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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1267–1269

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Berdjajev, Nikolaj A.

Titel/Untertitel:

Wahrheit und Offenbarung. Prolegomena zu einer Kritik der Offenbarung. Aus dem Engl. unter Hinzuziehung des russ. Originals übers. und mit einer Einleitung vers. von K. u. G. Bambauer.

Verlag:

Waltrop: Spenner 1998. X, 345 S. 8. DM 48,-. ISBN 3-927718-01-7.

Rezensent:

Stefan Reichelt

Das nach dem Zweiten Weltkrieg (1946/47) entstandene Werk des Religionsphilosophen Berdjajev erschien 1953 in englischer, im darauffolgenden Jahr in französischer und 1959 in japanischer Sprache. Eine deutsche Übersetzung, wie von vielen anderen Werken der mittleren und späten Schaffensphase, wurde jedoch nicht angefertigt. Erste Schriften in russischer Sprache waren bereits während Berdjajevs Deutschlandaufenthalt 1922-1924 erschienen. Nachdem er Deutschland in Richtung Frankreich verlassen hatte, versiegte der Strom deutschsprachiger Editionen nicht, sondern nahm - im Gegenteil - zunächst noch zu. B. war im Deutschland der Zwischenkriegszeit zu einer geistigen Autorität geworden, die zu kennen aufgeschlossene Zeitgenossen für unumgänglich hielten. Wurde auch sein gesamtes Werk im Dritten Reich verboten, druckte der Schweizer Vita Nova Verlag doch einige seiner neu verfaßten Schriften, so daß die Stimme des aus der Heimat Vertriebenen auch in dieser Zeit nicht gänzlich verstummte. Nach seinem Tode 1948 in Paris fand sein Werk durch Nach- und Neuauflagen in Deutschland erneut Gehör. "Wahrheit und Offenbarung" erschien jedoch weder russisch noch - wie bereits erwähnt - in deutscher Übersetzung. Erst 1996 wurde der russische Originaltext mittels einer Ausgabe des St. Peterburger "Russkij Christianskij Gumanitarnyj Institut" zugänglich.

Fünfzig Jahre nach B.s Tod liegt nun auch die deutsche Übersetzung mit einer sehr ausführlichen Einleitung und einem umfangreichen Anmerkungsteil vor. In der Einleitung werden wesentliche biographische Stationen erwähnt, interessante Spuren des Denkens B.s in Rußland und Europa aufgezeigt - etwa die Aufnahme durch Karl Barth, Paul Tillich und Jürgen Moltmann - sowie eine philosophie- und geistesgeschichtliche Einordnung versucht. All diese Informationen bieten dem mit russischer Geistesgeschichte wenig vertrauten Leser eine anregende und nützliche Einführung in die bisweilen schwer verständliche und fremd anmutende Gedankenwelt der letzten Jahren des Schaffens des Religionsphilosophen. - Das Spätwerk "Wahrheit und Offenbarung" darf jedoch keineswegs isoliert vom gesamten Schaffen B.s gesehen werden. Es ist Bestandteil einer religionsphilosophischen Trilogie, zu der außerdem die Werke "Novoe religioznoe soznanie i obscestvennost’" (1907) und "Filosofija svobodnogo ducha" (1927/28) [Die Philosophie des freien Geistes. Tübingen, 1930] gehören, und folglich nicht von der frühen und mittleren Schaffensphase zu trennen.

Auffallend ist die philosophische Erörterung eines theologischen Problems. Kennzeichnet "Wahrheit und Offenbarung" die späte Wende des kirchenkritischen Religionsphilosophen zur Theologie? Auch in den letzten Lebensjahren war B.s Verhältnis zur Russisch-Orthodoxen Auslandskirche, deren Glied er bis zu seinem Tod blieb, gespannt. Er sah sich nie als Vertreter der orthodoxen Kirche und betonte dies gelegentlich, wenngleich sein Denken entscheidend durch ostchristliche Spiritualität geprägt ist. So bemerkte etwa der Verleger Otto Reichl, in dessen Verlag "Der Sinn der Geschichte (1925, 2. Aufl. 1950) und "Das neue Mittelalter" (1927, 2. Aufl. 1950) erschienen: "... durch ihn [Berdjajev] hat die Ostkirche wieder zu uns gesprochen, mit den Worten des Westens, aber aus der tiefen Frömmigkeit des Ostens heraus." (Brief vom 18. Februar 1950. In: Archiv des Reichl-Verlags/St. Goar)

Für den westchristlichen Leser ungewohnt ist u. a. B.s Anthropologie, die große Bedeutung, welche er menschlichem Handeln im Prozeß der Gestaltung und Verklärung der ganzen Welt beimißt. Mit Vladimir Solovev vertritt er ein Gottmenschentum, das wohl die unmittelbare Mitwirkung des Menschen an der Erlangung des Heils ausschließt, im menschlichen Schaffen aber die zentrale Kraft beim Bau des Gottesreiches sieht. Der "transzendentale" Mensch wird somit gleichsam zum "Partner Gottes", es entsteht eine gott-menschliche Korrelation in der Verklärung und Verwandlung des ganzen Kosmos. Liegen die Gefahren einer solchen Sicht, wie die der Einschränkung der Befreiungstat Christi und damit letztlich der Beschränkung Gottes, auf der Hand, dürfen auch deren Chancen nicht übersehen werden. So kann etwa Berdjajevs an Jacob Böhme angelehntes Freiheitsverständnis, welches vom Primat der Freiheit gegen-über dem Sein ausgeht, dem Theodizee-Diskurs neue Impulse verleihen und der Entlarvung unhaltbarer Gottesbilder dienen.

Neben den skizzierten Grundlagen beinhaltet "Wahrheit und Offenbarung" ein Fülle weiterer inhaltsschwerer Aussagen. Hauptmotive des philosophischen Werkes B.s, wie die Kritik an den Objektivationen des Geistes, die Deutung des menschlichen Lebens in der Geschichte, das menschliche Schöpfertum im Verhältnis zur Erlösung und die Offenbarung des Geistes im "neuen, transzendentalen Menschen", konzentrieren sich um die dynamisch verstandene Wahrheit und kritisch gesichtete christliche Offenbarung, so daß von der "Summe freier Religionsphilosophie" (Wolfgang Dietrich: Provokation der Person. Bd. 1. Gelnhausen; Berlin, 1975, 91 u. ö.) gesprochen werden kann.

Diese kurzen Ausführungen mögen genügen, um die Originalität und Vielseitigkeit des aus verschiedensten Quellen gespeisten Denkens B.s - häufige Gesprächspartner sind u. a. Karl Barth, Sergej Bulgakov, Fedor Dostoevskij, Martin Heidegger und Friedrich Nietzsche -, wie es sich in "Wahrheit und Offenbarung" widerspiegelt, sowie dessen Herausforderung an Theologie und Philosophie anzudeuten.

Wurde die Übersetzung auch über den Umweg der englischen Sprache vorgenommen, was kleinere Mängel wie bisweilen fehlende Kongruenz von Begriffen und ungenaue Wiedergabe des russischen Textes mit sich brachte, haben Klaus und Gertraude Bambauer mit der Übersetzung und Kommentierung des genannten Werkes der deutschsprachigen Leserschaft ein anregendes und bedeutendes Werk des russischen Religionsphilosophen zugänglich gemacht, dem eine rege Wahrnehmung und Diskussion gewünscht wird.