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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1269–1272

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Drews, Paul

Titel/Untertitel:

Religiöse Volkskunde und religiöse Psychologie. Schriften zur Grundlegung einer empirisch orientierten Praktischen Theologie. Hrsg. v. A. Kubik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XI, 439 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 20. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-16-151007-6.

Rezensent:

Frank Thomas Brinkmann

Es gehört längst in den Grundbestand praktisch-theologischer Erzählungen, dass Klaus Wegenast in den 1970er Jahren nicht allein die berühmte »empirische Wendung in der Religionspädagogik« (1968) diagnostiziert bzw. eingefordert, sondern darüber hinaus, im gediegenen Schulterschluss mit geschätzten Fachkollegen, auf eine empirische Wende der gesamten Praktischen Theologie zugesteuert habe. Gern werden die zahlreichen Voten, die seinerzeit zugunsten so genannter realistischer Situationsanalysen abgegeben worden sind, um das kirchliche Praxiswirken auf sämtlichen Handlungsfeldern verbessern zu können, interpretiert im Sinne jenes generellen Forschungsinteresses am (adressierten) religiösen Subjekt, das sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten unterschiedlich artikuliert und unter Signaturen wie Empirische Theologie oder Empirisch-theologische Religionsforschung spezialisiert hat: mal als eine hermeneutische Erkundungsreise durch wenig be­kannte Lebens- und Sinnwelt(en), mal als methodisch validierte, weil qualitativ und/oder quantitativ abgesicherte Erhebung von Einstellungen, mal als intuitive Rekonstruktion einer Art Glaubensgenese über moralische und spirituelle Entwicklungsschritte.
Aber womöglich verdankt sich die um Komplexität in den di-vergierenden Theoriedesigns also durchaus nicht verlegene, nennen wir sie daher summarisch: Empirische Praktische Theologie des 21. Jahrhunderts gar nicht zwingend den viel zitierten Anregungen aus zeitlich-historischer Nachbarschaft? Dies scheint zumindest die These von Andreas Kubik zu sein, Professor für Praktische Theologie an der Universität Osnabrück, und er vertritt sie durchaus mit Vehemenz und guten Argumenten, wenn er das Konzept einer modernen religiösen Volks-, Seelen- und Kirchenkunde (um 1900) als erste und eigentliche empirische Wende der (Praktischen) Theo-logie fokussiert. Bereits der Untertitel der von Kubik editierten Sammlung macht deutlich, dass es ihm hier um nichts Geringeres gehen will als um die »Schriften zur Grundlegung einer empirisch orientierten Praktischen Theologie«!
Verfahrensinhaltlich gilt es, das literarische bzw. theologische Vermächtnis eines Theologen der vorletzten Jahrhundertwende aufzubereiten und zugänglich zu machen: Paul Drews (1858–1912), von 1901 bis 1908 Ordinarius für Praktische Theologie an der Gießener Ludoviciana, dürfte aus heutiger Perspektive durchaus in den genealogischen Hallen von Religionssoziologie und Kulturanthropologie, von Kulturhermeneutik, Religionspsychologie und Ethnologie ausgestellt werden; seine Studien zur religiösen Volks- und Seelenkunde hält Kubik für derart wegweisend, dass er sie der Vergessenheit, die den Wirrungen des 20. Jh.s geschuldet bleibt, unbedingt zu entreißen sucht: Nach einer übersichtlichen biographischen Skizze als Hintergrundierung des Drewsschen Œuvre rubriziert Kubik jene besonderen Themenfelder, auf denen sich der moderne liberale Theologe einschlägig hat qualifizieren können: als »Kenner der Literatur zu Religionsfragen in der Arbeiterschaft«, als interessiert im Blick auf die »religiöse Volkskunde der bäuerlichen Bevölkerung«, als eigenständig Forschender, was die »Kunde freireligiöser Gemeinden« und das gesamte »Gebiet der evangelischen Kirchenkunde« anbelangt – sowie als dezidiert engagiert bei »Untersuchungen zur Genese gegenwärtiger Volksreligiosität und religiöser Praxis« (7 f.). Genau diese thematischen Segmente sind es letztlich auch, die bei der Sammlung berücksichtigt wurden.
