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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1266–1267

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Albrecht, Christian

Titel/Untertitel:

Wozu ist die Diakonie fähig? Theologische Deutungen gegenwärtiger Herausforderungen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. VIII, 203 S. Kart. EUR 19,00. ISBN 978-3-16-154904-5.

Rezensent:

Johannes Eurich

Christian Albrecht, Professor für Praktische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, hat nach einem Sammelband zur Frage »Wie viel Pluralität verträgt die Diakonie?« (2013) nun einen Band mit eigenen Beiträgen zur Frage »Wozu ist die Diakonie fähig?« vorgelegt. Darin sind neun im guten Sinne essayistische Reflexionen zu Kernfragen theologischer Deutungen der Diakonie zusammengestellt. Sie versammeln wesentliche Be­reiche der Diakonie, angefangen bei Einwürfen zur Geschichte der Diakonie, die eben nicht nur historisch als Innere Mission be­schrieben, sondern auch theologisch im Blick auf die Identitätsfrage als solche gedeutet wird. Der Sozialmarkt bildet zu Recht die Klammer zu mehreren Themen wie etwa dem Verhältnis der Diakonie zum Kapital, ihren dominanten Refinanzierungsformen oder der Dienstgemeinschaft. Auch bei der Frage diakonischer Compliance oder Öffentlichkeitsarbeit steht er im Hintergrund. Beiträge zum pluralistischen Kontext und zur Zukunftsfähigkeit der Diakonie runden den bunten Strauß ab, wobei jeder Beitrag in sich geschlossen präsentiert wird und in subtiler Argumentation und differenzierender Analytik theologische Deutungen gegenwärtiger diakonischer Fragestellungen immer wieder meisterhaft zum Ausdruck bringt. Das Buch richtet sich vor allem an nicht-theologische Mitarbeitende in und außerhalb der Diakonie und ist in seiner zugänglichen und zugleich präzisen Sprache selbst ein guter Werbeträger für die theologische Deutung.
Inhaltlich besteht seine Stärke in der religionsgeschichtlichen und christentumstheoretischen Sicht auf die Diakonie. Entsprechend wird die Funktion der Theologie nur bedingt in der Begründung der Legitimität oder Praxis der Diakonie gesehen, sondern vielmehr als bestimmte Weise des Denkens, als entsprechend geformtes Bewusstsein der Diakonie verstanden. Dieser Ansatz führt zu erhellenden Einsichten, die zwar theologisch längst z. B. im Blick auf Gesetz und Vertrauen ausgesagt wurden, aber nun in der Applikation auf diakonische Themen wie Compliance zum Überdenken der Erwartungen an die Wirksamkeit solcher Instrumente nötigen. Ganz ähnlich wird die Rede von der Zukunftsfähigkeit der Diakonie entlarvt als Formeln, die zur Begründung des gegenwärtig Gewünschten eingesetzt oder als Gestaltbarkeit der Zukunft überhöht werden. Das wirkt und ist entlastend, lenkt den Blick auf das die Zeiten Überdauernde der Diakonie, macht Mut, sich ohne Scham im Sozialmarkt zu bewegen und unter seinen Bedingungen zu agieren. Wie hilfreich theologisches Denken diakonische Praxis selbst bei auf den ersten Blick weiter entfernten Themen wie Öffentlichkeitsarbeit reflektieren kann, indem der Kern der Diakonie – die Zuwendung zum Menschen um seines Menschseins willen (123) – in den Mittelpunkt der unterschiedlichen Bildertypen gestellt wird, dürfte auch für die Macher der Werbekampagnen Bestätigung wie Impuls enthalten.
Die größten Anfragen an das Buch ergeben sich zunächst im Blick auf seinen Ansatz. In seiner modernitätsaffinen Deutung kommt zuweilen eine Nähe zum aufklärerischen Programm zum Vorschein, die man sich für die Diakonie wünscht, aber in der Argumentation doch etwas überzogen wirkt. So heißt es z. B.: »Bedingungslosigkeit ist also ein zentrales Kennzeichen dieses sozialen Hilfehandelns im Namen des Christentums.« (119) In der ganzen Begründungslinie wird die Würde des Menschen, die auch gegen die eigene Zweckrationalität (der diakonischen Organisation) zu schützen ist, zu Recht ins Zentrum gerückt. Nur: Dies sollte so sein und muss als kritisches Moment festgehalten werden, darf jedoch keinesfalls als Ist-Zustand deklariert werden, der dann auch noch als das Spezifische der Diakonie postuliert wird, um die Diakonie von anderen Anbietern abzusetzen. Diese Figur wird leider immer wieder vorgeführt, um das Prä der Diakonie zu beweisen.
