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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1277–1279

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Roth, Markus

Titel/Untertitel:

Die Zuwendung Gottes feiern. Evangelische Gottesdienst-Theologie bei Martin Luther, Oswald Bayer und Paul Tillich als ein Beitrag zu einer fundamentalliturgischen Praxistheorie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 308 S. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-04542-6.

Rezensent:

Jochen Arnold

Die Dissertation des bayerischen Pfarrers Markus Roth geht mit einer systematisch-theologischen Fragestellung und praktisch-theologischen Perspektive an das große Thema einer Gottesdiensttheologie heran. Sein Leitbegriff ist dabei – von Martin Luther und Oswald Bayer herkommend und diese weiterführend – der Begriff der Zuwendung Gottes. Dritter Gesprächspartner ist der Dogmatiker Paul Tillich. Gerade im Gespräch mit ihm kommen Ergebnisse zutage, die für die aktuelle Diskussion weiterführend sein dürften.
R. markiert seinen Standpunkt als lutherisch zum einen und »zeitgenössisch« zum anderen. Er möchte eine »wort-mystische Gottesdienst-Theologie« formulieren, die vom Ereignis des äußeren Wortes herkommt und zugleich sakramental-mystische Impulse (Tillichs) aufnimmt. Methodisch nimmt R. Impulse der neueren »Liturgischen Theologie« auf und versteht seine Arbeit als »Beitrag zu einer Gottesdienst-Theologie«, die bewusst den Weg von der Theologie zum Gottesdienst geht. Als innere Mitte des Gottes-dienstes wird das Rechtfertigungsgeschehen betrachtet (16 f.).
Nun einige Bemerkungen zu den Hauptteilen. Martin Luthers Theologie des Gottesdienstes wird auf einen knappen Nenner ge­bracht, wonach Glaube Gottesdienst ist. R. zeigt die Weite des Lu­therschen Gottesdienstbegriffes ausgehend von den frühen Sermonen (1519) und De captivitate (1520) auf. Er beschränkt die Diskussion also nicht auf die drei liturgischen Schriften Luthers von 1523 und 1526. Im Zentrum steht vielmehr seine mit der reformatorischen Wende greifbare Promissio-Theologie, die durch den Gedanken des gnädigen Zuvorkommens Gottes geprägt ist. Gegenüber Rom geht es um eine soteriologische, d. h. antimeritorische Konzentration (vgl. 48), gegenüber den »Schwärmern« um eine »sinnlich erfahrbare Anrede«, die der Kondeszendenz Christi entspricht (62 f. u. ö.) und Gewissheit vermittelt.
In seiner kritischen Würdigung Luthers hebt R. (71 f.) auf das Ereignis ab, das mit der Befreiung durch das Evangelium beginnt. Pneumatologisch wichtig sind dabei das doppelte Wortverständnis Luthers (verbum externum und internum) und die Aussage, dass der göttliche Geist sich an das Ereignis des »leiblichen Wortes« bindet (vgl. 77 bzw. CA V). Die abschließenden (2.8) Bemerkungen skizzieren die (nicht unproblematische) Rezeption Luthers in der jüngeren Kirchen- und Theologiegeschichte: Aus dem Lebe-Wort wurde vielfach ein Lehr-Wort, aus der fides qua creditur oft nur noch die fides quae creditur.
Oswald Bayer wird mit zahlreichen Publikationen komprimiert aufgenommen und pointiert wiedergegeben. Wichtig ist u. a. Bayers Methode einer gottesdienstlichen Formenlehre (vgl. 87), die mit der Rede von vier Widerfahrnissen Gottes (Evangelium, Gericht, Erhaltung, Verborgenheit, 88) weitergeführt ist. Die zentrale Kategorie des leiblichen Wortes und die dialektischen Bezüge von promissio und fides werden treffend beschrieben. Die Bayer eigene Figur von allgemeinem und besonderem Gottesdienst, die nicht zu­letzt das Verhältnis von Religion