralismus in Indonesien. Sie nennt sie Konflikt-, Vielfalt-, Staatsbürgerschafts- und Proportionalitätsdiskurs. Von Interesse wäre hier auch eine nochmalige Binnendifferenzierung als Vergleich der von ihr vorgenommenen Zuordnung der Diskurse untereinander nach Religionszugehörigkeit gewesen.
Im dritten Hauptteil (fünftes Kapitel) werden einflussreiche Beiträger zur Konzeptionalisierung von religiösem Pluralismus vorgestellt: auf muslimischer Seite der Hochschullehrer Nurcholish Madjid, der Politiker Abdurrahman Wahid und der bedeutende Schüler Madjids Budhy Munawar-Rachman – alle aus Java. Christlicherseits werden einer der Vordenker des religiösen Pluralismus Theodore Sumartana und der Alttestamentler Emanuel Gerrit Singgih (beide aus Java) sowie der ehemalige Vorsitzende des Indonesischen Kirchenbunds, Andreas Anangguru Yewangoe (aus Sumba) behandelt. Die unterschiedlichen Denkansätze und denkerischen Leitmotive dieser diskursprägenden sechs Intellektuellen werden jeweils differenziert dargestellt. Auch hier unterbleibt allerdings ein expliziter religionsspezifischer Vergleich; die Frage nach intrareligiöser, interkultureller Hermeneutik zwischen »Ost« und »West«, von Singgih in seiner wichtigen Grundsatzstudie Dari Israel ke Asia (»Von Israel nach Asien«) verhandelt, bleibt ebenfalls ausgespart.
Der systematisch-theologische Schlussteil ordnet die ausge-breitete Stofffülle mit Hilfe zahlreicher, überwiegend ›westlicher‹ Autoren in systematische Gesprächsgänge ein. Muslimische Stimmen werden hier nicht mehr selbstverständlich hinzugezogen. Es werden aber auch nicht einfach die bekannten religionstheologischen Klassifizierungen Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus’ aufgerufen, vielmehr greift S. maßgeblich auf die von I. U. Dalferth vorgestellte »Radikale Theologie« zurück und entfaltet Grundlinien eines theologisch verantwortbaren Pluralismus an­hand der Leitdifferenzen Transzendenz/Immanenz, Macht/Ohnmacht sowie Handeln Gottes/Handeln des Menschen. Dabei werden jüngere und ältere Begriffskonzepte in theologischer Perspektive auf die erhobenen indonesischen Problemkonstellationen an­gewandt, darunter agency (Handlungsmacht) und Verwundbarkeit, das Recht auf Rechtfertigung und die Forderung nach einem Übergang vom staatlichen Schutz der Religion zum Schutz der Person, mit der abschließenden Empfehlung, dem Religionsdiskurs die Frage nach Gott entgegenzustellen.
Dass S. Indonesien als empirischen Referenzbereich für dogmatische Erwägungen zum Pluralismusbegriff wählt, erweist sich als gleichermaßen lohnend wie schwierig. Die Staatsphilosophie der Pancasila und eine lange Gewaltgeschichte verorten die indone-sische religionspolitische Diskurslage in einem mittleren Bereich zwischen religiöser und säkularer staatlicher Verfasstheit. Die da­mit einhergehende ständige Nötigung zu theologischer Selbstvergewisserung generiert vielversprechendes Forschungsmaterial. Die grundsätzliche Schwierigkeit für eine Untersuchung mit westeuropäischer Autorschaft besteht in der damit durchgängig gegebenen Herausforderung interkultureller Hermeneutik auch im Sinne einer Kontextualisierung der eigenen Position innerhalb in­trareligiöser Pluralität, konkret: Im Kontext westlicher säkularer Gesellschaften entstandene Denkmodelle (so etwa Jüngel, Dalferth und Großhans) wären zunächst mit einer Hermeneutik des Verdachts auf die sich anders verstehende indonesische Gesellschaft, ihre theologischen Protagonisten und das, was daraufhin als theologisch »sachgerecht« zu bezeichnen wäre, anzuwenden. Die Studie wählt hier mit der faktischen Festlegung auf die Tradition deutscher hermeneutischer Theologie (Anselm K. Min bildet eine Ausnahme) einen anderen Ansatz. Sie läuft damit Gefahr, indonesische Positionsbeschreibungen lediglich in ihrer Vielfalt und zur Illus­tration systematisch anderweitig erschlossener Grundeinsichten ohne ausdrückliche, theologische Selbstkontextualisierung wiederzugeben.
Diese grundsätzliche Schwierigkeit schmälert jedoch nicht das Verdienst dieser Arbeit, das darin besteht, auf im deutschen Sprachraum weitgehend unbekannte religionspolitische Entwicklungen und theologische Entwürfe christlicher und muslimischer Provenienz aufmerksam zu machen sowie selbst zahlreiche scharfsichtige Analysen und kreative theologische Argumentationen beizusteuern, die die Studie zu einer Fundgrube für die Beschäftigung mit neuerer indonesischer Religionspolitik und Theologie werden lassen.