Und dennoch, so erklärt Kubik, sei bei seiner Drews-Edition trotz aller Konzentration auf empirisch-theologische Gesichtspunkte noch eine weitere Grundentscheidung leitend gewesen, nämlich die Herkunft des Programms aus der sozialen Frage ­deut-lich zu machen: Womöglich hatte Drews, dessen religiöse Spurensuche weder auf die Pflege ideologieaffiner Religionsvolkstümelei abzielen noch einer apologetischen Kirchenstrategie dienlich werden wollte, ein Konzept von unten avisiert, das als Alternative zu den bekannteren Lösungsansätzen von oben hätte eingepflegt werden können. Denn allein mit der caritativen Dienstpraxis der Inneren Mission (16 f.) war ja dem »Not leidenden, bislang unverstandenen Volke« kaum beizukommen; vielmehr brauchte es genau jene volksnahe kirchliche Wahrnehmungspraxis, die mit einem Diktum von Volker Drehsen als Interesse an der »soziokulturellen Lebenswelt christlicher Religion« bezeichnet werden könnte – und eben auch in den aktuellen Gesprächsgängen zu Empirischer Reli gionsforschung unübersehbar favorisiert, zumindest jedoch fo­kus­siert wird.
Die Textauswahl folgt den Grundentscheidungen. Kubik, der in seine Edition alle programmatischen Texte aufgenommen hat, ist dabei der Logik gefolgt, dass (1.) »alle materialen Themen der empirischen Religionsforschung, die D. interessierten oder an denen er sich selbst beteiligte«, herangezogen werden sollten und (2.) die methodische Vielfalt, mit der damals gearbeitet wurde, sichtbar gemacht werden müsste. (Dies erklärt den Umstand, dass der Band sozialwissenschaftlich ausgerichtete Studien, historisch zugeschnittene Artikel und weiterführende Rezensionen enthält.) Maßgeblich war schlussendlich, dass – und warum! – Drews seine empirisch orientierte Theologie, namentlich die »Religiöse Volkskunde«, die »Religiöse Seelenkunde« und die »Evangelische Kirchenkunde«, emphatisch der Praktischen Theologie beigeordnet und profilierend zugeschrieben hat.
Einen ersten hilfreichen Eindruck verschaffen sich die Lesenden des empfehlenswerten Bandes bereits bei der Lektüre des kleinen, gleichwohl programmatischen Aufsatzes, den D. im ersten Band der »Hessische[n] Blätter für Volkskunde, ed. A. Strack, Leipzig 1902« der Öffentlichkeit vorgestellt hatte:
»Es gilt nicht nur die Sprache des Volkes genau zu beobachten, oder seine Sitten und Bräuche, seine Freude und sein Leid, seine Poesie und seine Prosa […]. Wir müssen auch die Religion unseres Volkes erforschen. Ist das denn nötig? Ist unser Volk nicht christlich? Lebt es nicht sein religiöses Leben […] in der kirchlichen Form? Wer mit dem Volke in einigermaßen enger Beziehung gestanden hat, der weiß, daß die offizielle kirchliche Anschauung […] noch lange nicht wirklich innerlich angeeignet ist. Vielmehr stehen […] beim schlichten Manne eine mindestens ebenso große Gruppe von Ideen, die das Volk sich selbst geschaffen, selbst gebildet hat und woran die […] Seele des Volkes immer weiter arbeitet. In dieser Religion lebt das Volk in Wahrheit […]. Diese Religion aber gilt es zu erforschen.« (177 f.)
Drews war es mit dieser Absicht bitter ernst, und zwar nicht nur aus Interesse und »Liebe zum Volke«, sondern im kritischen Selbstbewusstsein seiner Fachkultur, seines Theologiebegriffes, seines Kirchenverständnisses, seines Menschenbildes. Die Schriften, die Andreas Kubik zusammengetragen und sorgsam editiert hat, dürften nicht nur manche voreilige Zählung und Bewertung sogenannter Wenden (turns), sondern auch allerlei gängige Debatten um Theorie- und Methodendesign, Sinn, Recht und Grenzen empirischer Theologie mit wiederentdeckten Impulsen bereichern. Wer mag, kann dann im Anschluss an Drews neu deklinieren, dass die Praktische Theologie nicht allein als positive Handlungswissenschaft auf die Gestaltung von Religion innerhalb traditionell-kirchlicher Handlungsfelder zu konzipieren ist, sondern sich quasi ergänzend als religionsphänomenologische Topographie aufzustellen hat: eine Brauchtums- und Gestimmtheitsforschung also, perspektivisch präzisiert in jener Wissenschaftsdisziplin, die der Religion des Menschen auf die Spur kommt, indem sie deskriptiv katalogisiert, hermeneutisch erschließt, normativ kommentiert – und dabei die christentumstheoretisch reflektierten letztinstanzlichen Sinnhorizonte des humanum im Auge behält.
Und Worin erkennt der Bauer des nördlichen oberen Vogelsberges Dasein und Wirken Gottes? Interessierte finden diesen lesenswerten Beitrag zur religiösen Volkskunde Hessens (Hessische Blätter für Volkskunde, Band II, 1903, Heft 1) leider nicht in der Kubik-Edition. Freilich aus gutem Grunde, denn: Drews hatte ihn zwar angeregt, aber niemals selbst verfasst.