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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1229–1232

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Ruthendorf-Przewoski, Cornelia von

Titel/Untertitel:

Der Prager Frühling und die evangelischen Kirchen in der DDR.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 580 S. m. Abb. u. Tab. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 60. Geb. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-55775-4.

Rezensent:

Veronika Albrecht-Birkner

Die vorliegende Dissertationsschrift von Cornelia von Ruthendorf-Przewoski widmet sich der Reaktion der evangelischen Kirchen in der DDR auf den Prager Frühling und somit einem bislang nur partiell aufgearbeiteten Thema der Kirchengeschichte der DDR. Dabei geht es der Vfn. darum, nicht isoliert nach dem Blick der DDR-Kirchen auf die Vorgänge in der ČSSR im Jahr 1968 zu fragen, sondern dies einzubetten in die grundsätzliche Frage nach »Beziehungsstränge[n] zwischen den Kirchen in der ČSSR und der DDR, die einen Transfer und die positive Wahrnehmung in den Kirchen ermöglichten« (23). Das II. Kapitel (93–146) ist deshalb den Beziehungen zwischen den evangelischen Kirchen in der DDR und der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder seit den 1950er Jahren vor dem Hintergrund der politischen und kirchlichen Entwicklungen in der ČSSR gewidmet, und es fließen generell auch Quellen tschechischer Provenienz in die Darstellung ein.
Entsprechend dem Ziel der Studie, zu »erforschen, was sich hinter dieser Chiffre [= Prager Frühling] für die Kirchen in der DDR verbarg« (16), werden im Hauptteil der Arbeit (Kapitel IV »Die Situation in den einzelnen evangelischen Landeskirchen 1968«, 203–427) kirchliche Reaktionen vor allem auf die Niederschlagung des Prager Frühlings am 21.8.1968 in Interaktion mit staatlichen Reaktionen und Maßnahmen des MfS untersucht. Einer Darstellung der Diskussionen um eine gemeinsame Stellungnahme der Bischofskonferenz folgen acht Unterkapitel, die die Vorgänge in den einzelnen Landeskirchen thematisieren und ein informatives Sample derselben in der konkreten historischen Situation bieten. Aufgrund des sehr unterschiedlichen Quellenbefundes in den landeskirchlichen Archiven, im Bundesarchiv und beim BStU für die ein zelnen Regionen fallen diese Abschnitte unterschiedlich lang aus: Auf Berlin-Brandenburg und Sachsen entfallen die größten Teile der Darstellung, gefolgt von der Kirchenprovinz Sachsen und der Görlitzer Landeskirche, die staatlicherseits als »reaktionärste« eingeschätzt wurde (271). Die im Gegensatz hierzu maßgeblich »progressive« Thüringische Kirche (427) wird weniger breit behandelt; Anhalt, Mecklenburg und Greifswald spielen marginale Rollen.
Entsprechend dem Anspruch der Vfn., »makro- und mikrohis­-torische Zugriffe« zu verschränken (203), wird für die einzelnen Landeskirchen nicht nur das Agieren der Kirchenleitungen, sondern auch das der Synoden sowie einzelner Pfarrer (»Fallbeispiele«, partiell auch statistisch, vgl. 401–404) thematisiert. Faktisch kommt damit außer der makro- vor allem die mesohistorische Ebene in den Blick. Insofern der Zugriff aber via historische Erfassung durch die Makroebene erfolgt, bleibt der Zugang top down. Gemeindeglieder konnten, so heißt es erklärend, kaum berücksichtigt werden, weil sie »aufgrund der staatlichen Amtsträgerfixiertheit kaum im Fokus der Quellen waren« (24). Pfarrarchive kommen nicht vor, nur das Ephoralarchiv Pirna ist jedenfalls im Quellenverzeichnis gelistet. Dem korrespondiert ein letztlich auf die Leitungsebene fixierter, institutioneller Kirchenbegriff, dem gemäß z. B. das Handeln von »Christen oder Gemeindepfarrern«, die »aus politischer Überzeugung gegen die ihre [!] Kirchen« agierten, »nur eingeschränkt als kirchliches Handeln interpretiert werden« könne (25). Nur der auf die Leitungsebene fixierte Kirchenbegriff erklärt auch die als Ergebnis des IV. Kapitels formulierte markante, alle differenzierten Ergebnisse nivellierende Feststellung: »Im Ostblockvergleich fällt das unisono und ökumenisch anmutende, jedoch nicht abgesprochene Schweigen der Kirchen, katholisch wie evangelisch, der Freikirchen und christlichen Gemeinschaften in der DDR auf.