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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1238–1240

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Kohler, Daniela [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Nathanaél. Johann Caspar Lavater im poetischen Gespräch mit Goethe über das wahre Christentum. Einleitung und Textedition.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2016. 351 S. Kart. EUR 53,00. ISBN 978-3-290-17856-7.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Johann Caspar Lavaters Schrift Nathanaél. Oder, die eben so gewisse, als unerweisliche Göttlichkeit des Christenthums erschien 1786. Mit ihr suchte Lavater abermals seine Auffassung, die Überzeugung von der Göttlichkeit Jesu Christi lasse sich nicht rational begründen, sondern nur durch intuitive Einfühlung verifizieren, dem breiten Publikum nahezubringen und damit die neologische Bevorzugung des christologischen vere homo zu konterkarieren. Zu solchem Zweck porträtierte Lavater mehr als 50 in den vier neutestamentlichen Evangelien auftretende Personen, die in einer eigenen Beziehung zu Jesus von Nazareth standen. Das Werk setzt mit dem titelgebenden Nathanael (Joh 1,45–51) ein; alle anderen Figuren werden sodann in alphabetischer Abfolge aufgerufen. Gelegentlich unterbricht Lavater die weithin dominierende wortgetreue oder paraphrasierende Wiedergabe der biblischen Texte mit erklärenden Passagen, welche die erzählerischen Kontexte erläutern, sich divinatorisch in die Empfindungen der biblischen Figuren einfühlen oder in Gestalt suggestiv-rhetorischer Fragen die unbezweifelbare Evidenz der biblischen Zeugnisse zu untermauern suchen.
Lavaters Nathanaél ist von ermüdender Breite, der Duktus er­scheint durchweg erbaulich, oft aufbrausend empfindsam; auf wissenschaftliche Ansprüche oder Auseinandersetzungen verzichtet der Verfasser vollständig, einen »intellektuellen Tiefgang«, den der Zürcher Kirchenhistoriker Peter Opitz in seinem Vorwort durch das von Lavater geübte »Sprachpathos« (4) verhüllt wähnt, vermochte der Rezensent jedenfalls nicht zu entdecken.
Das Werk erlebte keine weitere Auflage, sein Autor kam später kaum einmal darauf zurück, die postumen Lavater-Werkausgaben boten allenfalls Auszüge, und in der von Lavaters Schwiegersohn Georg Gessner besorgten Edition ist der Nathanaél nicht einmal erwähnt. Die einzige derzeit nachweisbare Rezension, die in Friedrich Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek publiziert wurde, kam zu einem vernichtenden Urteil: Man müsse das Buch »für ein leeres Geschwätz halten, mithin diese Apologie des Christenthums für die elendeste erklären, die je geschrieben worden ist« (68).
Was den Nathanaél gleichwohl interessant und die von Daniela Kohler vorbildlich besorgte Edition so verdienstvoll macht, ist nicht zuletzt die biographische und geistesgeschichtliche Bedeutung der Schrift. Denn spätestens mit ihr ging die Freundschaft zwischen Lavater und Goethe nach mehr als zehn Jahren des intensivs-ten Austausches endgültig zu Bruch. Auch wenn der Name des Weimarer Dichterfürsten nirgends erwähnt wird, waren die Widmung »An einen Nathanaél, Dessen Stunde noch nicht gekommen ist« (78) sowie die einleitende Zuschrift (»Edler! Trugloser! Lieber! Lieber!« [79 f.]) ganz zweifellos dem Olympier zugedacht. Dass Lavater Goethes Namen diskret verschwieg, erklärte er als Bußleistung für die Widmungsvorrede an Moses Mendelssohn, die er 17 Jahre zuvor seiner Übersetzung von Charles Bonnets Palingénésie philosophique vorangestellt und damit einen handfesten öffentlichen Skandal ausgelöst hatte (vgl. 79 f.). Die mustergültig akkurate Edition des Nathanaél wahrt die Orthographie, Interpunktion und diakritischen Zeichen der Editio princeps diplomatisch getreu und beschränkt sich darüber hinaus auf den Nachweis biblischer Zitate und Anspielungen sowie einzelne Wort- und Sacherklärungen. Weitergehende gelehrte Erhellungen finden sich in der als »Wissenschaftlicher Kommentar« (7–70) ausgewiesenen Einleitung der Herausgeberin.
