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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1227–1229

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Kirsch, Anja

Titel/Untertitel:

Weltanschauung als Erzählkultur. Zur Konstruktion von Religion und Sozialismus in Staatsbürgerkundeschulbüchern der DDR.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 438 S. m. Abb. u. Tab. = Critical Studies in Religion/Religionswissenschaft, 2. Geb. EUR 150,00. ISBN 978-3-525-54049-7.

Rezensent:

Roland Biewald

Als christlich sozialisierter Zeitzeuge der untergegangenen DDR wird man bei der Lektüre dieses Buches unweigerlich emotional und kognitiv zurückversetzt in die eigene Schulzeit. Staatsbürgerkunde, Religion, Sozialismus. Drei Reizworte, die ambivalente Ge­fühle wecken. Daher tut es gut, von der Vfn. von Anfang an in eine klar umrissene und methodisch einleuchtend ausgeführte Forschungsarbeit hineingenommen zu werden, in deren Verlauf sich vieles auf kognitiver Ebene klärt, das vorher unreflektiert ins Langzeitgedächtnis abgerutscht war. Es ist wohl gerade der Zu­gang über die Narratologie, der dies ermöglicht. Im Staatsbürgerkundeunterricht eingesetzte, didaktisch ausgerichtete literarische Erzählungen werden bewusst gemacht und hinsichtlich ihrer Lerneffekte untersucht und beurteilt.
Das hier vorgestellte Werk ist die überarbeitete Fassung der Dissertation von Anja Kirsch, die 2013 an der Universität Basel angenommen wurde. Es verbindet einen hohen wissenschaftlichen Anspruch mit guter Lesbarkeit, die einerseits von der sprachlichen Darstellung, Gliederung und den Zusammenfassungen herrührt und andererseits durch die Einfügungen von Beispielen literarischer Texte aus den Lehrbüchern gefördert wird.
Der methodische Ansatz besteht in erster Linie aus der Analyse von drei Quellengattungen. Hauptmedien sind die Lehrbücher für Staatsbürgerkunde der Klassenstufen 7–12 aus den Jahren 1963–1989. Ergänzend dazu werden einerseits Begleitmaterialien für den Unterricht und andererseits Lehrpläne und Unterrichtshilfen in die Analyse einbezogen. Trotz dieser Orientierung auf schulische Quellen handelt es sich nicht um eine erziehungswissenschaftliche Forschungsarbeit, obwohl sie auch Aspekte einer solchen enthält. Die Ziele sind auf drei religionswissenschaftliche Fragestellungen fokussiert. Erstens ist es ein religionsgeschichtlicher Beitrag zum Verhältnis von Realsozialismus und Religion anhand der historischen Klärung, wie im Staatsbürgerkundeunterricht mit Religion und Marxismus-Leninismus umgegangen wurde. Zweitens ist es in methodischer Hinsicht eine Evaluation des Potentials narra-tionsbezogener Ansätze für die religionswissenschaftliche Forschung. These: »Die Narratologie als Metawissenschaft verspricht ein kultur- und epochenunabhängiges, an Strukturen orientiertes Instrumentarium, das zur Entwicklung eines formalen Be­griffsrasters beiträgt« (20). Drittens wird auf der theoretischen Ebene an Debatten um den Religionsbegriff angeknüpft und es werden weiterführende Impulse auf der Grundlage der hier durchgeführten Rezeptionsanalyse geliefert. Insgesamt geht es darum, die Begriffe von Religion und Sozialismus im Rahmen einer di­daktischen Vermittlung als narrativ konstruiert aufzuweisen und zu evaluieren. Die oft verwendete Charakterisierung des Sozialismusbegriffs als Religion oder Ersatzreligion wird dabei auf den Prüfstand gestellt.
Eine erste, gut nachgewiesene Beobachtung anhand der Staatsbürgerkundelehrbücher ist die, dass bis zur Klassenstufe 10 vorwiegend erfahrungsbezogen unterrichtet wird, während ab der Klassenstufe 11 eine theoretisch-philosophiegeschichtliche Argumentation überwiegt. Die narrative Plausibilisierung, dass der Sozialismus bzw. der Marxismus-Leninismus (ML) die »richtige« Weltanschauung sei, ist also in der Sekundarstufe I zu finden. Die Klassenstufe 10 markiert dabei einen Übergang zu der dann folgenden »wissenschaftlichen Begründung« des ML in der Oberstufe. Religion wird, so die Vfn., erst in der Oberstufe als Gegenmodell zum atheistischen ML vermittelt. Im Gegensatz zum ML, so die Lehrbücher, fehle ihr die wissenschaftliche Begründung.
