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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1261–1263

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Krüger, Malte Dominik

Titel/Untertitel:

Das andere Bild Christi. Spätmoderner Protestantismus als kritische Bildreligion.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XV, 618 S. = Dogmatik in der Moderne, 18. Kart. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-154584-9.

Rezensent:

Philipp David

Der notorisch strittige Religionsbegriff, der unabschließbare Streit um Gott und seinen Tod sowie die grundlegende Glaubwürdigkeitskrise der institutionellen Kirchen gehören zu den bleibenden Herausforderungen der Theologie wie die Frage nach ihrer an­schlussfähigen Relevanz für aktuelle Diskurse in Wissenschaft, Technik und Gesellschaft. Es sind Fragen der Ethik und des interkulturellen Zusammenlebens, der Trauma-Diskurs und die von wechselnden Wenden (cultural turns) geprägten kulturwissenschaftlichen Neuorientierungen. Diese Diskurse sind noch im Fluss. Trotzdem können sie konstruktive und kritische Potentiale für die Theologie bergen. Denn neu aufgerufene Paradigmen als zukunftsfähige Leitbegriffe für einen aufgeklärten Protestantismus im 21. Jh. zu erproben, bietet sich dann an, wenn sich mit ihnen der Aufbau einer protestantischen Selbstdeutung mit Hilfe kulturell anschlussfähiger Einsichten plausibel vermitteln und geltungstheoretisch durchführen lässt. So sprechen für eine theologische Aufnahme der sich akademisch noch formierenden Bild theorie die neue Vorherrschaft des Bildmediums (iconic turn) gegenüber Schrift und Sprache und die zentrale Bedeutung des Bildvermögens für die menschliche Sprache, Vernunft, Kultur und Religion.
Diese Einsichten nimmt der Marburger Systematiker Malte Dominik Krüger in seiner 2015 mit dem Christian-Wolff-Preis ausgezeichneten Hallenser Habilitationsschrift von 2014 auf und vertieft sie zu einer zukunftsfähigen Selbstbesinnung des Protestantismus und theologischen Würdigung des Verdachts, Religion sei nur eine Projektion des Menschen. K. deckt die religionstheoretischen Potentiale des Bildbegriffs auf und entfaltet eindrucksvoll das menschliche Bildvermögen als systematischen Leitbegriff für einen spätmodernen Protestantismus als kritische Bildreligion in Zeiten der Krisen seiner Grundsignaturen Schriftlehre und Rechtfertigungslehre. Dabei ist die überraschende Einsicht leitend, dass der Bildbegriff dem Protestantismus vertrauter sei als bislang vermutet: Die Theologie begegne in der Bildthematik dem Anderen ihrer selbst. Diesen gelte es nun aber nicht zurückzuerobern, sondern einen Dialog von Theologie und Bildtheorie anzustoßen, um eine wechselseitige Steigerung des jeweiligen Problembewusstseins in der Gegenwart zu erreichen (307). Diese Sichtweise setze den Pro-testantismus in seiner kirchlich institutionalisierten Gestalt mit seinen lehrmäßigen Besonderheiten und als am Individuum orientiertes gegenwartserschließendes Kulturkonzept gleichermaßen »neu ins Licht« (19). Denn mit dem Bildvermögen sei ein religiöser Zug zum Unbedingten verbunden (485), der in den freiheitseröffnenden und ganzheitsorientierten sowie kontemplationsaffinen und alteritätssensiblen Eigenarten des Bildvermögens gründe, die die un­mittelbare Wirklichkeit distanzieren und ausschnitthaft in einen schlüssigen Zusammenhang bringen könne (508).
