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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1250–1252

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kenny, Anthony

Titel/Untertitel:

Geschichte der abendländischen Philosophie. Aus d. Engl. v. M. Weltecke. Sonderausgabe (3., durchges. Aufl.). 4 Bde.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016. Insg. 1412 S. m. Abb. u. Ktn. Kart. EUR 69,95. ISBN 978-3-534-26787-3.

Rezensent:

Tony Pacyna

Anthony Kenny ist bekannt für sein umfangreiches Wissen der Philosophiegeschichte. Ordiniert 1955 als katholischer Priester, promovierte K. 1961 in Philosophie. K.s akademische Karriere wurde bis 1965 von verschiedenen Tätigkeiten als Priester begleitet. Be­trachtet man sein Schriftenverzeichnis, zeigt sich, dass sich K. eher systematisch den Fragen der Philosophiegeschichte widmet. Zu seinen Forschungsinteressen zählen neben der Metaphysik Handlungstheorien, aber auch Religionsphilosophie und Ethik. Historisch forscht er von Aristoteles zu Descartes, auch Wittgenstein, vor allem aber Thomas von Aquin.
Bereits 1994 fungierte K. als Herausgeber der Oxford History of Western Philosophy, an der bekannte britische Philosophen teilnahmen. Möglicherweise war dieses Buch die Grundlage für die Geschichte der abendländischen Philosophie, denn jene handelte auf knapp 430 Seiten die kanonischen Hauptvertreter der europäischen Philosophiegeschichte klassisch chronologisch ab. Zehn Jahre später, 2004 also, veröffentlichte K. erstmals A New History of Western Philosophy in vier Bänden.
Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft veröffentlichte nun die 3. unveränderte Auflage des Klassikers von 2004: Geschichte der abendländischen Philosophie. K. führt »etwas anders« in die Philosophiegeschichte des europäischen Abendlandes ein, als man es ebendort gewohnt ist. Es ist nicht der Umfang der vierbändigen Ge­schichte der abendländischen Philosophie, sondern die Art und Weise der Darstellung. Wie chronologisch unsere Denkgewohnheiten sind, wird einem klar, sobald man das Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes aufschlägt: Nach einer gelungenen Einführung verläuft allein das erste Kapitel »Die Anfänge: Von Pythagoras bis Platon« chronologisch, nur um mit Aristoteles die anachronistische Struktur seiner Philosophiegeschichte einzuführen. Dabei führt K. die zeitlichen Abschnitte der Bände (Antike, Mittelalter, Moderne, Neuzeit) immer wieder mit kurzen Biographien der jeweiligen Vertreter ein und entfaltet dann systematisch die zentralen Begriffe der Philosophie in ihrer Zeit.
Für K. ist die Beschäftigung mit Philosophie in ihrer Zeit der Versuch, »Menschen und Gesellschaft vergangener Epochen« verstehen zu können. Wir lesen die Werke vergangener Philosophen, um das »intellektuelle Klima« der Zeit zu erfassen. Über das Studium philosophischer Texte vergangener Zeiten erhält man K. zufolge also nicht nur Erkenntnis über die logische Struktur der Texte und deren Inhalte. Vielmehr zeigen sie ebenfalls Elemente ihrer Entstehung. In der Art des Geschriebenen liegen gleichermaßen politische, soziale, kulturelle etc. Komponenten, die sich aus dem Text herauslesen lassen und unsere Erkenntnis »erweitern«. Diesen »historischen« Gründen, philosophische Texte zu studieren, stellt K. philosophische Gründe entgegen, die gegenwärtige Fragen in einen historischen Kontext stellen. Das (historische) Studium der Philosophie ermöglicht demnach eine systematische Unterstützung aktueller philosophisch relevanter Fragen. Auch bei aktuellen Fragen hilft ein historisches Bewusstsein.
Das klingt, als gäbe es in der Philosophie keine Entwicklung, keinen Fortschritt. Hat sich denn gar nichts geändert in den letzten 2000 Jahren? Anders als bspw. in den Naturwissenschaften gibt es K. zufolge keinen Fortschritt in der Philosophie, der durch »Kontinuität, Kooperation und die Erweiterung eines vorgegebenen Wissensbestandes geprägt ist«. Philosophie hat es also nicht mit einer kontinuierlichen Entwicklung zu tun. Philosophie ist für K. daher keine Wissenschaft im strengen Sinn (der Naturwissenschaften). Philosophie unterliegt keiner Entwicklung. Es gibt kein Wissen, das sich erweitern ließe. Neue Wahrheiten über die Welt werden nicht gefunden. Deshalb können historische Philosophien nicht nur gegenwärtige Probleme lösen helfen, sondern auch über das gegenwärtige Studium historischer Texte lässt sich die Vergangenheit besser – oder anders – verstehen.
