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Ausgabe:

Dezember/2017

Spalte:

1305–1307

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bochinger, Christoph, u. Jörg Rüpke [Eds.]

Titel/Untertitel:

Dynamics of Religion. Past and Present. Proceedings of the XXI World Congress of the International Association for the History of Religions. Hrsg. in Gemeinschaft m. E. Begemann.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. IX, 296 S. = Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten, 67. Geb. EUR 89,95. ISBN 978-3-11-045092-7.

Rezensent:

Klaus Hock

Bei dieser Publikation handelt es sich um den Konferenzband des alle fünf Jahre stattfindenden Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Religionsgeschichte, der 2015 an der Universität Erfurt abgehalten wurde. Die hier veröffentlichten Beiträge basieren auf den als »keynotes« gehaltenen Vorträgen, die sich vier thematischen Feldern zuordnen lassen: (1.) »Gegenwartsreligion im öffentlichen Raum« (H. Seiwert, S. Shimazono, K. Knott und G. O. West; (2.) »Religiöse Transformationsprozesse« (P. Beyer, S. Marcos und W. J. Hanegraaff); (3.) »Brennpunkt Individuum« (A. Tayob, I. Gilhus, K. Ram und J. S. Jensen) und (4.) »Religion als Narration« (K. Kollmar-Paulenz, M. Mulsow und C. Facchini).
Ursprünglich als Eröffnungsvortrag gehalten, spricht der Beitrag Hubert Seiwerts mehr oder weniger alle vier thematischen Felder an. Er setzt bei der Problematik des Religionsbegriffs ein und bezieht sie auf seinen Gegenstand – die vor dem Hintergrund zunehmender Toleranz gegenüber religiösen Ausdrucksformen im heutigen China praktizierte Verehrung des mythischen Kulturheros Fuxi in populären und offiziellen Tempelritualen, deren religiöser Charakter von den Teilnehmenden jedoch explizit bestritten wird. Als Theorierahmen der Interpretation des Religionswandels dient das Modell der kulturellen Evolution. Mittels des Konzepts der kulturellen Dynamik werden Tempelrituale als Kulturprodukte erfasst und an deren Wandel religionsgeschichtliche Transformationsprozesse nachgezeichnet. Gegenüber einem auf makrohis­torische Phänomene ausgerichteten Progressionsmodell optiert Seiwert für ein Diversifikationsmodell, das sich zur Analyse mikrohistorischer Wandlungsprozesse besser eignet, da es die Reproduktion von Handlungen und Vorstellungen und deren Neuadaption in veränderten kulturellen Kontexten nachzuzeichnen erlaubt, wie sich am konkreten Beispiel der Fuxi-Rituale belegen lässt. Umwelt (als Reservoir materieller wie immaterieller Kulturprodukte) und Handlungsmacht (als individuelle oder kollektive Fähigkeit, Kulturprodukte auszuwählen, zu verändern oder neu zu erschaffen) erweisen sich dabei auch am Beispiel der »Erfindung« neuer Rituale als die Hauptfaktoren dieser kulturellen Dynamik.
Kim Knott konzentriert sich auf die Frage der (Un)Sichtbarkeit religiöser Gemeinschaften im öffentlichen Raum. Auf der Grundlage aktuellen empirischen Materials und eines theoretischen Modells der (Un)Sichtbarkeit von Religion, das Kategorien sinnlicher Präsenz/Absenz und Erwecken/Nicht-Erwecken von Aufmerksamkeit aufeinander bezieht, kann sie die Bedeutung des Zusammenwirkens intrinsischer und extrinsischer Faktoren aufzeigen. Es kommt also nicht alleine darauf an, ob eine Religionsgemeinschaft sich für oder gegen öffentliche Präsenz entscheidet und ob diese gestattet oder verboten ist. Selbst im Falle der völligen Unterdrückung aller Zeichen öffentlicher Präsenz können die Ausgeschlossenen gerade als Ausgeschlossene Stärke bewahren bzw. neu erlangen sowie Taktiken der Visibilisierung ausarbeiten und zu gegebener Zeit äußerst erfolgreich zum Einsatz bringen.
