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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1247–1250

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Jaspers, Karl. Hrsg. v. K. Salamun.

Titel/Untertitel:

Vom Ursprung und Ziel der Geschichte.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2016. XXXII, 284 S. = Karl Jaspers Gesamtausgabe, I/10. Lw. EUR 84,00. ISBN 978-3-7965-3429-4.

Rezensent:

Andreas Urs Sommer

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Jaspers, Karl: Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung. Hrsg. v. B. Weidmann. Basel: Schwabe Verlag 2016. XCIX, 625 S. = Karl Jaspers Gesamtausgabe, I/13. Lw. EUR 148,00. ISBN 978-3-7965-3431-7.
Jaspers, Karl: Schriften zur Universitätsidee. Hrsg. v. O. Immel. Basel: Schwabe Verlag 2015. 508 S. = Karl Jaspers Gesamtausgabe, I/21. Lw. EUR 108,00. ISBN 978-3-7965-3423-2.


Der jüngere Freiburger Kollege, mit dem sich der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers einst eine philosophische Waffengenossenschaft hatte vorstellen können, stiehlt ihm heute die Show: Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht die überregionalen Feuilletons von einer neuen, angeblich skandalösen Enthüllung aus Martin Heideggers Nachlasskatakomben berichten. In der zeitgenössischen Wahrnehmung Heidegger damals mindestens ebenbürtig, steht Jaspers heute ziemlich im Schatten: Kaum ein Philosophie-Erstsemester weiß seinen Namen zu buchstabieren, kaum eine Re­dakteurin wittert hier Aufregungspotential. Jaspers ist der Inbegriff intellektueller Seriosität, und als solcher erhält er jetzt auch die Ausgabe, die dieser Rolle entspricht: Während die Heidegger-Ausgabe fest in der Hand der Familie und mit ihr verbandelter Editoren bleibt, die im Rahmen einer genialen PR-Strategie tröpfchenweise vermeintlich Empörendes an die Öffentlichkeit weiterreichen (welche wiederum sich gerne genüsslich gruseln lässt), sonst aber die unpublizierten Archivalien unter Verschluss halten, stehen mit der Göttinger und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, die in Kooperation mit der Basler Karl Jaspers-Stiftung die Karl Jaspers Gesamtausgabe verantworten, öffentliche Wissenschaftsinstitutionen ersten Ranges für den vielleicht exemplarischsten Philosophen der alten Bundesrepublik ein.
50 Bände wird die Edition, die 2030 abgeschlossen sein soll, voraussichtlich umfassen: Die erste Abteilung mit 27 Bänden widmet sich den von Jaspers veröffentlichten Schriften; elf weitere Bände sind in der zweiten Abteilung den postum veröffentlichten sowie bislang unpublizierten Nachlasstexten vorbehalten, zwölf Bände schließlich als dritte Abteilung dem Briefwechsel. Die Herausgabe der publizierten Werke orientiert sich an den Fassungen letzter Hand, die Jaspers selbst zum Druck gegeben hat; Textveränderungen zu früheren Auflagen werden im Apparat dokumentiert, so­weit nicht stark voneinander abweichende Ausgaben einzeln abgedruckt werden. So geschieht dies im Fall der hochschulpolitischen Programmschrift Die Idee der Universität mit den Versionen von 1923, 1946 und 1961 in dem von Oliver Immel herausgegebenen Band I/21 – ein Verfahren, das freilich den Vergleich der verschiedenen Fassungen nicht unbedingt erleichtert.
Mit drei Bänden gibt die Karl Jaspers Gesamtausgabe jetzt ihre erste Visitenkarte ab: Neben den von Immel verantworteten Schriften zur Universitätsidee steht Jaspers’ geschichtsphilosophische Schrift Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, deren Herausgabe Kurt Salamun übernommen hat, sowie das religionsphilosophische Hauptwerk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, betreut von Bernd Weidmann. Obwohl die Bände nach demselben Schema aufgebaut sind – auf die Herausgebereinleitung und editorische Hinweise folgen die zu edierenden Texte und danach Sacherläuterungen in Gestalt von Endnoten –, zeigen sich doch recht unterschiedliche Herangehensweisen: Salamun absolviert seine Einleitung auf 20 Seiten und verzichtet weitgehend darauf, Jaspers in den geschichtsphilosophischen Diskurszusammenhang einzubetten, so dass der Leser nicht viel mehr daraus mitnehmen kann, als dass die Achsenzeitthese auch abgelöst von Jaspers einigen Erfolg verbuchen konnte. In den Sacherläuterungen geht der Herausgeber oft nicht über das hinaus, was ein durchschnittlicher Lexikon- oder Wikipedia-Artikel hergibt. An manchen Stellen sind die Angaben irreführend, etwa da, wo behauptet wird, Bos-suet sei »wegen der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte […] für die Entwicklung der Geschichtsphilosophie bedeutsam« (279): Kirchengeschichte im engeren, modernen Sinn ist gerade nicht Gegenstand des Discours sur l’histoire universelle. Oder der Leser hätte, wenn ihn Jaspers schon auf Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten aufmerksam macht (251), genauere Auskünfte verdient als die Lebensdaten dieses »deutsche[n] Privatgelehrten« (281 – muss man Philosophie-Professor sein, um als Philosoph zu gelten?) samt Hauptwerktitel (überraschenderweise Philosophie des Unbewussten …), nämlich vor allem, was Jaspers von dieser zentralen Philosophengestalt aus dem letzten Drittel des 19. Jh.s gelesen, allenfalls gelernt und übernommen hat. Dazu steht Jaspers’ Bibliothek in Oldenburg der Forschung ja zur Verfügung.