K. verlässt an dieser Stelle das Refugium der abendländischen Philosophie: »Der Philosoph ist nicht im Besitz von Wissen, das anderen verwehrt ist.« (Band 1, 11) Philosophie ist niemandes Besitz allein. Es gibt keinen standardisierten Kanon der Philosophie, den man kennen muss, wenn man auf dem »neusten Stand« sein will. »In der Philosophie geht es nicht um Wissen, sondern um Verstehen« (ebd.). Philosophische Probleme sind demnach nicht reduzierbar auf Europa. Es sind Fragen der Menschheit, die keines re­gional begrenzten Territoriums oder Kanons bedürfen, um relevante Lösungsansätze gegenwärtiger Fragen zu bieten.
Für K. ist Philosophie eben deshalb keine Wissenschaft, sondern eine Kunst: »Ein Wissenszweig bleibt philosophisch, solange seine Begriffe ungeklärt und seine Methoden umstritten sind« (ebd.). Es ist eine Kunst, Problembewältigungsstrategien auch vergangener Zeiten zu erkennen und zu verstehen, indem man historische Lö­sungsansätze auf gegenwärtige philosophische Fragen anwendet und über das Studium historischer Ansätze Zugang zur Geschichte erhält. Philosophie als Kunst geht es um die Strukturierung von Wissen. Sie ist die »Hebamme der Wissenschaften« (ebd.), von der sich im Verlauf der Zeit zahlreiche Wissenschaften abspalteten (e. g. Mathematik, Theologie, Psychologie etc., 11–13). Da­durch, so K., ermöglicht die Philosophie nicht eine quantitative Zunahme an Wissen, dem regelmäßig neues Wissen hinzugefügt wird, sondern eine qualitative Vertiefung des Verständnisses be­stimmter philosophischer Probleme. Am Beispiel der aristotelischen Philosophie zeigt K., wie und wann sich eine Theologie von der Philosophie abspaltete. Wies Aristoteles der Theologie noch einen ehrenvollen Platz zu, zählen dessen Ausführungen heute eher zur Religionsphilosophie denn zur Theologie. Erst Thomas von Aquin forderte im 13. Jh. eine klare Trennung zwischen einer natürlichen und einer Offenbarungstheologie. Mit der Verbreitung einer eigenständ igen Theologie gegenüber der Philosophie wurde Wissen aber nicht einfach erweitert, indem theologisches Wissen auf philosophischem aufbaut. Vielmehr wurden die bereits bei Aristoteles (und auch schon zuvor) gestellten theologischen Fragen im Rahmen der Philosophie in einer eigenständigen Wissenschaft, der Theologie, vertieft. Philosophie ist für K. also durch und durch hermeneutisch: Philosophie als Kunst zielt auf ein tieferes Verständnis der Geschichte im Lesen der Texte und re-interpretieren in der Gegenwart. Philosophieren heißt verstehen, indem man Wissen strukturiert und von intellektueller Verwirrung befreit. Dabei wird K. nicht müde, auch vor den Gefahren zu warnen: bei einer rein historischen Betrachtung philosophischer Werke bleiben diese unterbestimmt in der oberflächlichen Darstellung; eine rein philosophische Betrachtung der Texte, ohne Be­rücksichtigung des historischen Kontextes ihrer Entstehung, lässt philosophische Texte ebenfalls unterbestimmt, weil Inhalte dann nur vor ihrem zeitgenössischen Hintergrund wiedergegeben werden.
K. nun zielt in seiner Geschichte der abendländischen Philosophie auf die Synthese der sowohl historischen als auch philosophischen Betrachtungsweisen. K.s systematische Behandlung philosophischer Probleme kann durchaus verwirren, weil er anachronistisch verfährt. Diese Verwirrungen sind allerdings auch ein Hinweis auf die Konditionierung unserer Lesegewohnheiten: wir sind eher vertraut mit chronologischen Abhandlungen bestimmter Probleme. K.s Entscheidung ist für ein transparentes Lesevergnügen nicht immer die beste Entscheidung. Ein chronologischer Verlauf der Philosophen und die systematische Bearbeitung als Unterkapitel wären auch denkbar. K.s Geschichte der abendländischen Philosophie ist daher eine gute Ergänzung zu anderen, chronologisch aufgearbeiteten Philosophiegeschichten (e. g. Bertrand Russells Philosophie des Abendlandes etc.). Aber sie ist noch viel mehr als das: Sie ist eine gelungene und umfangreiche Einführung für alle, die Philosophie nicht nur an Biographien und Namen festmachen. So bietet K.s Aufteilung die Möglichkeit, philosophische Probleme systematisch, also ohne jedwede Berücksichtigung eines chronologischen Verlaufs der Philosophen, zu besprechen. K.s diachrone Bearbeitung ermöglicht dadurch die von ihm versprochene Vertiefung philosophischer Probleme und deshalb auch eine Anwendungsmöglichkeit in gegenwärtigen Debatten.