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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1245–1247

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hösle, Vittorio, u. Fernando Suárez Müller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Idealismus heute. Aktuelle Perspektiven und neue Impulse.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016. 312 S. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-534-26739-2.

Rezensent:

Holden Kelm

Ansatz- und Zielpunkt der Beiträge dieses Sammelbandes ist die als Forschungsrichtung vorgestellte philosophische Position des objektiven Idealismus. Damit ist der Balanceakt verbunden, so­wohl die historischen Entstehungskontexte dieser Forschungsrichtung in der klassischen deutschen Philosophie zu berücksichtigen als auch ihre Aktualität, Relevanz und Geltung im philosophischen Diskurs der Gegenwart darzulegen. Für das Gelingen dieses Balanceaktes bürgen vor allem die einleitenden Beiträge der Bandherausgeber Vittorio Hösle (Notre Dame, USA) und Fernando Suárez Müller (University for Humanistic Studies, Niederlande), die kenntnisreich und pointiert aus ideengeschichtlicher und systematischer Perspektive in den objektiven Idealismus einführen. Dabei wird schnell ersichtlich, dass es sich im Kern um das philosophische Programm einer sich selbst rechtfertigenden Letztbegründung des menschlichen Wissens handelt, das Suárez Müller wie folgt präzisiert: »In einem spezifischen Sinn heißt objektiver Idealismus aber diejenige philosophische Richtung, die durch absolute Selbstreflexion den Anspruch erhebt, die eigene ontologische Position (ohne Rest) rationell zu begründen und einheitlich zu entfalten und also nicht einfach dogmatisch […] vorauszusetzen.« (24) Der objektive Idealismus sei in diesem »spezifischen Sinne auch absoluter Idealismus zu nennen«, insofern er »die Existenz von weltkonstituierenden geistigen Gehalten« und eine »transzendentale Methodologie der radikalen Selbstreflexion und rationalen Rekonstruktion apriorischer Inhalte« voraussetzt (24). Dieses Programm erfordert somit eine fundamentale Logik der transzendentalen Kategorien der Wirklichkeit, die nicht nur für den Selbst- und Weltbezug des Subjekts, sondern auch für alle formalen Logiken und besonderen Wissenschaften grundlegend und unhintergehbar ist. Beste Beispiele dieser Forschungsrichtung seien Platons Ideenlehre und Hegels System, wenngleich in Letzterem eine transzendentale Begründung der Kategorie der »Intersubjektivität« fehle, die in Husserls transzendentaler Logik ansatzweise eingearbeitet sei (als eine »monadologische Intersubjektivität«, 20). Zur klaren Abgrenzung des objektiven Idealismus von konkurrierenden Forschungsrichtungen werden die wesentlichen von ihnen angeführt und in ihrer Unzulänglichkeit dargelegt. Dabei wird der Skeptizismus jeglicher Couleur als selbstwidersprüchlich und der erkenntnistheoretische oder »epistemologische Idealismus« (21) dahingehend kritisiert, dass – ähnlich wie im subjektiven Idealismus Kantischer Prägung – ein unerkennbares »Ding an sich« vorausgesetzt wird, womit eine Beschränkung der Gültigkeit der logischen Kategorien des Denkens auf die subjektive Reflexion einhergehe und Wahrheit nicht erkannt werden könne. Die konzeptuelle Stärke und Relevanz des objektiven Idealismus stellt Hösle in Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Spielarten des Naturalismus und Kulturalismus (Konstruktivismus) heraus. Er demonstriert den einseitigen Reduktionismus und die Widersprüchlichkeit der einander ausschließenden Forschungsrichtungen aufgrund einer Argumentation, die auf die Intelligibilität des Seins und dessen grundsätzliche begriffliche Erkennbarkeit ausgeht (40 ff.). Hösles einschlägige Arbeiten zu Hegel und dem objektiven Idealismus werden in fast allen Beiträgen herangezogen und bilden in einigen Fällen den Zugang für ein tiefergehendes Verständnis.
