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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1234–1236

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Hübinger, Gangolf

Titel/Untertitel:

Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf.

Verlag:

Göttingen: Wallstein Verlag 2016. 277 S. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-8353-1797-0.

Rezensent:

Konrad Hammann

»Die ganze Welt wird anders«, konstatiert Ernst Troeltsch im Fe­bruar 1919 im ersten seiner zeitdiagnostischen Artikel, die er unter dem Pseudonym »Spectator« in der Zeitschrift »Kunstwart« veröffentlicht. Mit dieser Feststellung bezeichnet der protestantische Theologe nicht nur den Ort, von dem aus er selbst als »Spectator« die politische und soziale Neuordnung Deutschlands 1919–1922 in den Blick nimmt, die Umbruchsituation seiner Gegenwart nämlich. Troeltsch markiert mit der Beobachtung, die ganze Welt werde anders, auch eine Grundvoraussetzung für die Entstehung eines spezifischen Intellektuellentypus, des »engagierten Beobachters«, wie Gangolf Hübinger ihn im Anschluss an eine Begriffsprägung des französischen Soziologen Raymond Aron nennt.
Der engagierte Beobachter beteiligt sich an den maßgeblichen Diskursen seiner Zeit, ohne sich einer bestimmten Ideologie oder einem Kollektiv verpflichtet zu fühlen. Auf der Basis wissenschaftlich ausgewiesener historisch-sozialer Erkenntnis reflektiert er die einander widerstreitenden Ordnungskonzepte, sozialen Vorstellungen und Interessen, wie die »pluralisierte und demokratisierte Moderne« (14) sie seit 1880 hervorbringt. Er versucht dabei zumal, in seiner Person die Spannungen auszuhalten und auszutragen, die die Haltungen »des Analytikers, des Interpreten und des Handelnden« (16) auslösen. Diesem Leitmotiv des engagierten Beobachters ordnet H. in dem vorliegenden Band elf Einzelstudien zu, von denen eine aus dem Jahr 1994 stammt, während die übrigen zehn erstmals zwischen 2004 und 2015 publiziert wurden. H. subsumiert diese Aufsätze nunmehr drei übergreifenden Kapiteln, die chronologisch wie auch sachlich von »Aufbrüchen« der »Wissenschaftlichen Selbstbeobachtung um 1900« über »Spannungen« – dem Max Weber und Ernst Troeltsch gewidmeten zentralen Teil dieser Studien – bis hin zu »Perspektiven« der »Zeitdiagnostik um 2000« führen.
Die in der ersten Abteilung unter »Aufbrüche« verbuchten Studien weisen unterschiedliche Bezugsgrade zum Leitmotiv des Bandes auf. Ein Vergleich zwischen Beatrice Webb und Jane Addams, den beiden Protagonistinnen einer Einfriedung des Kapitalismus durch sozialreformerische Ordnungsmaßnahmen in Großbritannien und in den USA, weist deutliche Parallelen auf hinsichtlich der Zielsetzung, »auf der Basis empirischer Sozialforschung und historischer Vergleiche« (63) zu tragfähigen ordnungspolitischen Konzepten zu gelangen. Die knappe, aber spannende Rekonstruktion der Beziehungen zwischen kultur- und naturwissenschaftlichen Ansätzen im späten 19. und frühen 20. Jh. fördert frappierende Einsichten zur Bedeutung evolutionistischen Geschichtsdenkens für diverse politische Ordnungsmodelle zutage. Die Analyse der Verwendung des Säkularisierungsbegriffes in der neuzeitlichen Kulturgeschichte rückt zu Recht Max Weber und Ernst Troeltsch als die beiden Denker in den Fokus, die der wechselseitigen Beeinflussung religiöser Ideen und wirtschaftlicher Entwicklungen höchste Aufmerksamkeit widmeten.
H. beschränkt sich aber nicht auf die reine Ideengeschichte, sondern zeigt darüber hinaus, wie Ideen durch Medien und Verlage in intellektuelle Diskurse eingespeist werden. In diesem Fall tut er dies anhand des 1904 von Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber begründeten »Archivs für Sozialwissenschaft und Sozial-politik«, einer innovativen Zeitschrift, in der sich vor dem Ersten Weltkrieg »kreative Randfiguren des akademischen Establishments im Kaiserreich« (26) zusammenfanden und in der beispielsweise Ernst Troeltsch 1908–1912 erstmals seine Darstellung der »Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen« veröffentlichte. H. untermauert seine Thesen zu der durch dieses Organ geförderten internationalen Wissenszirkulation durch die präzi-sen Absatzzahlen des »Archivs«, wie sie sich aus dem Archiv des Verlages Mohr Siebeck ermitteln lassen (vgl. 31).
