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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1243–1245

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dienstbeck, Stefan

Titel/Untertitel:

Die Theologie der Stoa.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. X, 419 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 173. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-042836-0.

Rezensent:

Maximilian Forschner

Bei dieser Publikation handelt es sich um eine Arbeit, die 2014 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU München im Fach Systematische Theologie als Habilitationsschrift angenommen wurde. Stefan Dienstbeck leitet in systematischer theologischer Absicht eine »Gesamtperspektive auf das stoische System« mit dem »Ziel einer Herausarbeitung des Kernanliegens stoischer Philosophie«, und dies unter Inkaufnahme »einer Reduktion von Komplexität« (8), um so »eine Konzentration auf die Zentralpunkte« der stoischen Lehre zu ermöglichen (9). Die theologische Perspektive sieht er nicht zuletzt deshalb gerechtfertigt, weil die Stoa, so seine Überzeugung, in ihrer Gotteslehre das eigene System reflektiert und auf seine Stimmigkeit hin überprüft (vgl. 13); und dies umso mehr, als dieses Nachzeichnen und Zusammenführen systematischer Linien von der bisherigen Stoaforschung nicht hinreichend geleistet wurde.
Den Erfolg seiner interpretativen Rekonstruktion verspricht sich D. von einem Zusammenspiel von systematischem Zugriff und konsequenter Quellenanalyse (vgl. 17). Bekanntlich ist die Quellenlage zur Philosophie der Stoa recht fragmentarisch und vielfach prekär. Das Nachzeichnen eines überzeugenden Gesamtbilds ihres Systems bedürfe, so D., neben vorgängiger Quellenarbeit auch des philosophisch-theologischen ›Einfühlens‹ in ihr Systemkonzept (vgl. 17), da eine »Rekonstruktion des stoischen Sys­tems auf Basis konsequenter Quellenanalyse und -auswertung […] schlechterdings unmöglich (ist)« (16). Obgleich D. bei den Quellentexten, die er für seine Rekonstruktion heranzieht, den Stand philologischer Stoaforschung ganz offensichtlich kennt, aufnimmt und auch sorgfältig beachtet, ist sein gesamtes Verfahren nicht an philologischer Interpretation orientiert, sondern an seinem systematischen Interesse ausgerichtet. Dies macht, um es vorweg zu sagen, die Stärke ebenso wie die Schwäche seiner Arbeit aus: die Stärke, weil nur so Strukturen, Verbindungen, auch Brüche und Lücken im System sichtbar werden sowie Beachtung und Behandlung finden, die eine auf den Quellenbestand fixierte analytisch-hermeneutische Philologie nicht sieht oder einfach nur konstatieren muss, die Schwäche, weil sein interpretatives Vorgehen zum Teil doch erheblich über das textlich Vorfindliche und Belegbare hinausgeht. Zu­dem dürften seine systematischen Anleihen bei philosophischen Gedankenfiguren des Deutschen Idealismus (insbesondere Schellingscher Provenienz) (vgl. 92, Anm. 214; 267.269.322.331 f.) manchem analytisch geschulten Leser nicht recht verständlich erscheinen und/oder gar eine skeptisch-defensive Reaktion hervorrufen.
Einen breiten Raum nimmt D.s Interpretation bzw. Rekonstruktion der stoischen Prinzipienlehre, des, wie er es nennt, »Prinzipduals von poioûn und paschon« ein (vor allem 46–93). Dies ist insofern wohlbegründet, als die Stoa alles Wirkliche aus zwei (als körperlich gedachten) Prinzipien, nämlich passivem, unbestimmtem Stoff (hylē) und aktivem, qualifizierendem Geist (logos) konstituiert sein lässt und das tätige Prinzip mit Gott (theos) identifiziert. D. betont zu Recht, dass beide Prinzipien untrennbar aufeinander verwiesen sind und so gesehen eine bipolare Einheit bilden und dass durch diese fundamentale Einheit allem ausdifferenziert Wirklichen göttliche Vernunft und göttlicher Wille und damit eine teleologische Ausrichtung eingezeichnet sind. Wenn er indessen die beiden Prinzipien »durch ein drittes, systematisch als erstes zu bezeichnendes Prinzip« bedingt sein lässt (58) und in diesem die Einheit des Differenten und die Teleologie von allem begründet sieht (vgl. 84.322), so geht dieser die gesamte Studie beherrschende Gedanke, wie er selbst wiederholt einräumt, über den Quellenbefund hinaus, wenngleich er verständlicher machen kann, wie die Stoa einerseits den Kosmos als Inbegriff alles Wirklichen mit Gott identifizieren und andererseits mit der alles gestaltenden Kraft im Kosmos gleichsetzen kann. Zudem würde mit ihm die alte Diskussionsfrage über den stoischen Monismus oder Dualismus über die Figur eines Monismus gelöst, der eine »Identität von Identität und Differenz« begründet (322; vgl. 84–93).