Sie bietet zunächst, vertraut mit dem neuesten Forschungsstand, eine sachhaltig komprimierte Darstellung von »Lavaters Christologie im Kontext der Theologie seiner Zeit« (10–20). Dabei wird insbesondere die starke ursprüngliche Prägung durch Johann Joachim Spalding sowie die wachsende theologische, näherhin christologische, zumal im Briefwechsel dokumentierte Entfernung von ihm elaboriert. Lavaters Abstandsnahme von Spalding, aber auch von Johann Salomo Semler, Wilhelm Abraham Teller und anderen Protagonisten der Neologie korrespondierte mit einer zunehmenden Sympathie, die er Johann Gottfried Herder und insbesondere dessen enthusiastischem Anti-Spalding-Pamphlet An Prediger (1774) entgegenbrachte. Bedenkt man indessen die tiefe biblische Verwurzelung der neologischen Predigt- und Reflexionsarbeit sowie die von ihr angestoßene wissenschaftliche, insbesondere philologisch-textkritische Bibelforschung, wird man mit der Herausgeberin, wenn sie in der zu Lavater zeitgenössischen Theologie einen »Bedeutungsverlust des Neuen Testaments« (21) konstatiert, freundlich zu diskutieren geneigt sein.
Im Zentrum der herausgeberischen Einleitung steht die bündige, kompetente, den aktuellen Forschungsstand souverän einspielende Rekonstruktion der zwischen Lavater und Goethe waltenden Konstellation. Den Ausgangspunkt markierte Goethes 1773 anonym publizierter Pastorbrief, den Lavater sogleich mit heller Begeisterung rezipierte, weil er in dem Verfasser einen seelen- und glaubensverwandten Christen meinte gefunden zu haben. Allerdings lag solcher Freude ein fatales Missverständnis zugrunde, denn was Lavater für ein authentisches christlich-religiöses Bekenntnis ansah, war in Wirklichkeit das fiktive literarische Spiel eines Autors, der sich durchaus nicht mit den von ihm auf den Plan gerufenen Figuren zu identifizieren gedachte.
Alsbald trat Lavater mit Goethe, dessen Verfasserschaft ihm der Verleger offenbart hatte, in brieflichen Kontakt, sein Schreiben wurde erwidert, es kam zu anhaltender, beiderseits anregender Korrespondenz und bald zu persönlichen Begegnungen zwischen den ungleichen Geistern. Während sich Lavater dabei, bestärkt durch die von ihm bewundernd wahrgenommene »empfindsame Naturerfahrung und sinnlich-affektive Auffassungsweise« (7), fortwährend der Hoffnung hingab, »den bei Goethe aus tiefster Überzeugung vermuteten wahrhaftig christlichen Keim ›erwecken‹ zu können« (38), vermochte dieser die von Lavater kultivierte schwärmerische Religiosität so lange zu tolerieren, wie ihm der eigene »Individualglaube« (37) nicht streitig gemacht wurde. Auf missionarische Zudringlichkeit reagierte Goethe gereizt; sein oft zitiertes, Lavater entgegengeschleudertes Wort »Ich bin kein Christ« (38) ist aus solcher Erregung geboren.
In klaren Konturen umreißt Kohler diese besondere Freundschaftsgeschichte bis hin zu dem 1786 von Goethe vollzogenen Bruch. Dass er die auf ihn gemünzte Zueignung und Zielrichtung des Nathanaél wohl verstanden hat, zeigt beispielsweise ein undatierter Briefentwurf, der ein brüskes Kündigungsschreiben dargestellt hätte: »Du kommst mit deiner Saalbaderey an den unrechten, ich bin kein Nathanael […], also pack dich Sophist« (54). Nicht weniger instruktiv sind dann auch die von der Herausgeberin aufgezeigten »Aspekte der Interpretation« (55–62) und die von ihr um­sichtig vorgenommene literaturgeschichtliche Kontextualisierung des Nathanaél (62–70).
Die Edition wird durch ausführliche Register der biblischen Gestalten und der Bibelstellen (343–351) hilfreich erschlossen; zu der historischen Einleitung gibt es ein (nicht ganz vollständiges) Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister. Die von Daniela Kohler besorgte kommentierte Textausgabe bereichert die wissenschaftliche Erkundung der im Zeitalter der Aufklärung vielfältig betriebenen Theologie um ein theologie- und geistesgeschichtlich gleichermaßen interessantes Dokument und ist auch für die Lava ter gewidmete Spezialforschung von erheblichem, innovationsträchtigem Wert. So mag es durchaus erstaunen, dass der tief ernsthafte Zürcher Gotteskünder offenbar gelegentlich auch der Selbstironie fähig war. Jedenfalls berichtete er über den Besuch, den ihm Spaldings Sohn Georg Ludwig während seiner Kavalierstour durch Europa im Sommer 1785 abstattete, in dessen Berliner Elternhaus: »Wir verstanden uns sehr, ohne dass Sie fürchten dürfen, dass ich ihn in meine verrufene Schwärmerey hineingezogen« (64).