Peter Beyer rekonstruiert am Beispiel der Geschichte der »Kartographierung« von Religionsgemeinschaften das Verhältnis von »Religion« und politischem Gemeinwesen: In der Zeit zwischen dem 16. und 19. Jh. hatte sich nach und nach eine »Westfälische Formgebung« durchgesetzt, bei der kollektive religiöse Identität mit der jeweiligen politischen Einheit assoziiert, aber nie isomorph ist. »Toleranz« (aber auch Intoleranz) seitens des Staates und Konfessionalisierung seitens der Religionen signalisieren in diesem Zusammenhang nicht nur die Unzulänglichkeiten unseres Religionsbegriffs, sondern indizieren zugleich Problemfelder wie die der Situation religiöser Minderheiten innerhalb dieses Systems. Ein »post-Westfälischer Zustand« ist nach Beyer dadurch gekennzeichnet, dass das politische Gemeinwesen in seinem Selbstverständnis nicht mehr auf eine durch eine vorherrschende Religionsgemeinschaft geprägte Fundamentierung referiert, sondern grundsätzlich »multireligiös« wird, wie er an Kanada exemplarisch illustriert. Dabei besteht der Trend hin zu einer säkularen Grundierung, in der religiöse und nationale Identität nichts miteinander zu tun haben und sich Religionsgemeinschaften vornehmlich in Gestalt kleinerer Gemeinschaften auf der Ebene horizontaler Gleichberechtigung formatieren.
Wouter J. Hanegraaff plädiert in seinem Beitrag dafür, »historische Imagination« als Gegenstand religionswissenschaftlicher Forschung nutzbar zu machen. Insbesondere Narrative mit einem hohen Grad an Poetizität haben unabhängig von ihrer Faktizität »große Erzählungen« ausgebildet – z. B. die vom Fortschritt durch rationale Aufklärung oder umgekehrt durch eine romantisch konzeptualisierte »Erziehung des Menschengeschlechts« –, die primär Emotionen ansprechen. Aufgabe der Religionswissenschaft ist es, ihrerseits »Narrationen« anzubieten – »wahre Geschichten« über Religion zu erzählen, die gleichermaßen »Imagination« wecken, aber auf der Grundlage eines historiographischen Zugangs, der einen eklektischen Zugriff vermeidet und nicht auf Kosten der Faktizität geht.
Jeppe Sinding Jensen bestimmt – vor dem Hintergrund seines Verständnisses von Religionswissenschaft als »inklusiver« Disziplin in dem Sinne, dass so viele Beschreibungsebenen wie nötig zur Anwendung kommen sollten – »Übereinstimmung« (consilience) als zentrales Stichwort künftiger religionswissenschaftlicher Forschung, wenn es um die Frage der Verhältnisbestimmung von Individuum und Kollektiv in Sachen Religion geht. Religiöse Traditionen lösen einen »Klon-Effekt« aus, indem sie biologische Individuen qua Sozialisation kulturell auf ihre überlieferten Werte und Normen »einstimmen«.
Karénina Kollmar-Paulenz analysiert die bei der Ausbreitung des tibetischen Buddhismus in mongolische Regionen ab dem 16. Jh. stattfindenden Transformationsprozesse, die u. a. dazu führten, dass sich eine unterschiedene Religionstradition herausbildete (»Schamanismus«). In Rückgriff auf Gavin Flood beschreibt sie diesen Vorgang als Reifikationsprozess, bei dem sich fluide Ensembles kultureller Ressourcen zu diskursiven Formationen verdichten – ausgelöst durch dynamische, teils hochgradig kompetitive Effekte der Kulturbegegnung. Sie geht jedoch noch einen Schritt weiter und verweist darauf, dass unser Wissenschaftsdiskurs über »Schamanismus« entscheidend von nichteuropäischen – tibeto-mongolischen – Wissenskulturen mit geprägt wurde. Eine globale Religionsgeschichte, so ihre Forderung, wird künftig stärker als bislang solche Einflüsse auch auf epistemologischer Ebene in Rechnung stellen müssen. Analog sind unsere heutigen »multiplen Modernen« nur dann hinreichend zu begreifen, wenn ihre Prägung durch diese unterschiedlichen historischen Wissenskulturen in den Blick genommen wird.