So etwa auf S. 128: »Das unterscheidet die Diakonie dann doch von vielen anderen Einrichtungen der Sozialhilfe. Die Diakonie unterwirft weder sich noch die ihr anvertrauten Menschen sekundären Zweckrationalitäten.« Man liest und reibt sich verwundert die Augen. Agiert die Diakonie also außerhalb der ökonomischen Zwänge? Werden folglich die ihr anvertrauten Menschen durchgängig als Subjekte behandelt und kommen nicht als Objekte organisationaler Routinen ebenso in den Blick? Statt die vorhandenen Spannungen zu bearbeiten, erweist man der Diakonie mit einer solchen Argumentation keinen guten Dienst und stellt sich in eine unglückselige Linie mit Aussagen Uhlhorns und anderer, die immer wieder behauptet haben, dass die Diakonie besser sei als andere Anbieter. Dabei bleibt die historische Erinnerung (Heimkinderdebatte, Missbrauchsfälle etc.), die eben neben dem geglückten Wirken auch Misslungenes zum Vorschein bringt, völlig abgeblendet. Um hier nicht missverstanden zu werden: Keinesfalls soll die menschenrechtszentrierte Arbeit der Diakonie geleugnet oder überhaupt das hohe professionelle Engagement durch diese Einwände geschmälert werden – aber dieses Engagement ist doch den gleichen Herausforderungen ausgesetzt wie das anderer Anbieter und ebenso gibt es auch bei der Diakonie Verfehlungen – wie bei anderen ebenso.
Deshalb hätte etwas mehr Praxisnähe, etwas mehr empirische Sättigung der gesamten Darstellung gutgetan. So wird z. B. bei der Diskussion der Dienstgemeinschaft (der Begriff selbst wird fälschlicherweise in der Nachkriegszeit verortet und seine Ursprünge in der NS-Zeit werden übergangen) davon gesprochen, dass es häufig heiße, »gerade von den kirchlich nicht gebundenen Mitarbeitern der Diakonie müsse […] ein Bekenntnis zur Diakonie verlangt werden können« (71). Leider werden Belege dafür nicht angegeben. Diese Darstellung entspricht auch keineswegs der jüngeren Entwicklung. Verlangt wird von nicht kirchlich gebunden Mitarbeitern Loyalität, aber nicht ein Bekenntnis. Später wird dann doch das Wort »loyal« verwendet und die Rede vom Bekenntnis erscheint so als ein eingeführtes Sprungbrett, um davon die eigene Argumentation abzusetzen. Hier hat sich eine begriffliche Unschärfe und auch Inkonsistenz in der Argumentation eingeschlichen, die auch an anderen Stellen begegnet. Einmal unterwirft sich die Diakonie nicht der Zweckrationalität des Sozialmarkts (128), um dann wieder besser als alle anderen auf dem Sozialmarkt agieren zu müssen, damit sie ihr eigentliches Ziel erreichen kann (138).
Überhaupt hätte das Thema Sozialmarkt einiger einführender Klarstellungen bedurft: So wird bspw. über drei Seiten hinweg (27–29) über die offenen Märkte bei Wichern gesprochen. Wichern erscheint hier als jemand, der »entscheidend für die strategische Überlegenheit seiner Marke am Markt« (28) eintrat und handelte. Unerwähnt bleibt, in welcher Hinsicht hier vom Markt gesprochen werden kann, inwiefern sich die Situation damals von der heute unterscheidet usw. Immerhin wird später zumindest von einem Sozialmarkt gesprochen, aber dessen spezifische Bedingungen, die für die Diakonie nicht anders sind als für andere Anbieter, bleiben unreflektiert. Und dies muss zum Schluss noch einmal deutlich gesagt werden: Auch nichtchristliche Anbieter agieren sozialanwaltschaftlich (150!) und entwickeln neue Konzepte etwa der Themenanwaltschaft, auch andere Anbieter haben eine kritisch-reflexive Tradition, die zum Teil sogar früher als bei der Diakonie etwa den Wandel von der Objekt- zur Subjektorientierung eingeleitet haben, man denke nur an die Disability Studies.
So erhält man mit diesem Buch viele gute Anstöße, wie theologische Reflexionen Zusammenhänge diakonischen Handelns heute deuten und begleiten können; zugleich wünscht man sich statt einer die Diakonie überhöhenden Argumentation etwas mehr Einblicke in den Dritten Sektor, die zu einer angemesseneren Positionierung der Diakonie führen würden.