Eine Gliederung des Bandes in einzelne Abteilungen, die durchaus denkbar wäre – umspannen die Beiträge doch ein Spektrum von Logik und Metaphysik über Naturphilosophie und Ethik bis hin zu christlicher Religion, Hermeneutik und Ästhetik – ist aufgrund ihrer unzweideutigen Titel und zweckmäßigen Zusammenstellung keineswegs misslich. Der durchgehende Bezug der Beiträge auf aktuelle Probleme der philosophischen Forschung und der Versuch, diese mittels objektiv idealistischer Denkfiguren einer Lösung zuzuführen, gewährleistet eine erkenntnisfördernde Lektüre und bietet eine Einführung in die unterschiedlichen Facetten dieser Forschungsrichtung.
Markus Enders etwa erörtert die Stärken und Schwächen der gegenwärtigen Realismus-Antirealismus Debatte in Bezug auf die spekulativ-materialistische Kritik des Korrelationismus von Quentin Meillassoux und den Neuen Realismus von Gabriel Markus. Dieter Wandschneider skizziert das Potential von Hegels Lehre von Raum, Zeit, Ort und Licht für eine naturphilosophische Erklärung der speziellen Relativitätstheorie Einsteins. Hegels Theorie der Analysis und Synthesis erörtert Klaus J. Schmidt im Ausgang von Kants Theorie der Mathematik und des Raumes sowie im Hinblick auf die Entwicklung einer nicht-euklidischen Geometrie. Christian Tewes stellt das Potential des objektiven Idealismus für die Klärung und Auflösung des in der Philosophie des Geistes und der Neurobiologie virulenten Leib-Seele-Dualismus vor. Indem er sich am philosophiehistorischen Aufhebungsmodell Hösles mit den Stu-fen Objektivität, Subjektivität und Intersubjektivität orientiert, schlägt Andreas Spahn ein Modell der Geschichte der Hermeneutik vor, das in einer objektiv idealistischen Hermeneutik kulminiert, welche den Aporien des Gadamerschen Wahrheitsbegriffs zu entgehen vermag.
Wenn es in einzelnen Beiträgen um die systematische Begründung der Kategorien der Logik als ontologische und konstitutive Strukturen der Wirklichkeit geht (z. B. Meixner, 76; Braßel, 134 f.; Suárez Müller, 24 f.) und die Frage aufkommt, auf welche Weise diese Kategorien – unabhängig von subjektiven Erkenntnis- und Willensakten – existieren, dann tritt das Desiderat der konkreten Ge­stalt einer solchen fundamentalen Logik, der Erhellung ihrer be­grifflichen Voraussetzungen und ihrer Stellung zu Kants Kritik der theoretischen Vernunft hervor. Denn während der häufigen Rekurse auf Hegels Logik wird auf die in der Forschung nach wie vor diskutierte Frage, ob sie eine kritische Darstellung der Metaphysik ist und inwiefern sie dem Programm der Kantischen Vernunftkritik verpflichtet bleibt, nicht näher eingegangen. Einen Ansatz zu einer solchen fundamentalen Logik stellt Suárez Müller in Bezug auf Hegels Lehre des Seins vor: Weil er darin an der Bestimmung der Vielheit aus der Einheit an Kants physischer Richtung festhalte, entwickle er eine »mo­nadologia physica« statt in eine intersubjektive Monadologie überzugehen, die bereits auf diesem Seinsniveau eine transzendentale Begründung einer idealen Diskursgemeinschaft ge­währleisten könnte (242.245). Es wäre von Interesse, diesen Ansatz weiterzuführen und zu überprüfen, welche Entwicklung Hegels Logik nehmen könnte, wenn sie an dieser Stelle kategorial umdisponiert werden würde. Indessen wird hierbei eine Zielrichtung dieses Projekts sichtbar: In kritischer Absetzung von der Transzendentalpragmatik vor allem Apelscher und Habermas’scher Prägung und in Rekurs auf eine transzendentale Logik im Stile Hegels und Husserls wird eine ontologische Fundierung der Kategorie der In­tersubjektivität ins Auge gefasst. Diese soll es ermöglichen, eine Ethik des wechselseitigen dialogischen Austausches zu gewährleisten, die hypothetische, psychologische und soziologische Ansätze, die als kontingent betrachtet werden, hinreichend ersetzen können (245).
Ein quellenkritisches Manko dieses Bandes sei abschließend erwähnt: Die einleitende editorische Anmerkung verrät eine leider häufig anzutreffende Nachlässigkeit bezüglich der Quellenlage: Hegel, der in fast jedem Beitrag eine Rolle spielt, wird nicht nach der aktuellen historisch-kritischen Ausgabe der Gesammelten Werke (bis auf den einen Fall einer Studienausgabe der Seinslogik), sondern nach der in mehreren Hinsichten unzulänglichen Werke-Ausgabe von Moldenhauer und Michel zitiert.