Eine eingehende, auch innovative Akzente setzende Analyse widmet D. ferner der stoischen Oikeiosislehre (vor allem 177–202). Auch sie soll »zur Fundierung der systematischen Argumentation« dienen (vgl. 149). Die zum Teil kontrovers geführte Forschungsdiskussion betrifft hier die Frage, ob im Rahmen der von der Stoa gezeichneten (idealen) moralischen Entwicklung des Menschen »an einem gewissen Punkt im Reifungsprozess der Mensch selbst seine eigene Entwicklung (übernimmt) oder […] die Naturvorgabe bestimmend auch für den zur vollen Rationalität gelangten Menschen (bleibt)« (183). Zur Debatte steht da (im Hintergrund), wie stark die Stoa den Gedanken sittlicher Autonomie des Menschen macht oder wie sehr sie einem ethischen Naturalismus das Wort redet. Nun ist im Rahmen stoischer System-Prämissen wohl klar, dass das »oder« der genannten Frage kein ausschließendes Oder sein kann: Auch wenn der Mensch im Status der Mündigkeit autonomos und autexousios ist, d. h. sein Selbst- und Weltverständnis und seine Lebensführung der eigenen Einsicht und eigenen Entscheidung verdankt, so beruht dies doch auf natural-teleologischen Vorgaben seiner Natur, die ihn zudem in der Phase der Reifung anweisen, die Vollendung seiner selbst im völligen Gleichklang mit der göttlichen Allnatur zu sehen und zu suchen. D. sieht dies wohl genau so (vgl. 189 f.). Was er dagegen m. E. nicht deutlich genug hervorhebt oder betonen möchte, ist die markante Zäsur, die den Status der Mündigkeit von dem der Unmündigkeit bzw. der verantwortlichen Torheit abgrenzt.
Animalisches ebenso wie törichtes menschliches Leben ist in »Mechanismen« der Selbst- und Arterhaltung bzw. -steigerung ge­bunden und verfangen. Für den (idealiter) mündig Gewordenen haben »wie in einem Umschlag« die Güter der Selbst- und Arterhaltung ihren unbedingten Wert verloren. Er erfährt nun das eigene Vernünftigsein, das im absoluten Gleichklang mit der Vernunft der Allnatur besteht, als das ihm Eigene und Zugeeignete. Es ist nicht so, dass sich nur die (vorpropositionale oder propositionale) »Wahrnehmungsart des Zugeeigneten« ändert (so 200, Anm. 509); vielmehr erfährt er nun etwas, was er zuvor nicht erfahren hat: das absolut Gute. Es ist in der Tat so, dass sich die uneingeschränkte Liebe zu diesem absolut Guten im Zuge dieser Erfahrung aufgrund seiner vorgängigen natürlichen Wesensbestimmung »von selbst« einstellt. Doch diese Erfahrung zu machen hat zur Voraussetzung, dass er sein naturgemäß-vernünftiges Verhalten bis zur äußersten Konsequenz gesteigert und über dieses Verhalten entsprechend reflektiert hat (vgl. Cicero, De finibus III, 20–21). Zudem blickt er auf den ordo rerum agendarum nicht nur im Sinne bereits selbst erbrachter Leistungen, sondern auch im Sinne einer noch (selbst) zu erfüllenden Aufgabe (Cicero, ebd.; auch D., etwa 224). Ob man so gesehen bei der völligen Ausrichtung des stoischen Weisen auf die göttliche Vernunft und den göttlichen Willen einigermaßen passivisch von »einem Sich-harmonisieren-Lassen der Individualvernunft von der Allvernunft« und dem »Gewährenlassen der Allgemeinstruktur«, schließlich von »einer Selbstrelativierung ihrer selbst im Anblick des Wohers der Vernunft« (354), von einer im Sinne religiöser Freiheit verstandenen »Selbstbescheidung eigener Vernunfttätigkeit« (400) sprechen und das Konzept der Einstellung stoischer Tugend »mit demjenigen des protestantischen Glaubensverständnisses« in Analogie setzen kann (so 40 f.; vgl. auch 370), erscheint mir doch etwas zweifelhaft. Es möchte wohl sein, dass der Apostel Paulus das Konzept der »Weisheit der Welt« (1Kor 1,20) erheblich anders verstanden hat.
Trotz dieses meines diesbezüglichen Zweifels sei die Lektüre dieses Buches mit Nachdruck empfohlen. Es enthält eine Menge treffender Ausführungen (etwa zur stoischen Ursachen-, Sympa-theia- und Weltverbrennungslehre) und zwingt mit seinem hohen systematischen Anspruch zu einer eingehenden Reflexion über das Prinzipiengefüge der stoischen Philosophie, von der die vielfach in Details sich ergehende philologische Stoaforschung eher abzusehen geneigt ist.