Diese hier etwas willkürlich herausgegriffenen und kurz skizzierten Beiträge vermitteln einen Einblick in das äußerst anspruchsvolle Vorhaben, in explizit religionswissenschaftlicher Perspektive Dynamiken der Religionsgeschichte zu analysieren. Zugleich ist wohl deutlich geworden, dass sie sich nicht eindeutig den vier Themenfeldern zuordnen lassen, denen sie auf dem Kongress selbst als Hauptvorträge zugewiesen waren. Sowohl thematische Überlappungen als auch divergierende Schwerpunktsetzungen belegen die komplexen Verzahnungen inhaltlicher, methodologischer und theoretischer Zugänge zu äußerst schwierig einzufangenden Ge­genständen – eben zu jenen Transformationsprozessen in Geschichte und Gegenwart, bei deren Untersuchung immer schon das damit fokussierte »Objekt« – Religion(en) – dem Zugriff zu entgleiten droht. Dabei zeigen die in dem Band versammelten Beiträge die Stärken, aber auch ein Stück weit die Aporien gegenwärtiger Religionswissenschaft.
Ihre Stärken, um nur einige wenige Aspekte zu nennen, liegen etwa in ihren zumeist multidimensionalen und multiperspektivischen Herangehensweisen innerhalb eines breit gefassten kulturwissenschaftlichen Referenzrahmens, in der interdisziplinären Verstrebung mit benachbarten Disziplinen, in der selbstreflexiven Durchdringung aufgrund ihrer Opazität oder sogar Intransigenz oftmals schwer zugänglicher Phänomene, oder im Wagnis, die vorgestellten Überlegungen auch in größere Theoriezusammenhänge einzustellen. Auf der anderen Seite deuten sich, oft bloß mittelbar oder schemenhaft, einige Aporiebereiche an. Wenn Hubert Seiwert in seinem hochreflektierten Beitrag auf Fragen wie die, ob Ritualopfer religiös sein könnten – obgleich die daran Teilnehmenden das ausdrücklich bestreiten – oder ob die Erfindung neuer Ahnenrituale als Fallbeispiel religiöser Dynamik gelten könnte, mit der Feststellung reagiert, er sei sich nicht sicher, ob das überhaupt sinnvolle Fragen sind, geht dies über den bereits etablierten Befund nicht hinaus, dass Religion kein empirisches Forschungsobjekt sein kann und ihre Grenzen lediglich dort liegen, wo wir – wer ist »wir«? – sie setzen. Wenn Peter Beyer mit seinem Modell der »post-Westfälischen Formatierung« zutreffend die multi-religiöse Diversifikation als Signatur globaler Religionsgeschichte herausarbeitet, scheint er mit seinem Verweis auf deren säkulare Grundierung doch einen Rest teleologischer Linearität anzunehmen; und wenn Jeppe Jensen zu Recht konstatiert, dass es in Religion um mehr geht als um »Glaube«, mag in seiner »cloning of minds«-Hypothese eine gewisse Tendenz zur Annahme »logischer«, berechenbarer reli-gionsgeschichtlicher Entwicklungsverläufe anklingen. Dies illus­triert zunächst eine weitere Binsenweisheit – nämlich dass die Dynamiken der Religionsgeschichte sich in den Dynamiken der Religionswissenschaft spiegeln – oder vielleicht noch grundsätzlicher weitergeführt: dass erst die Dynamiken der Religionswissenschaft die Dynamiken der Religionsgeschichte zutage fördern. Dass dabei bisweilen die Religion selbst eskamotiert wird, ist wohl einer ganz eigenen Dynamik des Wissenschaftsdiskurses geschuldet.