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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1272–1273

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dürr, Malte

Titel/Untertitel:

»Dienstgemeinschaft sagt mir nichts«. Glaubenseinstellungen, Motivationen und Mobilisierungspotenziale diakonisch Beschäftigter.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2016. 258 S. = Entwürfe zur christlichen Gesellschaftswissenschaft, 33. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-643-13161-4.

Rezensent:

Ellen Eidt

Die Entstehungszeit dieser explorativ angelegten empirischen Studie fällt in eine Phase juristischer, theologischer und medialer Diskurse um die Grundprinzipien des kirchlichen Arbeitsrechts. Die für den Druck überarbeitete Dissertation von Malte Dürr wurde von Traugott Jähnichen und Michael Weinrich betreut und von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert. Im Jahr vor ihrem Erscheinen hatte das Bundesverfassungsgericht mit einem Verweis auf die Um­setzung der vom Bundesarbeitsgericht 2012 verhängten Auflagen den kirchlichen Sonderweg bestätigt. Selbst wenn damit eine öffentlichkeitswirksame Diskussion vorläufig beendet wurde, sind die vermittelten Einblicke für weiterführende Überlegungen zur Gestaltung kirchlich-diakonischer Dienstverhältnisse interessant.
D. knüpft mit seiner Studie an zwei Forschungstraditionen zum Thema Dienstgemeinschaft an: Er nimmt Bezug auf theoretische Abhandlungen zur Genese des Begriffs, die zeigen, dass er bis 1995 ausschließlich in Schriften zum kirchlichen Arbeitsrecht zu finden ist und erst danach theologisch gefüllt wird. Daneben greift D. die Ergebnisse quantitativer und qualitativer Untersuchungen auf, die verdeutlichen, dass der Begriff bei den Dienstnehmenden we­nig Resonanz findet, während er bei den Dienstgebenden teilweise den Charakter eines Abgrenzungs- oder Kampfbegriffes annimmt. Vor diesem Hintergrund entfaltet er das Forschungsanliegen: »eine Verknüpfung zwischen den bisher überwiegend theoretischen und deskriptiven Ergebnissen hinsichtlich der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse innerhalb der Diakonie mit konkreten Fallanalysen dort Beschäftigter« (6).
Leider wird die zur Verknüpfung genutzte Methode nicht benannt, und sie ist auch aus dem Aufbau der Studie nur vage zu rekonstruieren. Nach (1.) Einleitung und (2.) Darstellung des Forschungsstandes folgt (3.) der multiperspektivische Zugriff auf den Begriff der Dienstgemeinschaft, eine Verhältnisbestimmung zum Dritten Weg sowie eine Reihe von Vergleichen theologisch-kirchenrechtlicher Lehrmeinungen mit Ergebnissen der empirischen Erhebung. So entsteht der Eindruck, dass die Tragweite theologischer Theoriebildung an den Realitätskonstruktionen der Befragte n gemessen und die (Un-)Kenntnis der Beschäftigten in diako-nischen Unternehmen ausgehend von theoretischen Diskursen be­wertet wird. Mit Hilfe dieses eher hypothesenprüfend oder dialektisch als theoriegenerierend anmutenden Vorgehens leitet D. dann ab, »dass sich eine stärker inhaltlich begründete Dienstgemeinschaft weniger an Formalien wie der konfessionellen Zugehörigkeit orientieren sollte, sondern die durch die intuitive Relevanz ausgedrückte Bereitschaft der Mitarbeitenden, einen Begriff wie die Dienstgemeinschaft anzunehmen, nutzbar zu machen und den kollektiv orientierten Gemeinschaftsgedanken einerseits sowie die individuell geprägte Hilfekonzeption andererseits zu verbinden und einem neuen Verständnis zuzuführen [sei].«
Die folgenden Kapitel sind den drei zentralen empirischen Forschungsfragen gewidmet. Eher hermeneutisch intuitiv als methodisch reflektiert werden die verschiedenen (4.) Identifikationsprofile und Motivlagen, (5.) die Mobilisierungspotenziale für gewerkschaftliches Engagement und betriebliche Mitbestimmung der Befragten sowie (6.) deren – überwiegend von kirchlicher Institutionenskepsis begleitete – persönliche Glaubenseinstellungen herausgearbeitet. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse ergänzt abschließend eine Darstellung der (7.) Konstruktionen der Befragten zur Geschlechter(un)gerechtigkeit in der Diakonie.
Erst zu Beginn des letzten Kapitels folgen Andeutungen zur Wahl der Befragungsmethode, zum Sampling, zur Transkriptionstechnik und zum Aufbau der anschließend vorgestellten 15 Einzelporträts, nicht aber zum Interpretationsverfahren. Die Pointe der Methodenwahl erschließt sich nur denjenigen, die mit dem Konzept des Problemzentrierten Interviews von Andreas Witzel, dessen gesellschaftsdiagnostischen Implikationen und seinen methodischen Anleihen bei Grounded Theory und Dokumentarischer Methode bereits anderweitig vertraut sind. Das Sampling erscheint dennoch primär pragmatisch motiviert, es fehlt die Anwendung der im Sinne der Befragungsmethode zu erwartenden Kriterien. So mag sich auch erklären, dass die Titelkategorie »diakonisch Be­ schäftigte« für Befragte, die ausschließlich Unternehmen der Alten- und Krankenpflege zuzuordnen sind, übergeneralisierend wirkt. Ein suboptimal gewählter Erzählstimulus zu Beginn der Interviews (»Erzählen sie bitte mal, wie und warum sie Beschäftigte/r in der Diakonie geworden sind.«) lädt den überwiegenden Teil der Befragten gerade nicht zur freien Narration ein, weil nicht nur nach dem »Wie«, sondern zugleich auch nach dem »Warum« gefragt wird. An zentralen Stellen der allgemeinen Sondierung eingesetzte Suggestivfragen (»Würden sie den vermehrten Einfluss von Ge­werkschaften begrüßen«; »Arbeiten sie bewusst christlich?«) sind in einem problemzentrierten Interview, sowohl methodisch als auch um der wissenschaftlichen Redlichkeit willen, nicht zielführend. Sie provozieren in der Regel kurze, sozial erwünschte Statements anstelle der methodisch notwendigen Narrationen.
Trotz ihrer über die genannten Aspekte hinausgehenden gravierenden methodologischen und methodischen Schwächen ermöglicht diese Studie wichtige Einblicke in die Glaubenseinstellungen, Motivationslagen und die auf Mitbestimmung und ge­werkschaftliches Engagement bezogenen Mobilisierungspotenziale der Befragten. Ganz im Sinne einer explorativen Untersuchung regt sie weitere Forschungen auf diesem Feld an, setzt Im­pulse für praxisrelevante Diskussionen und weitergehende theologische Theoriebildung. Insbesondere der Beobachtung, dass eine hohe Identifikationsbereitschaft bei den Befragten vor allem durch ein Geborgenheits- und Sicherheitsgefühl in diakonischen Unternehmen motiviert ist, während diese Identifikation erheblich unter Druck gerät, wenn Diskrepanzen zwischen diakonischem Anspruch und Alltagsrealität in den Vordergrund rücken, ist nachhaltige Resonanz zu wünschen.