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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1311–1313

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Scherbaum, Matthias

Titel/Untertitel:

Handlungskonzepte in der indischen und christlichen Religiosität. Eine komparatistische Studie zu Bhagavadgītā und Meister Eckhart.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2016. 518 S. = Forum Fundamentaltheologie. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-631-67529-8.

Rezensent:

Friedrich Huber

Die umfassende (518 Seiten) Arbeit von Matthias Scherbaum be­handelt vergleichend zwei Handlungskonzepte, die aus verschiedenen kulturellen und religiösen Räumen stammen, aber – zumindest auf den ersten Blick – einander sehr ähnlich zu sein scheinen. Es handelt sich einerseits um das in der Bhagavadgita, einem etwa 600 Doppelverse umfassenden Text aus dem großen indischen Epos Mahabharata, gebotene »Handeln ohne Begehren« (nişkāma karman), zum andern um das von Meister Eckhart vertretene wirken sunder warumbe. Schon in der Einführung (15–37) deutet S. das Ergebnis seiner Untersuchung an: Die beiden Handlungskonzepte weisen zwar »beträchtliche Parallelen« auf, sind aber – wenn man sie von ihrem philosophischen und religiösen Hintergrund her versteht – »gänzlich inkommensurabel« (34). Bei diesem Ergebnis bleibt S. aber nicht stehen, sondern er findet dann doch auf der Ebene religiöser Erfahrung, aus der – seiner Ansicht nach – die beiden Handlungskonzepte erwachsen sind, eine Gemeinsamkeit. Diese Thesen werden in den Teilen 2 und 3 der Abhandlung ausführlich begründet.
Die beiden parallel aufgebauten Teile 2A und 2B bieten zunächst eine Art »Stoffsammlung« zu nişkāma karman (2A1) bzw. zu wirken sunder warumbe (2B1), fragen dann nach dem jeweiligen philosophischen Hintergrund (2A2 bzw. 2B2) und erörtern dann die Be­deutung dieser philosophischen Voraussetzungen für das Verständnis der beiden Handlungskonzepte (2A3 bzw. 2B3). Die Arbeit zeichnet sich dabei durch ausführliche Zitate aus, mit denen die Darstellung der beiden Handlungsanweisungen veranschaulicht wird und die Ausführungen zum philosophischen Hintergrund belegt werden.
Im Fall der Bhagavadgita bietet S. die Zitate in der Regel nach der Übersetzung von Klaus Mylius, zieht gelegentlich aber auch alternative Übersetzungen heran. Zudem bringt er in den Anmerkungen den Sanskrit-Text. Dies ist auf jeden Fall zu begrüßen, stellen doch die Übersetzungen immer zugleich eine Interpretation dar. In einzelnen Fällen schiene mir eine andere als die von S. bevorzugte Übersetzung erwägenswert. So folgt S. in Bhagavadgita II,48 – einem in der Abhandlung wiederholt zitierten Text – der von Mylius gebotenen Übersetzung »Gottes gedenkend« (63). Wörtlich heißt der betreffende Ausdruck »im Yoga stehend«, und yoga wird am Ende des Verses definiert als »Gleichmut« (samatva). Es ist nicht ganz einsichtig, warum an dieser Stelle ein Bezug zu Gott (»Gottes gedenkend«) gemeint sein soll. Im Großen und Ganzen jedoch bemüht sich S. um sorgfältige philologische Begründung der Übersetzungen. Nicht ganz klar ist mir, warum die Sanskrit-Texte ohne Trennung von Zeilen und Versen zitiert werden. Den philosophischen Hintergrund von »Handeln ohne Begehren« sieht S. vor allem in den Systemen von Samkhya und Yoga, die er im Wesentlichen im Anschluss an das Standardwerk von Frauwallner darstellt. Auch hier werden die Ausführungen durch ausführliche Zitate (vor allem aus dem Werk von Frauwallner, selten auch anderer Autoren) untermauert.