und Kirche (vgl. natürliche Theologie vs. Offenbarung) in den Blick nimmt, kommt freilich nur kurz vor. Zentral hingegen erscheint R. Bayers Bestimmung des Gottesdiens­tes als »Austeilung« (gegen Schleiermachers Begriff der Darstellung) und als »kategorische Gabe« (gegen Kant und die Tendenzen in der Ökumene, das Abendmahl nur als Danksagung zu begreifen). Diese beiden Begriffe können als Leitbegriffe gelten, wobei das Gefälle von Katabasis und Anabasis (Torgauer Formel) ebenfalls leitend ist (vgl. 105 f.). In seiner abschließenden Würdigung (114 ff.) stellt R. u. a. die seelsorgliche Intention der Theologie Bayers und die große Übersetzungsleistung heraus, die in der neuzeitlichen Reformulierung des Rechtfertigungsgedankens für Gottesdienst und Theologie begründet ist. Die Konzentration auf das Wortgeschehen der Zusage wird allerdings auch als Problem wahrgenommen. R. kritisiert, dass es bei Bayer zu wenig Raum für das reine Schweigen gebe. Die Betonung der Sprechakte des Evangeliums ließen zudem andere Sprechakte an den Rand treten. R. deutet an, dass er den Gemeinschaftsbegriff bzw. die Trias communicatio – communio – unio für eine angemessene Alternative zur promissio hielte. Zuletzt kritisiert R. auch einen reduzierten Festbegriff, der den Gottesdienst nur als Unterbrechung der Arbeit und weniger als Fest der Freude und Schönheit betrachtet.
Paul Tillich wird zunächst als ungewöhnlicher Gesprächspartner in liturgicis eingeführt, da es keine explizite Gottesdienst-Theologie bei Tillich gibt, sondern sich diese (lediglich) in seiner Pneumatologie in Teil IV (Band III) der Systematischen Theologie wiederfindet. Grundsätzlich hält R. Tillich für den großen protes-tantischen Denker des 20. Jh.s, der im Gespräch mit Philosophie und (Tiefen-)Psychologie auch Fragen der Spiritualität und der Mys­tik mitbedacht hat und dezidiert eine unverzichtbare Logos- und Seinstheologie formulierte. R. hält ihn für geeignet, die Engführungen der Dialektischen Theologie und des Fundamentalismus in produktiver Weise hinter sich zu lassen.
In diesem Zusammenhang ist die Beschreibung der sechs Be­deutungen des Wortes Gottes (135 f.), aber auch Tillichs Sündenbegriff von Belang, der freilich durch das existenzielle Motiv der Angst konnotiert wird. Weiterhin von Interesse ist für R. die pneumatologische Kategorie der Ekstase (vgl. 148 bzw. ST III 134). Rechtfertigung heute heißt: »Annahme des Unannehmbaren«. Ähnlich zentral ist für R. das prophetische Element. Der Offenbarung Jesu Christi geht eine Grundoffenbarung voraus: Sie beinhaltet die Befreiung aus Selbstzweifel. Mystik meint im tiefsten Sinne »Gott ist gegenwärtig«. Damit ist Mystik Teil jeder Reli gion. Tillich mo­niert von hier aus das Fehlen einer protestantischen Mystik. Evangelische Wort-Theologie muss vielmehr eine mystische Komponente haben. Gott sei personal zugewandt zum einen und unnahbar heilig zum anderen zu denken, und daher ein Mysterium. – Verkündigungsinhalte für Tillich lassen sich mit drei zentralen Punkten benennen: das Ernstnehmen der Grenzsituation (1.); das Ja, das uns heil spricht (2.); das Zeugnis vom »neuen Sein« (3.).