Anders stellen sich demgegenüber die Erschließungsdichte und Durchdringungskraft der beiden weiteren Bände dar: Dort sind die Einleitungen eigenständige Forschungsabhandlungen zum Thema; die Sacherläuterungen bieten den Lesern umfassende Hilfestellungen. Immel zeichnet nach, wie Jaspers seit seinen ersten universitätspolitischen Einlassungen 1923 bis zu Äußerungen im Kontext der Universitätsreformdebatten der sechziger Jahre einerseits Ideen einer neuhumanistischen Geistesaristokratie treu geblieben ist, andererseits immer wieder philosophisch kreativ auf die (hochschul)politischen Zeitläufte zu reagieren verstand. Die klassische deutsche Universitätsidee profilierte Jaspers 1923 an den Humboldtschen Vorgaben, bezog sie aber doch auf die völlig veränderte Zeitsituation der Weimarer Republik. In ihr hoffte er noch immer, ein sokratisches Modell der Kommunikation als universitäre Norm etablieren zu können, ohne die Berufs- und die Forschungsorientierung der »Bildungsschule, die den Zweck im Menschen sieht« (XIX.39), ganz aufzuopfern. Die starke Zunahme der Studentenzahlen bringe wachsende Ansprüche der Gesellschaft an die Universität mit sich, die mit Nivellierungstendenzen einhergingen. Aufschlussreich ist, dass Jaspers in den erst 1989 edierten »Thesen zur Frage der Hochschulerneuerung« 1933 dem »Führerprinzip« weitgehende Zugeständnisse machte, zugleich aber der wissenschaftlichen Freiheit ganz breiten Raum gewährte. Da dieser Text von Jaspers nie veröffentlicht wurde, fehlt er zwar im anzuzeigenden Band (er wird wohl in der Nachlassedition nachgereicht werden), wird aber von Immel in der Einleitung eingehend gewürdigt: Dass er bei Nazigrößen (einschließlich Rektor Heidegger) kaum Realisierungs-chancen gehabt haben dürfte, versteht sich fast von selbst.
Nach 1945 hingegen fand Jaspers weithin Gehör, auch wenn Kritiker wie Jürgen Habermas weder an die anhaltende persönlichkeitsbildende Kraft der Universität glaubten, noch sie reaktivieren wollten. Jaspers selbst versuchte, die Politik noch entschiedener als je zuvor aus den Hörsälen fernzuhalten; er gab sich schon 1945 überzeugt, dass »der Kern der Universität in der Verborgenheit standgehalten« (73) habe. Vernehmlicher wandte sich Jaspers nun gegen die Verschulung des universitären Betriebes, die in seinen Augen den Menschen für den Totalitarismus empfänglich mache. Sehr lesenswert sind dabei auch randständige Beiträge im Edi-tionsteil, beispielsweise eine Stellungnahme, die Jaspers 1967 in der Basler Studentenzeitschrift kolibri über den Charakter der Vorlesung als Lehrform und über ihr Verfügbarmachen in gedruckter Form ab­gab: »Wo es der Mühe wert ist, sich mit den Vorlesungen abzugeben, sind sie unersetzlich; wo es sich nicht lohnt, sollen sie auch nicht gedruckt werden.« (458) Die Stellenkommentare er­schließen wichtige Zeit- und Bildungskontexte im Detail, ohne darüber doch geschwätzig zu werden. Den Lesern die Handhabung erleichtern würde es freilich, wenn die Erläuterungen jeweils das zu besprechende Lemma wiederholten.
Ein Umstand, der allen drei zu besprechenden Bänden gemeinsam ist, erschwert das Arbeiten mit den Bänden unnötig – zumal, solange sie noch nicht in digitaler Form verfügbar sind: Auf ein Sachregister wird ganz verzichtet, das Namenregister verzeichnet jeweils nur die von Jaspers ausdrücklich genannten Personen, und mitunter nicht einmal diese: Am Ende der Idee der Universität von 1923 bespricht Jaspers Paul de Lagardes Deutsche Schriften, die für die kulturpolitische Diskussion seit dem Kaiserreich von zentraler Bedeutung waren (68). Im Register vermisst man Lagarde ebenso wie die anderen auf der fraglichen Seite diskutierten Autoren. Beim Philosophischen Glauben angesichts der Offenbarung, den Bernd Weidmann überaus kundig erschließt, macht sich die Registeraskese auch dadurch bemerkbar, dass Jaspers anscheinend eine ganze Reihe von Gesprächspartnern namentlich aus der (liberalen) Theologie verschweigt – etwa Albert Schweitzer, Martin Werner oder Fritz Buri –, die sich entsprechend kaum im Register wiederfinden, obwohl Weidmann das Verhältnis zu ihnen in seiner Einleitung ausgiebig bespricht. Gerade die Auseinandersetzung mit Buri, der Jaspers einerseits zum »Lehrer der Kirche« ernannte, andererseits die »Gefahr eines Schwebenbleibens im bloß Möglichen« (LXXV) ebenso wie Jaspers’ harsche Kirchen- und Theologiekritik bemängelte, zeigt exemplarisch die Schwierigkeiten des philosophisch-theologischen Dialogs, den Jaspers mit seinem Buch doch anstoßen wollte. Weidmann rekonstruiert nicht nur den Motivationshintergrund von Jaspers’ Ausgreifen ins Umgreifende, sondern analysiert scharfsinnig die Möglichkeiten und Grenzen positiv- existenzphilosophischer Religionsphilosophie im Kontext einer säkularen Welt.
Die drei Bände legen den eindrücklichen Grundstein nicht nur für eine neue Beschäftigung mit Karl Jaspers, sondern mit wesentlichen Kapiteln der Denkgeschichte des 20. Jh.s. Sie verdienen weit mehr Aufmerksamkeit als die Brosamen von Todtnauberg.