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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1254–1255

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wehofsits, Anna

Titel/Untertitel:

Anthropologie und Moral. Affekte, Leidenschaften und Mitgefühl in Kants Ethik.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XII, 164 S. = Quellen und Studien zur Philosophie, 127. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-11-045553-3.

Rezensent:

Martin Hailer

Immanuel Kants Ethik steht in dem Ruf, gänzlich auf die transzendentale Grundlegung fokussiert zu sein. Dem widerspricht jedoch der Teil von Kants Werk, der den Realbedingungen des Handelns gewidmet ist. In der deutschsprachigen Kant-Forschung wurde er teils psychologisierend interpretiert (Böhme/ Böhme, Das Andere der Vernunft, 1983) und erst spät systematisch erschlossen (Brandt, Kommentar zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1999). Dass »Kant’s Impure Ethics« (Louden, 2000) jedoch zur transzendentalen Grundlegung in einem angebbaren Verhältnis steht, wird erst in der letzten Zeit verstärkt bearbeitet (5, Anm. 9). Das Buch von Anna Wehofsits, die 2014 an der FU Berlin eingereichte Dissertation der jetzt in München lehrenden Vfn., übernimmt diese Aufgabe für die im Untertitel genannten Emotionen .
Kants Ethik, so die These, besteht aus zwei Projekten, zum einen aus der apriorischen Moralbegründung und zum anderen aus dem »anwendungsorientierte[n] Projekt einer moralischen Anthropologie« (1). Letzterer, die nicht systematisch ausgearbeitet wurde und aus einer Vielzahl von Einzelbeobachtungen zusammengezogen werden muss, gilt die Aufmerksamkeit der Studie. Das Projekt der moralischen Anthropologie ist vor allem durch zwei Elemente charakterisiert: Zum einen partizipiert Kant am kreativen Impetus der Aufklärung und sagt, dass der Mensch das ist, was er aus sich macht. Die Transformation des Selbst ist möglich (Exkurs zur Willensfreiheitsproblematik, 24–26) und moralisch geboten. Zum an­deren ist Anthropologie eine pragmatische Disziplin: Sie ist von bloßer Physiologie des Menschen programmatisch zu unterscheiden und sie setzt – u. a. durch die Fülle der Beispiele in der »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, auch wenn diese teils kritisch zu sehen sind (6) – auf die aktive Mitwirkung und Selbsterforschung derer, die sie hören oder lesen.
Die Vfn. systematisiert die Menge der Hinweise in Hindernisse (Teil I) und Hilfsmittel (Teil II) für die moralische Anthropologie.
Die Hindernisse sind Affekte und Leidenschaften. Kant kennt durchaus positive Wirkung von Affekten, etwa die, dass sie aus der Trägheit reißen (53). Sie sollen nicht verschwinden, aber so kontrolliert werden, dass sie vernunftgeleiteten Entscheidungen nicht im Wege stehen. Anders die Leidenschaften: Sie gelten als böse (58), denn sie sind dauerhafte Neigungen, die mehrfach verstellenden Charakter haben: So vereinseitigen sie die Handlungsbereitschaft eines Menschen, auch führen sie ihn zu Entscheidungen, die selbst den Zielen der regierenden Leidenschaft widersprechen (der systematische Ort des »Vernünftelns«). In jedem Fall haben sie den kritikablen Effekt, eine nicht existierende Rationalität von Handlungsentschlüsseln vorzugaukeln (67–69.92–94).
Die Hilfsmittel der moralischen Anthropologie sind der moralische Schein (rechtes Handeln ohne rechte Gesinnung, welches aber zur rechten Gesinnung führen kann), Charakterbildung und Mitgefühl. Der Charakter ist das vorzügliche Objekt der Selbstbildung des Menschen. Besonders aus der Religionsschrift stammt die Aufforderung, dass nur eine Revolution des inneren Prinzips hin zur moralischen Lebensführung akzeptabel ist, auch wenn das mit einer zeitlich allmählichen Charakterbildung einhergeht (117). Diese zeitliche Allmählichkeit zeigt sich besonders deutlich beim Mitgefühl. Die Vfn. macht eine Entwicklung vom emotionalen Einswerden mit einer anderen Person über das unbeteiligte Nachempfinden ihrer Gefühlslage bis zu der Position aus, nach der Empathie für den Mitempfindenden handlungsleitend wird. Liegt die letzte Stufe vor, haben wir es mit einer »moralisch motivierte[n] Transformation einer natürlichen Veranlagung« zu tun (150). Das ist das wünschenswerte Ziel der moralischen Anthropologie als »aktives Selbstverhältnis« (154).
Zwei Rückfragen: a) Die bemerkenswert konstruktive Darstellung erfolgt synchron, zur möglichen Entwicklung findet sich nur ein einziger Satz (151). Da gerade die Ethik Kants auch in der kritischen Phase seines Werks Wandlungen unterliegt, könnte dies zu kurz gesprungen sein. Vergleichbares gilt für die theologischen Prägungen, denen die Vfn. nicht nachgeht (78.152 u. ö.). b) Die beanspruchte Plausibilität über die Kant-Rekonstruktion hinaus (5 f.) wird im Wesentlichen durch die Weiterschreibung kantischer Termini angezielt. Die Theorien der Gefühle und Affekte haben jedoch mindestens durch die psychoanalytische und die phänomenologische Forschung wesentlichen Zugewinn erhalten, die bis auf eine Erwähnung (67) und wenige Beispiele im Rahmen der Lehre von den Leidenschaften keine Rolle spielen. Die Knappheit der Studie zeigt hier ihre Nachteile. Der Konstruktivität der Kant-Interpretation an sich tut dies jedoch keinen Abbruch.