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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1232–1234

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Gerber, Simon

Titel/Untertitel:

Schleiermachers Kirchengeschichte.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. XII, 524 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 177. Lw. EUR 109,00. ISBN 978-3-16-154079-0.

Rezensent:

Andreas Kubik

Mit diesem Werk hat sich Simon Gerber in Berlin habilitiert, aber es ist zugleich viel mehr als eine Habilitationsschrift. G. ist seit 2000 Mitglied der Schleiermacher-Forschungsstelle in Berlin. Als solches, als kompetenter Editor und auf unzähligen Symposien und Kongressen zu Schleiermacher gestählter Forscher kann er ohne Übertreibung zu den besten Kennern des Schleiermacherschen Ge­samtwerks überhaupt gezählt werden. Das anzuzeigende Buch stellt die reife Summe einer mehr als 15-jährigen intensiven Be­schäftigung G.s mit Schleiermacher dar.
Eigentlich bekommt man wenigstens zwei Bücher in einem. G. will zum einen die Stellung der Kirchengeschichte, ihre Konstruktionsprinzipien und ihre Struktur im Wissenschaftssystem Schleiermachers erhellen. Zum Zweiten will er diesen als Kirchengeschichtler neu lesen, d. h. die von G. selbst kritisch edierten Vorlesungen Schleiermachers zur Kirchengeschichte auf ihren theologischen und historischen Ertrag hin durchmustern und danach fragen, wie sich die theologischen und systematischen Grundannahmen des großen Berliners in der materialen Durchführung niederschlagen. Neben diesen beiden Anliegen, die mustergültig eingelöst werden, fällt gleichsam nebenbei noch sehr viel Lehrreiches zu angrenzenden Themen mit ab.
So skizziert G. bereits in der Einleitung kenntnisreich sowohl die zeitgenössische Kirchengeschichtsschreibung als auch allgemeine Ansätze zur Geschichtsanschauung um 1800. Er zeigt, wie das Anliegen, dass die »Geschichte auf der Grundlage einer Idee aufgefaßt und dargestellt werden müsse« (29), langsam aus heilsgeschichtlicher, (proto-)soziologischer und religionsgeschichtlicher Auffassung erwächst. Sowohl in der Kirchengeschichte wie auch in der Geschichtsphilosophie bildet sich der Versuch, »die Geschichte und speziell die Kirchengeschichte als höhere Einheit von Kausal nexus und Idee, Empirie und Geist zu erfassen« (46) – ein Programm, dem Schleiermacher sich anschließt.
Am umfangreichsten ist G.s Würdigung von Schleiermacher als Kirchenhistoriker ausgefallen (185–417). Minutiös zeichnet er die materiale Kirchengeschichte in Schleiermachers Sicht nach. Hierbei legt G. nicht nur die Vorlesungen zur Kirchengeschichte zu­grunde, sondern spürt jede noch so versteckte kirchengeschicht-liche Bemerkung in Schleiermachers Gesamtwerk auf und arbeitet sie mit ein.
Es ist unmöglich, diese Nachzeichnung hier im Einzelnen zu würdigen. Auf einzelne Hauptergebnisse sei gleichwohl verwiesen. Insgesamt war Schleiermacher in der Alten Kirche quellenmäßig am besten zuhause; hier hat er »weitaus mehr Quellen und Sekundärliteratur ausgewertet als bei den späteren Perioden« (190). Auch die Zeit zwischen 500 und 1000, die sonst häufig ein »Niemandsland« (252 f.) darstellt, bedenkt er intensiv. Hier arbeitet er materialiter allerdings vorwiegend »aus Johann Matthias Schröcks Kirchengeschichte« (253). Die »wachsende Veräußerlichung des Chris­tentums« (309) führt bereits in der Periode des hohen Mittelalters zu Impulsen, welche »in sich schon das ganze Programm der späteren Kirchenreformation« (351) haben. Zugespitzt gesagt: Die heutige Tendenz einer stärkeren Historisierung der Reformation ist bei Schleiermacher schon angelegt.
Was diese selbst angeht: Schriftprinzip und Rechtfertigungslehre sind Ausdruck dessen, dass »der einzelne Christ mit Christus in ein unmittelbares Verhältnis gesetzt ist, das keiner weiteren Vermittlung bedarf« (375). Damit ist die Kirche als bibelhermeneu-tische Autorität wie als Gesetzgeberin von Glauben und Leben überwunden; die Reformation ist nicht nur eine Reinigung von Missständen, sondern eine völlig neue Gestaltung christlichen Glau­bens. Das Tridentinum bestätigt dies gewissermaßen negativ (vgl. 385). Die Aufklärung hingegen wird von Schleiermacher noch nicht als eigene Epoche gedeutet.
Insgesamt zeigt G. etwas gemischte Gefühle gegenüber Schleiermachers Zugang. Dessen Konstruktion ist von selektiver Lektüre getragen (»Die neueste Literatur zur Kirchengeschichte hat Schleiermacher kaum berücksichtigt« [456]) und in der Epocheneinteilung allzu konventionell. Gleichwohl ist Schleiermacher eine hohe konstruktive Kraft und eine große Verarbeitungsleistung zu bescheinigen: »Auch der Virtuose der Kirchengeschichte wird in Schleiermachers Kollektaneen manches lesen, was er bisher nicht gewußt hat.« (11)