Diese These entfaltet K. in vier Teilen, die nach dem Darstellungskriterium der »diagnostischen Rationalität« angeordnet sind: Teil I sucht in drei Hinsichten (Theologische Diagnose des Protes-tantismus; Bildthematik und Gegenwartskultur; Bildtheoretisches Verständnis der Systematischen Theologie) eine Antwort auf die Frage: »Protestantismus als Bildreligion?« Über den Anweg von Symbol- und Metapherntheorie sowie dem bildtheoretischen Forschungsstand in der Theologie wird der Bildbegriff als Schlüsselbegriff erprobt. In Teil II wird die »Bedeutung der Bildthematik« im Blick auf die Anthropologische Funktion, Kulturhistorische Relevanz (W. Benjamin, M. McLuhan, H. Belting) und den Gegenwartsdiagnostischen Charakter der Wende zum Bild (F. Fellmann, W. J. T. Mitchell, G. Boehm, K. Sachs-Hombach) herausgestellt: Nicht das Sprach- oder Vernunftvermögen, sondern das Bildvermögen und die mit ihm verbundene Negationsfähigkeit mache den Menschen zum Menschen (300). Das Bildvermögen sei unumgänglich und grundlegend für die auf ihm aufbauenden und mit ihm verschränkten höheren Vermögen von Sprache und Vernunft. Mit der »Präzisierung des Bildbegriffs« in Teil III verbindet K. die Kritik am uneinigen und unübersichtlichen Bilddiskurs mit seiner konstruktiven ordnenden Hand, um den Bildbegriff zu klären (314) und die vier Ansätze (zeichen-, wahrnehmungs-, imaginations- und negationstheoretischer Bildbegriff) »im Sinn einer sich anreichernden Sequenzierung« (318) aufeinander zu beziehen. In Teil IV werden Fluchtlinien des »Spätmodernen Protestantismus als kritische Bildreligion« in drei miteinander verschränkten Schritten (Bildtheoretisches Verständnis von Religion; Bildtheoretisches Verständnis der christlichen Religion; Bildtheoretisches Verständnis des Protes-tantismus) gezeichnet. Im Christentum werde die Bestimmung, Religion sei die Selbstwahrnehmung des menschlichen Bildvermögens im Horizont des Unbedingten (474), verwirklicht, wenn Jesus von Nazareth definitiv mit den Ostererscheinungen zum Bild Gottes wird (489–514). Der Protestantismus lege die christliche Osterbotschaft in der Rechtfertigungslehre als Deutung innerer Bildlichkeit im Sinn kontrafaktischer Freiheit und in der Schriftlehre als Deutung äußerer Bildlichkeit im Sinn inszenierter und im Got-tesdienst zu inszenierender Medialität (534–536) aus. Die Pointe dieser bildtheoretischen Deutung der traditionellen protestan-tischen Prinzipien liege nun darin, dass sich die christliche Religion im Protestantismus für den Menschen letztlich als Selbstverhältnis darstellt, das ebenso kritisch wie konstruktiv ist. Dieses führe den Menschen im Licht der ihm als Horizont entzogenen und ihn dennoch erhellenden Positivität Gottes zur kontrafaktischen Selbstannahme und Freiheit und dränge zur entsprechenden Weltgestaltung (537), die nicht auf die institutionelle Kirchlichkeit festgelegt, sondern auf kreative Bildungsprozesse des Einzelnen aus ist (541).
Mit einem »Fazit und Ausblick« endet jeder Teil. Eine »Zusammenfassende Betrachtung« bündelt konzentriert den Ertrag. Für die Drucklegung wurde bis Frühjahr 2016 greifbare Literatur eingearbeitet. Ein 50-seitiges Literaturverzeichnis sowie ein Personen- und Sachregister beschließen das Buch. Der Leser ist durch einen ausgiebig gepflegten und mit Verstehenshilfen für den Haupttext versehenen Anmerkungsapparat auf die einschlägigen Referenzen verwiesen. Dass K. durchgehend geschickt wörtliche Zitate vermeidet und dadurch wesentlich zum Lese- und Verstehensfluss dieser über 600-seitigen intellektuell höchst anregenden Arbeit beiträgt, ist ausdrücklich zu würdigen.
Die Studie bietet eine dezidiert systematisch-theologische Entfaltung der vier aus dem Bildvermögen folgenden Momente Ganzheit, Andersheit, Distanz und Freiheit. Sie besticht durch einen klaren Zugriff auf die einschlägigen theologischen und bildtheoretischen Debatten und deren Vernetzungsmöglichkeiten.
K. gelingt es nicht nur, die den klassischen Protestantis-musdeutungen eingeschriebene Wort-Verhaftetheit kritisch-konstruktiv zu irritieren und so den Protestantismus als kritische Bildreligion zu plausibilisieren, sondern auch aus den Tiefen der eigenen Tradition einen geltungstheoretischen Vorschlag zu un­terbreiten, der sich aus dem Feld theologie- und kirchengeschichtlicher Studien im Reformationsjubiläumsjahr heraushebt und zeigt: Der Protestantismus ist gegenwärtig immer noch eine denkbar gute Option. Man darf gespannt sein, wie K. diese bildtheoretischen Grundierungen in Dogmatik und Ethik durchführen wird.