Im zentralen Teil des Buches lotet H. in vier Beiträgen die »Spannungen« aus, die Max Weber und Ernst Troeltsch als engagierte Beobachter der Moderne sowohl analysierten als auch auszuhalten bzw. zu überwinden suchten. In den beiden Aufsätzen zu Max Weber, die allerdings etliche inhaltliche Dubletten aufweisen, vermag H. ein prägnantes Profil der Themen und Denkansätze des Na­tionalökonomen, Soziologen und Historikers zu zeichnen. Deutlich wird der konfliktorientierte Zugang Webers zu den politischen und sozialen Problemen der kulturellen Achsenzeit um 1900, ebenso markant tritt seine universalgeschichtliche Perspektive auf die Moderne, den Kapitalismus und den Staat, die Geschichte und die Lebensordnungen mit der permanenten Spannung zwischen den gegenläufigen Rationalitäten des modernen Staates und des mo­dernen Kapitalismus (vgl. 128) hervor.
In den beiden Studien zu Ernst Troeltsch hebt H. den konsensorientierten Ansatz des Religionsphilosophen bei der Beschreibung und Aufhebung der Aporien der modernen Kultur hervor. Troeltschs Unternehmen, im Rückgriff auf die deutsche idealistische Tradition und die angelsächsische Aufklärung sowie im Konsens mit den westlichen, industriell bestimmten Zivilisationen eine übergreifende Kultursynthese anzustreben, erfährt eine eindringliche Würdigung, die wiederum anhand der genauen Absatzzahlen der im Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) erschienenen Schriften Troeltschs wertvolle Hinweise zur Verbreitung seiner Gedanken enthält (vgl. 148). Ähnlich bietet auch der Aufsatz über Troeltsch als engagierten Beobachter zumal der Revolution, des Bürgerkriegs und der demokratischen Neuordnung zwischen 1919 und 1922 präzise Daten zu den Auflagen- und Absatzzahlen seiner »Spectator-Briefe«. In diesen zeitdiagnostischen Voten erweist sich der evangelische Theologe als Anwalt der demokratischen Neuordnung Deutschlands, der das liberale Bürgertum für die in der frühen Weimarer Ära im Entstehen begriffene demokratische Kultur zu gewinnen suchte.
Die »Perspektiven« im letzten Teil des Buches geben Beispiele der »Zeitdiagnostik um 2000«. Zunächst zeichnet H. ein Porträt des amerikanischen Historikers Fritz Stern, dessen ausgeprägtes Interesse an der Verbindung von historischer Erkenntnis und Verantwortung der Gegenwart in seinem biographischen wie auch zeitgeschichtlichen Kontext präzise verortet wird. Dabei stellt sich im Spiegel seiner diversen Ehrungen seit den 1980er Jahren heraus, dass niemand »so zum Gradmesser für die Selbstbeobachtung der deutschen Gesellschaft« (209) wurde wie Stern. Anhand des kritischen Dialoges zwischen Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas ü ber zwei alternative »Varianten der europäischen Aufklärung« (215) kann der Leser sodann unterschiedliche Kant-Lektüren in deren Auswirkungen auf Demokratiemodelle und konkret in gegensätzlichen Reaktionen auf den politischen Umbruch 1989/90 verfolgen. In der letzten Studie »Über die Aufgaben des Historikers« fasst H. den Ertrag der Einzelanalysen dergestalt zusammen, dass er ebenso eindringlich wie differenziert den dem Historiker abverlangten Balanceakt beschreibt, in zwei Welten leben zu müssen, nämlich in der Gegenwart und in der Vergangenheit. Diese Aufgabenbeschreibung enthält wie der Band insgesamt Anregungen, die die Arbeit des mit der Theologie- und Wissenschaftsgeschichte befassten Kirchenhistorikers nachhaltig zu fördern vermögen.