« (429) Diese Aussage verblüfft umso mehr, als die Freikirchen und die katholische Kirche in die Untersuchung gar nicht einbezogen wurden und der herangezogene Beleg für den Ostblockvergleich nicht aussagekräftig ist.
Das Thema der Studie wird im großen Rahmen der Gesamtsituation der evangelischen Kirchen (-leitungen) in der DDR am Ende der 1960er Jahre abgehandelt (Kapitel I: »Die Situation der Kirchen in der DDR Ende der 1960er Jahre«, 43–92), wobei sich die Vfn. vor allem den Auseinandersetzungen um die neue Verfassung und den Entwicklungen zur Trennung von ost- und westdeutscher Kirche widmet. Zugleich kommt hier wie auch in Kapitel V (»Motivationen und Handlungsorientierungen für das Handeln in den Kirchen«, 429–507) Substantielles zur Auseinandersetzung mit dem Prager Frühling vor. Diese Verteilung der Informationen zum Kern­thema ergibt sich daraus, dass die Arbeit insgesamt keiner systematisch stringenten Struktur folgt (Kapitel I und V themengebundener, Kapitel IV institutionengebundener Zugriff), historische Konstellationen – außer in Kapitel IV – auch nicht induktiv-chronologisch rekonstruiert, sondern eher »enthistorisiert« nebeneinanderstellt und Ergebnisse, nicht selten in Gestalt kon­statierender Gemeinplätze, vielfach schon vorwegnimmt. Diese systematischen Schwächen spiegeln sich auch in den unspezifischen Überschriften und der teils nicht stringenten Binnenstruktur der Kapitel.
Eine Besonderheit bildet das III. Kapitel »Die protestantische ›Linke‹ in der DDR am Fallbeispiel der CFK und des Bundes Evangelischer Pfarrer« (147–201), das schon wegen der der Komplexität der Situation in der DDR nicht gerecht werdenden Nomenklatur in der Überschrift auffällt. Im Kapitel selbst wie auch sonst wird zur Umschreibung der hier thematisierten Personengruppe aber eher mit dem Ausdruck »Progressive« gearbeitet, womit eine Zuschreibung des MfS zu einer historiographischen Kategorie erhoben wird. Den größten Teil des Kapitels nimmt eine informative Studie zur CFK ein, die bis in die frühen 1970er Jahre reicht. Diese »Aus- lagerung« der »Progressiven« in ein Sonderkapitel erweckt den Eindruck, dass diese mit der in Kapitel IV abgehandelten (Landes-) Kirchengeschichte im eigentlichen Sinn nichts zu tun hatten. Im Gegensatz zu dieser Differenzierung der Akteure auf kirchlicher Seite arbeitet die Vfn. durchgängig mit einem (den entsprechenden DDR-Sprachgebrauch fortschreibenden) monolithischen Staatsbegriff, der namentlich die Rolle des MfS als Akteur in der Kirche marginalisiert – auch dort, wo sie laut Quellenbelegen auf der Hand liegt. Die BStU-Quellen sind lediglich interessant als »zusätzliche Sichtweise auf die Ereignisse in den Kirchen der DDR« (35).
