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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1279–1280

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Zimmerling, Peter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch Evangelische Spiritualität. Bd. 1: Geschichte.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 828 S. m. 1 Abb. Geb. EUR 50,00. ISBN 978-3-525-56719-7.

Rezensent:

Christian Grethlein

Eingangs stellt der Herausgeber, der durch thematisch einschlä-gige Publikationen hervorgetretene Leipziger Praktische Theologe Peter Zimmerling, knapp »Idee und Vorgeschichte« des auf drei Bände angelegten Gesamtopus dar. Dabei räumt er freimütig ein:
»Weil ›Spiritualität‹ einen Containerbegriff darstellt, sollte derjenige, der ihn verwendet, sagen, was er darunter versteht. Das tun die meisten der am Handbuch beteiligen Autorinnen und Autoren mehr oder weniger ausführlich zu Beginn ihrer Beiträge. Als Herausgeber habe ich keine weitergehenden Vorgaben gemacht, was ein Autor unter dem Begriff verstehen soll, um ihn nicht zu stark einzuengen.« (18)
Allerdings folgt dann doch eine eigene Bestimmung von »Spiritualität« als äußere Gestalt gewinnender gelebter Glauben, »der die drei Aspekte rechtfertigender Glaube, Frömmigkeitsübung und Lebensgestaltung umfasst« (ebd.). Offenkundig wird dabei »evangelisch« gleich in den Spiritualitätsbegriff integriert. Die theologische Herausforderung »evangelisch« zu bestimmen, wird dementsprechend nicht bearbeitet. Auch bleibt der gegenwärtige religionssoziologische Diskurs zum Spiritualitätskonzept (etwa Hubert Knoblauch) unbeachtet.
Dieser Ausgangsbasis entspricht, dass die 41 Fachartikel thematisch höchst unterschiedlich zugeschnitten und dann auch bearbeitet sind. So finden sich Beiträge zur »Spiritualität« einzelner bekannter Theologen – etwa zu Melanchthon (19 Seiten) – neben Überblicksartikeln etwa zu »Die Spiritualität der Täufer« – so eine ins Handbuch aufgenommene Übersetzung eines fünfseitigen (!), bereits 2005 erstmals auf Englisch veröffentlichten Artikels. Zwischenformen bilden Artikel wie »Spiritualität zwischen Orthodoxie und Pietismus am Beispiel Johann Martin Schamelius (1668-1742)« (22 Seiten). Inhaltlich liegt ein Schwergewicht beim Pietismus, dem allein sieben Artikel gewidmet sind.
Diese Uneinheitlichkeit rechtfertigt der Herausgeber in seinem zweiten, dem vorliegenden ersten Band gewidmeten Einleitungsartikel durch das Ziel, »die reichen Traditionen evangelischer Spiritualität wiederzuentdecken« (22). Dass auf Grund des hier vom Herausgeber zu Recht angemerkten Forschungsdesiderats eher ein Mosaik als bereits eine systematisch kohärente Darstellung entsteht, liegt nahe. Und dass bei einem solchen Mosaik Teile fehlen – der Herausgeber nennt selbst »einen Beitrag über den sogenannten radikalen Flügel der Reformation oder über einen Vertreter der reformierten Orthodoxie« (34) –, dürfte kaum zu vermeiden sein.
Problematischer erscheint bei einer Kirche des allgemeinen Priestertums aller Getauften die Dominanz der männlichen – meist ordinierten – Theologen, die eine Darstellung erfahren – nur ein Artikel hat eine Frau (Anna Schlatter-Bernet) zum Thema. So entsteht eher das Bild der Frömmigkeit einer gebildeten männlichen Elite als einer »evangelischen Spiritualität«. Dies ist keineswegs nur ein theoretisches Problem. Vergeblich sucht der frömmigkeitsgeschichtlich – und volkskundlich – interessierte Leser z. B. nach Hinweisen und Überlegungen zum benediktionellen Handeln als einer wichtigen alltagsbezogenen spirituellen Praxis oder zur Feier von den Alltag unterbrechenden Festtagen (s. andeutend S. 203 Markus Matthias zur »Inkarnationsfrömmigkeit«).
So liegt – positiv gewendet – mit diesem Band ein in vielen Beiträgen interessanter Reader zur Frömmigkeitstheologie wichtiger protestantischer Theologen und einschlägiger kirchengeschichtlicher Phasen vor. Studierende der Theologie, aber auch interessierte Ge­meindeglieder können sich in den verständlich geschriebenen und übersichtlich gegliederten Artikeln rasch über entsprechende Ansätze und Entwicklungen informieren. Teilweise ausführliche Literaturlisten im Anhang an die Beiträge ermöglichen ein vertieftes Studium.
Ein »Handbuch Evangelische Spiritualität« ist das aber freilich nicht. Dafür müssten zuerst die Grundbegriffe »evangelisch« und »Spiritualität« geklärt werden. Die ausgewählten Themenbereiche würden sich dann wohl teilweise verändern. In ihnen würde die im Alltag zu gestaltende Aufgabe der Kontextualisierung der Kommunikation des Evangeliums in den Vordergrund treten, auf die dann die frömmigkeitstheologischen Beiträge zu beziehen wären.