Eingehend – wieder mit vielen Zitaten – wird dann das Verständnis von Samkhya und Yoga in der Gita dargestellt und aufgezeigt, wie auf diesem Hintergrund nişkāma karman zu verstehen ist: Nach der dualistischen Samkhya-Philosophie bindet sich der unsterbliche Kern des Menschen durch Handeln an die Welt. Durch Versenkung, Hingabe an Gott und Verzicht auf die Früchte des Handelns, wie es im Yoga gelehrt wird, wird der Mensch von dieser Bindung frei, sein Handeln geschieht »ohne Begehren« und damit »ohne Bindung« und führt so zur Erlösung. S. spricht in diesem Zusammenhang von einem »Erlösungskalkül« (181 u. ö.), eine Formulierung, die »Handeln ohne Begehren« meines Erachtens zu sehr im Sinne eines theoretischen Konstruktes charakterisiert.
Ganz anders liegen nun die Dinge bei Meister Eckharts wirken sunder warumbe (Teil 2B). Dieses ist auf dem Hintergrund einer auf griechische Ursprünge zurückgehenden Einheitsphilosophie zu verstehen. Für Meister Eckhart ist Gott »Eins und Einheit« (195) und insofern ohne ein außer ihm liegendes Warum. Bei Gott gibt es zwar Wirken und Liebe, aber dies geschieht ohne Warum. Dasselbe gilt aber für den Menschen, in dem Gott im »Seelenfünklein« Gestalt angenommen hat und durch ihn wirkt. Im »Gerechten«, wie Meister Eckhart häufig sagt, wirkt Gott selbst. Das wirken sunder warumbe ist »das Wirken Gottes selbst […], das sich durch den gerechten Menschen in den mundus sensibilis hinein manifestiert« (293).
Nachdem S. in Teil 3 seiner Arbeit die Parallelen zwischen nişkāma karman und wirken sunder warumbe nochmals im Überblick dargestellt hat (3.1), arbeitet er in 3.2 die Differenzen heraus. Dabei behandelt er den Unterschied von ontologischem Dualismus und Einheitsphilosophie und die daraus erwachsenden Konsequenzen, das Verständnis des Moralischen und schließlich – besonders ausführlich – das jeweilige Menschenbild und seine Bedeutung für das Verständnis der beiden Handlungskonzepte. Überzeugend wird herausgearbeitet, dass bei Eckhart das wirken sunder warumbe »eine Art Begleiterscheinung der vollzogenen bzw. der sich actu vollziehenden Gottesgeburt« (392/393) in Gestalt des »Seelenfünkleins« ist, während nişkāma karman »aus der Einsicht in die Gesetzmäßigkeit der kosmischen Realität […] abgeleitete Handlungsweise« (382) ist, die den Menschen zur Erlösung führt. Damit ist nur eine der vielen scharfsinnigen Beobachtungen genannt, die S. in diesem Zusammenhang vorträgt. Sie werfen natürlich gelegentlich auch kritische Fragen auf: Ist die »Unbedingtheit«, mit der in der Gita ein bestimmtes Handeln geboten wird, wirklich vor allem eine »kosmische, apersonale« (373)? Schließlich spricht in der Gita ein persönlicher Gott. S. betont gelegentlich selbst die Bedeutung von bhakti, Hingabe an einen persönlichen Gott, in der Gita. Meines Erachtens ist nicht zu übersehen, dass die Gita den persönlichen Gott Krishna eindeutig über das unpersönliche Brahman stellt. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht Bhagavad-gita XVIII,54: »Brahman geworden, heiteren Gemüts, / trauert er nicht und begehrt er nicht. / Gleich zu allen Geschöpfen, / faßt er zu mir höchste Liebe.« (Übersetzung von Mylius) Man kann fragen, wie sich die Gita den hier beschriebenen Vorgang vorstellt. Denn eigentlich gibt es über das Brahman-Werden kein Darüber-Hinaus. Und trotzdem wird ein solches hier in der Hingabe an den persönlichen Gott angenommen.
In einem letzten Abschnitt von Teil 3 (3.3 »Horizonte«) versucht S. die Unvergleichbarkeit der beiden untersuchten Handlungskonzepte doch noch zu überbrücken, indem er in beiden Fällen eine spirituelle Erfahrung als deren Quelle annimmt. Sie besteht in der »spirituellen Dimension eines unmittelbaren Gefühls von Frieden« (457). S. sieht selbst, dass diese Annahme »spekulativ« (441) ist, aber er kann beachtliche Hinweise anführen, die seine These stützen.
Im Teil 4 der Arbeit wird nach einer Zusammenfassung der erarbeiteten Ergebnisse anhangsweise noch auf Vorstellungen aus Taoismus, Islam und Christentum hingewiesen, die eine gewisse Ähnlichkeit zu nişkāma karman und wirken sunder warumbe aufweisen.
S.s Buch ist eine in gleicher Weise informative wie zum Weiterdenken anregende Arbeit.