Diese Konstruktion des Verhältnisses von Staat – mit den ›Progressiven‹ und dem MfS – und Kirche als reines Outside-Inside-Verhältnis hat für die Darstellung programmatischen Charakter. Weil es »um die kirchlichen Aktionsräume geht« und weil »Übergänge zwischen staatlichen Gesprächen und Gesprächen mit dem MfS« ohnehin »fließend« gewesen seien, werden namentlich IM-Tätigkeiten in der Kirche bewusst nicht zum Thema gemacht (35.79), sondern nur im Personenverzeichnis erwähnt. Teils verbindet sich dies mit Verharmlosungen wie der Beschreibung der Rolle von Hanfried Müller, dessen Stimme »zwar außer ihm selbst kaum einer hören wollte, der aber immer wieder für Unmut und Verwirrung sorgte, weil er aus der Kirche am liebsten eine Unterorganisation der Nationalen Front gemacht hätte« (26; vgl. 479–484). Noch im Blick auf das vom MfS stark unterwanderte Thüringen heißt es abwehrend: »Wie stark das MfS in die Landeskirchen eingreifen und ihnen schaden konnte, ist umstritten. Vor allem das synodale Prinzip verhinderte, dass die Landeskirchen von außen gesteuert werden konnten.« (408, Anm. 1139) Unter solchen Prämissen lässt sich die Darstellung von Klaus Roßberg denn auch mit der Bemerkung abtun, dass dies die »Vorstellungswelt des MfS von den Kirchen, nicht jedoch die kirchliche Welt« sei (87), und behaupten, dass in ›staatlichen Quellen‹ »nicht einmal ansatzweise zwischen theologischen Strömungen unterschieden« wurde (36; vgl. 464–467). Wir bräuchten keine historische Arbeit, wenn die Welt so einfach in Schwarz und Weiß unterteilbar wäre.
Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn die sich zur »Generation der Wendekinder« zählende Vfn. ihren Ausgangspunkt, dass eine »Westdeutsche, eine Nichtchristin oder eine ältere Person […] über die gleichen Quellen anders geschrieben« hätte als sie (11), nicht nur in Gestalt dieser Abgrenzung, sondern positiv formuliert hätte. Könnte es sein, dass ihr Anliegen implizit ein sich identifizierend-apologetisches im Blick auf die ostdeutschen Kirchen ist, das diese namentlich von MfS-Perspektiven gewissermaßen »rein halten« will? Diesen Eindruck erweckt auch ihr methodisch inkonsequenter Versuch, die von ihr konstatierte »Quellenasymmetrie zwischen staatlichen und kirchlichen Quellen« (33) durch »Zeitzeugen als ergänzende Quelle« (37) auszugleichen (34 Fragebögen und 15 »Hintergrundgespräche«) – während sie zugleich konstatiert, dass es sich bei deren Erinnerungen lediglich »um Rückprojektionen aus einer späteren Phase des jeweiligen Lebens handelt« (500). Ambivalent wirkt auch der Umgang mit den Zeitzeugen als Personen: Einerseits wurden diese nach ihrer Wahrnehmung als konkrete Personen durch das DDR-Regime ausgewählt (39) und soll es um deren »Le­bensgeschichte« gehen (37), andererseits heißt es: »Für die wissenschaftliche Auswertung spielen die Namen keine Rolle.« (451)
Statt Rezeptionen zu thematisieren, werden – vielfach unter Heranziehung psychologisierender Kategorien – »Nachwirkungen« von Prag gesucht. Dabei bleibt die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Politik systematisch letztlich unreflektiert (»Theologie als Schnittstelle«, 464–494 u. ö.). Von Prag herkommende Impulse, die gleichermaßen Theologie und Politik betrafen, werden dem »Herrschaftsverhalten der SED« zugeschrieben und im Übrigen in den Bereich von »Träumen und Phantasie« verbannt (506 f.). Daneben stehen markante Sätze wie der, dass mit dem Prager Frühling »die Unterschiede zwischen Christen, die auf einen Reformsozialismus setzten, und solchen, die sich auf den Realsozialismus einließen, unüberbrückbar« geworden seien (200), oder haltlos pauschale Aussagen wie die, dass der DDR »[d]ie Anerkennung durch ihre Bürger […] bis zum Ende verwehrt« geblieben sei (56).
Wer das Buch der Vfn. zur Hand nimmt und genug Lesezeit und -geduld mitbringt, wird hier eine Fülle interessanter Informationen aus archivalischen Quellen und Zeitzeugenbefragungen zu einem Schlüsselthema der DDR-Kirchengeschichte finden. Vor einer unreflektierten Übernahme sowohl impliziter als auch ex­pliziter Interpretationen und Wertungen kann die Rezensentin aber nur warnen.