Unter dem Gesichtspunkt der Narratologie ist es vor allem in­teressant, wie aus den Texten für die Sekundarstufe I die Konstruktion des Sozialismus in Form einer literarischen Erinnerungskultur herausgearbeitet wird. Die (narrativen) literarischen Texte sind demnach ein »Plausibilisierungsinstrument« (387). Ein illustratives Beispiel dafür ist der im Kapitel 4 (»Die Didaktik der Weltanschauung«) zitierte und kommentierte Text aus dem Roman »Die Abenteuer des Werner Holt« von Dieter Noll (150 f.). Obwohl in diesem Text die Gottesfrage angesprochen wird, findet diese im Unterricht keine Thematisierung. »Gott scheidet als Bezugspunkt für moralisches Handeln aus« (152), dieses wird dann mit den Maßstäben der sozialistischen Moral begründet. Ein weiteres Beispiel für die biographisch-narrative Konstruktion ist das Thema der Freundschaft zwischen Karl Marx und Friedrich Engels, das im Kapitel 6.3. (270 ff.) ausgewertet wird. Mit diesen und weiteren Beispielen begründet die Vfn., dass der Begriff des Sozialismus eigenständig – und nicht in Abgrenzung zur Religion, aber wie eine Religion – narrativ konstruiert wird. Anders in der Oberstufe: Dort wird der (philosophisch begründete) Atheismus der Religion ge­genübergestellt. Dieser kognitiv-abstrakte Lernweg fußt auf dem zuvor narrativ-erfahrungsbezogen entwickelten Begriff der rich-tigen Weltanschauung des Sozialismus/ML. Dieses stringente didaktische Konzept ist von der DDR-Schulbehörde auch punktuell evaluiert worden. Die Vfn. zeigt das an dem genannten Beispiel im Kapitel 4. Die Kapitel 5 und 6 sind aus der Sicht des Rezensenten überzeugend gelungene Analysen, wie »Die falsche Weltanschauung: Religion« und »Die richtige Weltanschauung: ML« im Staatsbürgerkundeunterricht narrativ konstruiert wurden. Auch wenn die Vfn. vordergründig an den religionswissenschaftlichen Fragestellungen interessiert ist, können Didaktiker einen großen Ge­winn aus diesen Untersuchungen ziehen.
Der religionswissenschaftliche Ertrag hinsichtlich der Begriffsforschung wird am Schluss noch einmal prägnant zusammengefasst. »Über die Fokalisierung durch Figuren werden der Sozialismus und seine Weltanschauung narrativ konkretisiert, während die stets von außen geschilderte Religion als Erfahrungsgröße unzugänglich blieb« (394). Damit ist zugleich ein Aspekt der ideologisch ausgerichteten Didaktik erkannt worden: Den Schülern wurde auf der emotional-affektiven Ebene des Lernens vermittelt, was das Richtige (Sozialismus, ML) und das Falsche (Religion) ist. Zurück zur Religionswissenschaft: Das begriffstheoretische Problem der unterschiedlichen Konzepte für den Religionsbegriff wird anhand einer Unterscheidung von narratologischer und metaphorischer Perspektive dargestellt (Tabelle, 398), wobei der Gewinn eines narrationsbezogenen Zugangs zur Begriffsforschung als Er­gänzung zu einem semantisch-inhaltsbezogenen noch einmal gut begründet wird.
Insgesamt handelt es sich bei diesem Buch um eine intensive Quellenforschung, die einerseits viel Beispielmaterial und andererseits sehr einleuchtend begründete Erkenntnisse zur narrativen Konstruktion der weltanschaulichen Begriffe Sozialismus/ML und Religion liefert, wie sie im Staatsbürgerkundeunterricht der ehemaligen DDR didaktisch forciert wurde. Von dieser Forschungsarbeit profitieren nicht nur Religionswissenschaftler, sondern auch Religionsdidaktiker. Zugleich ist es ein Beitrag zur Erschließung der DDR-Bildungsgeschichte im Kernbereich dieses ideologischen Systems. Da hier ausschließlich an literarischem Unterrichtsmaterial geforscht wurde, wäre eine weiterführende Ergänzung zur Wirkungs- und Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichte dieser narrativen Didaktik wünschenswert. Das ist jedoch nicht mehr (alleinige) Sache der Religionswissenschaft, sondern wäre eine Aufgabe der (Religions-)Pädagogik.