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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1275–1277

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lehnert, Christian

Titel/Untertitel:

Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2017. 237 S. Geb. EUR 20,00. ISBN 978-3-518-42586-2.

Rezensent:

Sabrina Hoppe

»Die Liturgie ist wie eine Fährte im Schnee – flüchtiges Zeugnis eines anwesend-abwesenden Gottes.« (21) Dieser Fährte folgt Chris­tian Lehnert, Theologe, Schriftsteller und Geschäftsführer des Liturgiewissenschaftlichen Instituts an der Universität Leipzig, in seinem neuen Werk, in dem er sich dem Wesen des Gottesdienstes widmet. Seine Auffassung von der Inkarnation Gottes in der Liturgie und seine Beschreibung des Gottesdienstes als einer Nuß, in der »der Gott« zu finden ist, folgen den Worten des Mystikers Silesius: Der Gott als ein lauter Nichts.
L.s charakteristische Theo-Poesie erinnert wieder und wieder an dieses Gott-Erahnen der christlichen Mystik. Die 82 »fliegenden Blätter«, wie die Ausführungen im Untertitel genannt werden, sortiert L. entlang der lateinischen Messordnung, sodass die losen Erfahrungen des Lebens, die in seinen Essays zwischen Leben, Traum und Fiktion changieren, doch eine Ordnung, eine Aufhebung in der Liturgie finden. Die Betrachtungen zu »Kult und Ge­bet« gleichen dem Schauen des Propheten Ezechiels, den der Geist des Herrn emporhebt und ihn sehen und reden lässt: Visionen und Erinnerungen, Schmerz und Zukunftsdiagnosen verdichten sich zu Beschreibungen des Wirkens Gottes am Menschen. Ähnlich passiv und überwältigt wie der Prophet Ezechiel zeigt sich nach L. der Mensch im Kult: In der Liturgie werde ich gesagt, gesungen. Und »wenn es ›mich‹ als Betenden gibt, dann nur von Gott her, der ›mich‹ als solchen ansieht.« (71) Auch der Gott selbst sei nur sagbar und greifbar, wenn er unverfügbar sei, als Nachhall. An seine Stelle aber trete die Liturgie als »Gottesgebärerin« (12) Der Unnennbarkeit des Gottesnamens entspreche der Kult als »Suchbewegung« (20). Ihm obliege die Aufgabe, die Lücke zwischen Erinnerung und Erwartung zu überbrücken. Das Entzogen-Sein Gottes vom Sagen und Ergreifen des Menschen bilde sich in der Unabhängigkeit des Kultes ab. Dabei weist L. der Liturgie nicht die Aufgabe zu, selbst »religiöse Erfahrung [...] nach Art einer Technik« erzeugen zu können. Der Kult sei lediglich »ein Gefäß, in dem sich religiöse Erfahrung ereignen kann.« (158) L. formuliert ohne erzwungene Gelehrsamkeit: »[...] Es gibt eben keine destillierten theologischen Aussagen, die schattenlos für sich sprächen. Nein, immer ist Theologie auch Bildrede [...]. Diese Gleichzeitigkeit, mit der etwas sichtbar gemacht und verdunkelt wird, gehört zum Wesen religiöser Sprache.« (41) Die Polarität von Sichtbar-Machen und Verdunkeln kennzeichnet auch L.s eigene bildhafte Beschreibungen der Liturgie: Sie wird zu einem synästhetischen Suchen und Schauen nach der Gotteserfahrung in der Existenz des Menschen. So erzählt Lehnert von Begegnungen mit Gemeindegliedern und Fremden in seiner Zeit als Pfarrer in einem mitteldeutschen Dorf, webt dabei Fieberträume und seelsorgerliche Abgründe ein. Die liturgische Ordnung stellt für ihn den Rahmen dar, um eigene und fremde Le­benserfahrungen sowie theologisches Wissen miteinander zu verknüpfen. Der Modus der Liturgie sei der Konjunktiv – ob sich »Erleuchtungen und Wandlungen der Seele« aber schließlich im Kult einstellen, das obliegt nach L. weder dem Kultverantwortlichen noch dem Kult selbst. Diese Synästhesie der Liturgie wäre dann nicht nur eine Gottesgebärerin, sondern eine Ich-Entwerferin, in der die zerrissenen Geschichten und Träume, Visionen und Labyrintherfahrungen des eigenen Lebens ihr Abbild fänden. Die teilweise fast schon an Autarkie grenzende propagierte Unabhängigkeit des Gottesdienstes vom Zeitgeist durchzieht L.s lose Blätter. So könne man bei den Lesungen etwa getrost auf die Wirkung der Schrift selbst bauen, ohne das »flatternde Banner der ›Verständlichkeit‹«, fürchten zu müssen (135). Die Lesungen seien »Flügelschläge der christlichen Frömmigkeit«, Einbruch des Fremden in »den Möglichkeitsraum und Ordnungshorizont des Menschen« (135). Hier erin nern L.s Ge­danken an M. Nicols Ausführungen in »Weg im Geheimnis«, Göttingen 2009. So blitzt die bisweilen kauzig anmutende Aufmüp-figkeit Nicols in seinem »Plädoyer für den Evangelischen (sic!) Gottesdienst« auch bei L. auf, insbesondere in seiner Interpretation des drohenden Relevanzverlustes des Sonntagsgottesdienstes. Statt in das Wehklagen vom Untergang einzustimmen jubiliert L.: »Der Gottesdienst ist zurück an seinem Ur­sprung.« (90) Analog dazu meint er in den sinkenden Kirchenmitgliedschaftszahlen die »Wahrheit der Verluste« (167) zu erkennen, die die »Wahrheit des Christentums zur Geltung bringt, die nicht in einer Gestalt liegt, nicht in einer Volkskirche, [...], sondern in einer un­sichtbaren, unbenannten Existenzform, die nicht quantitativ zu messen und nicht abgrenzbar ist [...].« (166) Der »Grundklang aller christlichen Institutionalisierungen und Formgebungen« sei seit jeher das »Knistern zerfallenden Schaumes« gewesen – dessen Re­sultat sei jedoch das Wachsen des Christentums »in die Tiefe und in die Höhe.« (190) Allein für solche sprachlich und gedanklich bestechenden Bilder lohnt sich das Blättern in L.s loser Sammlung, die zwar ohne ein Inhaltsverzeichnis auskommt, jedoch dabei nie ihren Fokus, ihre Nuss, aus den Augen verliert.