R. stellt klar die Differenz zu Luther und Bayer heraus: Für Tillich »funktioniert« der Protestantismus auch ohne verfasste Kirche: Ist der Gottesdienst dann heilsnotwendig? Ja, im Sinne heilsamer Fragen! (181) Er sieht einen weiten Gottesdienst-Begriff bei Tillich, der allerdings immer wieder unscharf formuliert sei (183): »In ihm wendet sich die Kirche zu dem letzten Grund ihres Seins.« Dennoch seien in Tillichs Gottesdiensttheologie prophetische, priesterliche und mystische Grundrichtungen (182) vereint. Die Mystik erhebe sich dabei über die beiden Ersteren, sie übe auch Kritik an Mythos u nd Kultus. Eine gute Zusammenfassung bietet Abschnitt 186 f. R. würdigt Tillich als wichtigen Gesprächspartner für gebildete Zweifler auf der einen und liturgisch Interessierte auf der anderen Seite. Bayers Kritik an Tillichs schöpfungstheologischem oder sogenanntem ontologischen Apriori (Anknüpfungspunkt), das er auch als neuzeitlichen Narzissmus kritisiert, hält R. für nicht berechtigt, da Tillich nicht von »reiner Ontologie« spräche.
Dann entwirft R. auf knapp 50 Seiten die eigene theologische Sicht. Mit Tillich kritisiert er die Theologie-Konzeption einer Sprachformenlehre bei Bayer. Religion brauche Sprache und Form, und sie transzendiere zugleich Sprache und Form (vgl. 197). R. propagiert den Gottesdienst als »Fest der Zuwendung Gottes zu den Menschen« und als »Fest der Zuwendung des Menschen zu Gott«. Auch die Vorstellung, dass »jeder Moment Gottesdienst sein« könne, wird vertreten. Existenzielle Anfrage am Ende dieses Teils: Der Mensch »fragt nicht nur nach einem Wort, einem Zuspruch, der sein Leben sprachlich rechtfertigt. Menschen fragen nach Halt, Tiefe und Sinn und nach einer Zuwendung, die erfahrbar ist und über menschliche Zuwendungen hinausgeht.« – Abschließend kommt R. zu einer eigenen Beschreibung einer Theologie des Gottesdienstes.
Mit dem Begriff der Zuwendung wird versucht, die Aporie von Wort vs. Sein zu überwinden. Wesentlich ist der Abschnitt zu Wort und Mystik, in dem R. Bayers Programm der promissio ausweitet auf die Trias von communicatio – communio – unio. Hier (unio) hat auch die Ekstase ihren Ort. Dann kommt R. nochmals auf das zu sprechen, was Menschen im Gottesdienst suchen: Gräbs Rede einer »Rechtfertigung von Lebensgeschichten« wird aufgenommen und ein »gerechtfertigtes Gottesverhältnis« und ein »heiles Sein« bzw. »sinnvolles Leben« als Leitbild vor Augen gestellt. Der Gottesdienstbegriff wird dabei denkbar weit gefasst, Gottesdienst am Sonntag gehe nicht ohne Gottesdienst im Alltag und Liturgie nicht ohne Diakonie und Spiritualität. Zentral sind die abschließenden Ausführungen zum Begriff der Zuwendung als sinnlicher und ganzheitlicher Zuspruch bzw. als »ekstatische Begegnung mit Gott« (vgl. 233 f.). Das Schlusswort macht die Aufgabe des Gottesdienstes für die Gegenwart nochmals ganz groß. Die These lautet: »Mit dem Gottesdienst der christlichen Kirche steht das Christentum auf dem Spiel« (244). – R. zeigt sich sowohl in der Darstellung als auch in Kritik und eigener Entfaltung als eigenständiger Denker mit weitem Horizont, der in theologischer Verantwortung von einem dezidiert evangelischen Standpunkt aus Theologie treibt. Er tut das vielfach schnörkellos ohne unnötige Polemik, aber mit klaren Abgrenzungen. Die Zueignung des Heils durch das Evange-lium ist dabei Mitte und Quelle seiner Theologie.
Die Bemühung, Tillichs Theologie als Korrektiv für eine lutherische Theologie im Gefolge Oswald Bayers neu zu lesen, scheint diskussionswürdig, auch wenn die Tillich-Lektüre R.s bisweilen sehr optimistisch geschieht. Bestimmte Wort-Figuren und Konstellationen bei Tillich sind m. E. auf ihre theologische Substanz nochmals zu prüfen. Dennoch: Das Thema Angst, die Sinnfrage, der Gedanke des schöpfungstheologischen Prae (Grundoffenbarung) oder auch der Ekstase können eine aktuelle Theologie des Gottesdienstes – sofern es sie gibt – ergänzen oder gar neu befruchten.