Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/1999

Spalte:

105–107

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Kreuter, Jens

Titel/Untertitel:

Staatskriminalität und die Grenzen des Strafrechts. Reaktionen auf Verbrechen aus Gehorsam aus rechtsethischer Sicht.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 1997. 526 S. gr.8 = Öffentliche Theologie, 9. Kart. DM 68,-. ISBN 3-579-02028-5.

Rezensent:

Martin Hailer

Der Vf., doppelt qualifiziert als Jurist und Theologe, legt mit seiner bei Wolfgang Huber gearbeiteten Dissertation eine Untersuchung vor, die es unternimmt, die Grenzen des Strafrechts anhand eines bedrängenden Problems, nämlich den sogenannten Verbrechen aus Gehorsam, aufzuzeigen. Es geht um Fälle, in denen offenkundig Verbrechen begangen wurden, deren Subjekte sich aber darauf beriefen, nur auf Befehl gehandelt zu haben. Bei der Strafverfolgung solcher Fälle ist zu fragen: Wie erfolgreich war die Anwendung des traditionellen Strafrechts? Gibt es benennbare Alternativen dazu? Zu diesem Zweck diskutiert der Vf. zunächst juristische, sozialpsychologische und theologische Aspekte von Gehorsamsverbrechen. Sodann schildert und diskutiert er ausführlich drei inzwischen klassische Fälle bzw. Fallkomplexe, die Nürnberger Prozesse 1945/46, das Massaker von My Lai 1968 samt seiner juristischen Aufarbeitung und der öffentlichen Reaktionen darauf, sowie die Mauerschützenprozesse ab 1992. Die Ergebnisse werden gebündelt und zur These verdichtet, daß das Strafrecht nicht geeignet ist, auf Gehorsamsverbrechen adäquat zu reagieren, sondern daß dies die Aufgabe einer Gesellschaft als ganzer ist. Ein ausführliches Literaturverzeichnis, Bibliographien zu zwei der behandelten Beispiele sowie ein Personen- und Sachregister runden den Band ab.

Es handelt sich um eine interdisziplinäre Untersuchung, die juristische, sozialpsychologische und ethische Argumentationen bündelt (40). Sie verleugnet ihren Ansatzpunkt in der christlichen Sozialethik nicht, ist jedoch bestrebt, in einer Weise über zentrale menschliche Rechtsgüter zu handeln, die in allen Gesellschaften diskutabel ist, die rechtsstaatlich verfaßt sind und sich um die Einhaltung der Menschenrechte bemühen (358). In diesem Sinne versteht sie sich als ein Beitrag zu einer allgemeinen Ethik des Rechts. - Die Untersuchung gliedert sich in drei große Abschnitte: (a) "Wie kann eine Gesellschaft reagieren?"; (b) "Wie haben Gesellschaften reagiert?" und (c) "Wie soll eine Gesellschaft reagieren?" (41), wenn sie mit Verbrechen aus Gehorsam in ihrer Mitte betroffen ist.

Ad (a): Der Vf. wählt zunächst den Weg sozialpsychologischer Erklärung des Phänomens der unkritischen Gehorsamsbereitschaft. Er stellt die berühmten Experimente von John Milgram dar und kommt anhand dieser und anderer Ergebnisse zu der Auffassung, daß die persönliche Reife möglicher Täter für Verbrechen aus Gehorsam entscheidend ist: Ein Individuum z. B., das sich lediglich an Regeln orientiert, wird zu Gehorsamsverbrechen eher bereit sein als eines, das sich bei seinen Entscheidungen auf Werte zu berufen vermag, die ggf. mit Autoritäten in Konflikt kommen (74 f.). Dabei, und dies entspricht einem Grundzug des ganzen Buches, wird die Verantwortung einer Gesellschaft als ganzer stets mitberücksichtigt und eine individualistische Engführung schlüssig vermieden.

Es folgen eine Reihe von juristischen Überlegungen zum Problem. Neben Erwägungen zur juristischen Grundlegung des Strafrechts überhaupt und theologischen Flankierungen dazu (93 ff.) interessiert der Vf. sich für denkbare Alternativen zu einer strafrechtlichen Verfolgung und für die juristischen Probleme, die sich einer strafrechtlichen Verfolgung von Gehorsamsverbrechen gewöhnlich in den Weg stellen. Dies ist vor allem der klassische Grundsatz ’nulla poena sine lege’ - ein Verbrechen ist erst dann eines, wenn es zur Tatzeit mit Strafe bedroht war -, da Gehorsamsverbrechen zumeist rückwirkend nach der Aufrichtung eines Rechtsstaats erkannt und strafrechtlich verfolgt werden. Der Vf. argumentiert für die Geltung dieser Formel, flankiert dies aber mit dem für die ganze Untersuchung zentralen Argument, daß es Formen außerstrafrechtlicher Gerechtigkeit geben müsse: Strafrechtlich ist der Überzahl von Gehorsamsverbrechen nicht beizukommen; daß es sich bei ihnen aber um Unrecht handelt, ist mehr als evident. (158 ff., vgl. 136 f. 319.321) Insofern müssen andere Instanzen der Aufarbeitung dienen. An diesem Argumentationspunkt wäre die Option für naturrechtliche Begründungs- bzw. Begrenzungsstrategien des Strafrechts denkbar. Der Vf. lehnt dies jedoch ab und argumentiert, daß ein Rechtssystem jeweils relativ zu einer Gesellschaft steht, mithin diese als Instanz der Aufarbeitung zu dienen hat. Hier ist rechtsphilosophisch wie -theologisch (107-109) eine Schlüsselstelle der Untersuchung zu sehen.