Weit weniger umfangreich, aber sachlich vielleicht noch ge­wichtiger ist die Erarbeitung von Schleiermachers Wissenschaftstheorie der Kirchengeschichte geraten. G. geht dabei so vor, dass er zunächst die Philosophische Ethik untersucht, um eine Anschauung von Geschichte überhaupt zu gewinnen. Danach wertet er die drei kirchengeschichtlichen Vorlesungen nach ihrer konzeptuellen Seite aus, um einen spezifischen Begriff der Christentumsgeschichte zu gewinnen. Der eigentliche Charakter der Geschichte ist »Entwicklung; deren Beweggrund sind Ideen, die nach Verwirklichung streben« (64). Innerhalb der Religion sind dies die originalen Impulse der Anfangsgestalten. Aber erst im Christentum kommt die religiöse Gemeinschaft in der Idee zu sich selbst, denn nur die Kirche ist – zumindest im Prinzip – hinreichend von Staat, Wirtschaft und Bildungssystem ausdifferenziert und also wirklich ›Religion‹. Und doch bleibt seine Wirkung nicht auf die Religion im engeren Sinne beschränkt, sondern zeigt sich auch als kulturelle Potenz, welche durch die Globalisierung noch zunimmt. Deshalb grenzt die Kirchengeschichte immer an die Darstellung einer Weltgeschichte, ohne jedoch in eine solche zu zerfließen: »Die Kirchengeschichte beschreibt für Schleiermacher, wie das christliche Prinzip durch menschliche Organe auf die Menschheit wirkt.« (150)
Mit dieser – wie Schleiermacher sie nennt – organischen Ge­schichtsanschauung grenzt er sich von der pragmatischen Ge­schichtsschreibung der Aufklärung ebenso ab wie von einem rein spekulativen Verfahren, welches die Geschichte einem zuvor gewonnenen Schema unterwirft. »Die lebendige Geschichte, das Individuelle überhaupt, läßt sich weder im Voraus a priori konstruieren noch im Nachhinein aus seinen Ursachen erklären.« (117) Schleiermacher ist weder ein Verfallstheoretiker noch ein reiner Fortschrittsapostel, denn nach ihm »entwickelt sich nicht die Idee selbst, sondern nur die Verwirklichung der Idee in der Zeit« (114). Kirchengeschichte ist gebunden an den unüberbietbaren Anfang, entwickelt aber die »historisch-empirische Gestalt« (115) des Chris­tentums, und das ist zugleich ihr inneres Telos. Hieraus ergeben sich Fragen der Epocheneinteilung und zur thematischen Struktur der Geschichte von allein: Schleiermacher behandelt neben der politischen Geschichte immer auch Institutionen-, Dogmen-, Gottesdienst- und Frömmigkeitsgeschichte. Nach G. macht es den Rang von Schleiermachers kirchengeschichtlichen Vorlesungen aus, dass sie diese Probleme gehaltvoll diskutieren, wobei in den verschiedenen Versionen auch unterschiedliche Lösungsvorschläge gemacht werden. Auch hier profitiert G.s Darstellung davon, dass er immer das Gesamtwerk vor Augen hat – insbesondere, aber bei Weitem nicht nur die Christliche Sitte und die Kurze Darstellung – sowie Schleiermachers Auffassungen kenntnisreich mit den Nachbartheoretikern kontrastiert.
Im Ganzen aber gilt: Der geniale Theoretiker des Individuellen bleibt »als Kirchenhistoriker […] für individuelle Gestalten des Christentums als Idee aber im Grunde verständnislos; was er unter den jeweils gegebenen geschichtlichen Umständen als geistiges Prinzip wirken und sich verwirklichen sieht, ist immer wieder dasselbe Christentum, sein eigenes« (461). Es ist konsequent, dass Schleiermacher sich »in der Einleitung zu seinem letzten Kompendium wieder einem heilsgeschichtlichen Konzept« (466) annähert. Somit präsentiert G. letztlich mit seinem Buch einen – auch theologisch – etwas konservativeren Schleiermacher, als es sonst in manchen Teilen der Forschung üblich ist.
Im Schlussteil stellt G. eine Wirkungsgeschichte Schleiermachers als Historiker und Geschichtsphilosoph dar. Hierbei sucht er weniger nach direkten Einflüssen, sondern eher nach dem Fortbestehen von Schleiermachers Motiven, etwa der »Vermittlung von Kirchlichkeit und historisch-kritischer Forschung« (423). Die Leser bekommen zugleich ein Panorama der kirchengeschichtlichen Diskussion im 19. Jh. geboten. Doch nicht nur in diese, sondern auch in das Gebiet der philosophischen Geschichtshermeneutik wirft G. einen Blick; »[g]rößer als mit Dilthey sind Schleiermachers Gemeinsamkeiten mit Droysen« (453).
G. hat die eigentliche Geschichtsphilosophie Schleiermachers eher knapp behandelt. Der (vermeintliche) systematische Höhenflug ist nicht seine Angelegenheit. Hier muss man es ihm doppelt hoch anrechnen, dass er diesen Umstand nicht mit Schaumschlägerei überspielt, sondern mit unbedingter Quellenkenntnis lieber die einschlägigen Stellen nennt und verlässliches Grundwissen entwickelt. Somit ist das Buch nicht nur in seinem Kernbereich künftig erster Ansprechpartner, sondern hebt auch in allen an­grenzenden Gebieten das Thematisierungsniveau. Ich denke, das sind die Kennzeichen dessen, was man einen Meilenstein der Forschung zu nennen pflegt.