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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1240–1241

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lukas-Klein, Sonja

Titel/Untertitel:

Das ist (christliche) Religion. Zur Konstruktion von Judentum, Katholizismus und Protestantismus in Adolf von Harnacks Vorlesungen über »Das Wesen des Christentums«.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2014. II, 201 S. = Forum Christen und Juden, 13. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-643-12841-6.

Rezensent:

Christian Nottmeier

In der Frage nach dem Verhältnis von Protestantismus und Judentum um 1900 wird spätestens seit Christian Wieses Studie über »Wissenschaft des Judentums und protestantischer Theologie im wilhelminischen Deutschland« immer wieder Adolf von Harnacks Darstellung des Judentums zur Zeit Jesu in seinen Vorlesungen über das »Wesen des Christentums« genannt. Wieses kritische Darstellung, die sich sowohl auf Harnacks Bild des Judentums wie sein Nichteingehen auf die Reaktionen jüdischer Gelehrter bezieht, ist von Kurt Nowak mit Skepsis aufgenommen worden. In den letzten Jahren ist das Thema ausführlich durch weitere Beiträge von Kinzig, Mühlenberg, Nottmeier und Surall untersucht worden. So un­terschiedlich die Ergebnisse in Sachen Antijudaismus sind, besteht darin Konsens, dass Harnack jede Form von rassischem Antisemitismus nicht nur grundsätzlich abgelehnt, sondern dies auch wiederholt öffentlich geäußert hat. Das war auch für sein politisches Engagement wichtig.
Die Hildesheimer Dissertation von Sonja Lukas-Klein weicht von diesem Gesamtbild mit der These ab, Harnacks »christliche Identitätskonstruktion« beruhe auf »Exklusivität und Abwertung« (171), so dass seine Theologie sich als nicht »alteritätsfähig« (ebd.) erweise. Diese weitreichende These versucht die Vfn. am Beispiel der Darstellung von Judentum, Katholizismus und (konservativem) Protestantismus (vgl. 26–40 und 70–80) sowie mit einem Überblick zu Harnacks »wissenschaftlicher Programmatik« (41–62 und 116–131) zu belegen. Diese Vorgehensweise ist allerdings schon insofern methodisch schwierig, als die genannten Darstellungen in der Wesensschrift in der Konzeption wie der Gesamtkonzeption der Wesensschrift auf verschiedenen Ebenen liegen. Die historische Skizze des Judentums der Zeit Jesu erfolgt im Rahmen der Voraussetzungen der Verkündigung Jesu und zeichnet ein höchst ambivalentes Bild des Judentums um die Zeitenwende. Die Darstellungen von römischem Katholizismus, Orthodoxie und Protestantismus hingegen entstammen dem zweiten Hauptteil der Vorlesung, der konfessionskundlich angelegt ist und die verschiedenen Entwicklungslinien der christlichen Religion bis in die Gegenwart nachzeichnet. Während Harnacks Darstellung der Orthodoxie weitgehend negativ ausfällt, bietet sich beim Katholizismus ein deutlich differenzierteres Bild. Davon erfährt man bei der Vfn. allerdings nichts. Es ist zudem ein grundlegendes Missverständnis, wenn sie die Darstellungen von Judentum, Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus gleichsam als Stufenmodell interpretiert (34). Über den diskurstheoretischen Kontext der Debattenlagen, in denen Harnack sich – gerade mit Blick auf den Katholizismus – bewegte, aber auch die intensive Rezeption, die er hier erfuhr, gibt es keine Angaben, was bei einer so weitreichenden These aber unverzichtbar wäre.
Das eigentliche Interesse der Vfn. gilt Harnacks Darstellung des Judentums. Hier müsste allerdings zunächst der Nachweis geführt werden, dass Harnack mit dieser historischen Darstellung das Ju­dentum seiner Gegenwart im Blick gehabt hätte. Auch die These, »Harnacks jüdische Fremdheitskonstruktion« sei von »antisemi-tischen Normalformen« geprägt und präsentiere »antisemitische Vorurteile als wissenschaftliche Ergebnisse« (146), wird nicht belegt. Das ist auch nicht möglich, da Harnack den für den modernen An-tisemitismus grundlegenden Rassebegriff ablehnte. Die Vfn. muss sich deshalb mit einer gewagten Konstruktion behelfen, indem sie behauptet, diese Funktion übernehme der Religionsbegriff (147), was mit keinem einzigen Textbeleg oder substantiellen Argument untermauert wird.
Harnacks öffentliche und unmissverständliche Kritik am Rassegedanken, am Antisemitismus und an ihrer gefährlichen politischen Instrumentalisierung wird nicht erwähnt. Das verhindert ein ausgewogenes und differenziertes Bild. Ein Blick ins Literaturverzeichnis erklärt warum: Die entsprechenden Texte wurden offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen, denn hier werden neben der Wesensschrift lediglich das Marcion-Buch und Harnacks Vorwort zu seiner Übersetzung von Hatchs »Gesellschaftsverfassung der christlichen Kirche im Alterthum« genannt. Auf so schmaler Textbasis lassen sich aber weder Harnacks Bild des Judentums noch sein Geschichtsbild rekonstruieren, zumal die Vfn. die konkrete Textarbeit immer wieder durch breite Referate unterschiedlichster Forschungsdebatten unterbricht. Exemplarisch sei dafür das Kapitel »Kolonialismus und Imperialismus« (148–165) genannt, das – wiederum ohne wirkliche Textbelege – auf den Vorwurf hinausläuft, Harnacks Wesensschrift habe zumindest indirekt mit ihren Argumentationsmustern »gewalttätigen Vorherrschaftsansprüchen« Vorschub geleistet (164).
Um nicht missverstanden zu werden: Über Harnacks Bild des Judentums zur Zeit Jesu kann kontrovers diskutiert werden. Dazu bedarf es freilich präziser systematischer Rekonstruktion, ausreichender Kenntnisse der jeweiligen Diskurse und nicht zuletzt der Auswertung aller relevanten Quellen. Alles andere ist der Bedeutung des Themas nicht angemessen. Dazu leistet dieses Buch aber lei-der keinen Beitrag. Wie sensibel Harnack mit dem Verhältnis von Christen und Juden umgehen konnte, zeigt seine Grabrede auf seinen jüdischen Freund Eduard Arnhold, die von allen christlichen Vereinnahmungsversuchen frei ist. Insofern war – bei allen Schranken – Harnacks Theologie »alteritätsfähiger«, als die Vfn. es darstellt.