Ad (b): Im Lichte dieser These stellt der Vf. die oben angeführten drei klassischen Fälle dar (199-349). Materialreich und dennoch sehr gut lesbar informiert er jeweils über Hergang, öffentliche und kirchliche Reaktionen und argumentiert für die begrenzte Wirksamkeit (255 f.348 f.) oder gar fehlende Zuständigkeit (333) des Strafrechts. Dabei sind stets die juristischen Erwägungen zum nulla-poena-Grundsatz präsent, die zu Argumentationsfiguren in Beziehung gesetzt werden, welche Strafrecht und übergeordnetes Recht stärker als Begründungszusammenhang verstehen wollen. (320-324) Außerdem rechnet der Vf. stets mit der Öffentlichkeitswirkung der fraglichen Prozesse und notiert insbesondere, wann eine strafrechtliche Verfolgung in der Gesellschaft das Gegenteil der erwünschten Wirkung erzielte, indem es z. B. zu einer Solidarisierung mit dem Gehorsamsverbrecher kam (z. B. 286-288.377).

Ad (c): "Bei der Reaktion auf ein systemkonformes Verbrechen aus Gehorsam ... stößt das staatliche Strafrecht ... regelmäßig an seine Grenzen" (374). Ist dies einmal eingesehen, fragt sich, wie angemessen auf diese Verbrechen zu reagieren sei. Der Vf. entwickelt Perspektiven dafür, indem er eine Doppelstrategie anwendet: Zum einen greift er auf die eingangs erwähnten sozial-psychologischen Einsichten zurück und empfiehlt Prozesse der Mündigwerdung, Partizipation und Werte orientierung gesellschaftlicher Subjekte, (362 ff. u. ö., vgl. die Formulierung "Erweiterung der Urteilskraft", 365). Zum anderen unterscheidet er verschiedene Formen von Schuld, die ein Mensch auf sich laden kann. Strafrechtlich verfolgbare Schuld im engeren Sinne ist dabei nur die sog. kriminelle Schuld. Verbrechen aus Gehorsam fallen dagegen eher unter den Begriff der ethisch-sozialen Schuld, deren Aufarbeitung nicht Sache der Gerichte sein kann (355-358): Sie ist ein gesellschaftlicher Konflikt. Ein solcher kann von der Gesellschaft nicht an teilautonome Instanzen delegiert, sondern muß von ihr gleichsam selber bearbeitet werden. In einem Satz: "In einer demokratisch verfaßten Gesellschaft dürfen und können gesellschaftliche Konflikte also nur von der Gesellschaft selbst gelöst werden" (378).

Dem Buch ist zugute zu halten, daß es die gesellschaftliche Situierung von Gehorsamsverbrechen überzeugend beschreibt, außerordentlich kenntnisreich für die begrenzte Zuständigkeit des Strafrechts in diesen Dingen plädiert und deshalb schlüssig die Gesellschaft selbst als Instanz der Aufarbeitung einklagt. Das den Band beschließende Beispiel dafür ist die Arbeit der Kommission für Wahrheit und Versöhnung in Südafrika (393-396).

Rückfragen an die Untersuchung stellen sich nicht im Sinne von Infragestellung des Erarbeiteten, sondern viel eher als Anschlußprobleme. Stichwortartig seien genannt:

Die erwähnte Instantiierung der Gesellschaft muß, wenn aus theologischer Perspektive gefragt wird, eine ekklesiologische Besinnung nach sich ziehen, die genau fragt, wie denn die Rolle der Kirche in den angerissenen gesellschaftlichen Klärungsanstrengungen zu sehen ist. Oder, und dies ist eine weitergehende Frage: Wer naturrechtliche Strategien eher kritisch beurteilt und deshalb die Gesellschaft zur Instanz der nicht strafrechtlich einklagbaren Gerechtigkeit macht - und hier stimmt der Rez. mit dem Vf. überein -, handelt sich ein Folgeproblem ein. Er entwindet sich zwar den Begründungsaporien des Naturrechts, aber er liefert sich tendenziell den zufälligen Konstellationen bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse aus. Seine Rechtsauffassung bleibt weitgehend frei von metaphysischen oder, theologisch gewendet, sakralisierenden Implikationen, sie tut dies aber um den Preis der Positivierung der Gerechtigkeit, die sie gleichsam im Nachgang dem Strafrecht wieder anähnelt, das zu begrenzen sie aufgeboten wurde: Die Konklusion S. 195, daß die Anwendbarkeit des Strafrechts von gesellschaftlichem Konsens abhängt, gilt eben auch für die nicht strafrechtlich einklagbare Gerechtigkeit. Daß es demokratische Rechtsstaaten gibt, muß im Rahmen dieses Konzepts schlicht gehofft werden. Eine andere Instanz der Gerechtigkeit ist nicht in Sicht.