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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1219–1220

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ehinger, Siglind

Titel/Untertitel:

Glaubenssolidarität im Zeichen des Pietismus. Der württembergische Theologe Georg Konrad Rieger (1687–1743) und seine Kirchengeschichtsschreibung zu den Böhmischen Brüdern.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2016. X, 275 S. m. 5 Abb. = Jabloniana – Quellen und Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, 7. Geb. EUR 64,00. ISBN 978-3-447-10649-8.

Rezensent:

Reinhold Rieger

Biographien und Autobiographien sind programmatische Medien pietistischer Reflexion und Selbstreflexion. Die Kirchengeschichte als akademisches theologisches Fach wandte sich ebenfalls bio-graphisch dem Leben von Pietisten zu, während die allgemeine Geschichtswissenschaft sich diesem seltener widmete. Eine Ausnahme bildet die Stuttgarter historische Dissertation von Siglind Ehinger, die sich das Leben und Werk eines der pietistischen »Schwabenväter«, Georg Konrad Riegers, zum Gegenstand machte, um dessen umfangreiches kirchengeschichtliches Werk zu den Böhmischen Brüdern in den Mittelpunkt der Beurteilung Riegers zu stellen. E. stellt fest, dass Rieger bisher fast ausschließlich als großer Prediger und Erbauungsschriftsteller wahrgenommen wurde, nicht jedoch als Kirchenhistoriker, der beanspruchte, Kirchengeschichte sei selbst erbaulich und ein Beitrag zum Reich Gottes.
Riegers Verständnis der Kirchengeschichte an seinen großen kirchengeschichtlichen Werken herauszuarbeiten, ist das Ziel E.s. Zuerst jedoch wendet sie sich der Biographie Riegers zu und liefert den nicht nur literarischen, sondern auch sozialgeschichtlichen Nachweis seiner Verankerung im Pietismus Hallescher und Herrnhuter Prägung im Kontext des württembergischen Pietismus des 18. Jh.s. Rieger hatte Kontakte zu August Hermann Francke, Nikolaus von Zinzendorf und Johann Albrecht Bengel.
Als Riegers kirchenhistorisches Hauptwerk beurteilt E. sein Werk zur Geschichte der Böhmischen Brüder »Die Alte und Neue Böhmische Brüder« von 1734–1740, das eine Fortsetzung der Geschichte der Waldenser sein sollte, die 1732/33 unter dem Titel »Der Saltz-Bund Gottes« erschienen war. Anlass und Anregung für die Beschäftigung mit den Salzburger Protestanten, den Waldensern und den Böhmischen Brüdern war für Rieger die Emigration der Salzburger Pro-tes­tanten, die 1732 durch Württemberg zogen. Rieger verfasste bei-de umfangreichen Werke in seiner Zeit als Stuttgarter Stadtpfarrer, in der er um Entlastung von seinen pastoralen Pflichten bat, um seine Schriften vollenden zu können. In beiden entfaltet Rieger ein Geschichtsverständnis, das eine Kontinuität der protestantischen Kirche und ihrer Lehre mit der Zeit der Apostel annahm. Dies ver suchte er nachzuweisen, indem er in der Kirchengeschichte ein durchgehendes »europäisches Netz aus sichtbaren Gruppen sogenannter evangelischer Glaubens- und Wahrheitszeugen« (73) ausfindig machte, das in zwei Strängen in die Reformation Luthers mündete.
Deren erster Strang ging von den Aposteln über die griechisch-orthodoxe Kirche zu den Hussiten und den Böhmischen Brüdern, deren zweiter ebenfalls von den Aposteln über die Waldenser zu den Wyclifiten. Beide Stränge seien nicht nur in einzelnen bestimmenden Personen wie Petrus Waldes, Jan Hus, John Wyclif verkörpert, sondern besonders in sozialen Gruppen, Gemeinden, die ein christliches Leben führten und weitergaben. Rieger geht sogar von einer lückenlosen apostolischen Sukzession nicht der Bischöfe, aber der protestantischen Gemeinden aus. Zur Situation dieser Gemeinden habe immer die Verfolgung gehört, da sie sich in Opposition zur römisch-katholischen Kirche befanden, die von der apostolischen Wahrheit abgewichen sei, aber ihrerseits die apostolische Sukzession beanspruche. Damit stellte sich Rieger in die Tradition der lutherisch-orthodoxen Kirchengeschichtsschreibung z. B. der Magdeburger Zenturien von Matthias Flacius, erweiterte sie aber von der Konzeption einer Kette von Wahrheitszeugen zu einer Kontinuität von vorreformatorischen Gemeinden. Im Unterschied zu Gottfried Ar­nolds Vorstellung einer unsichtbaren wahren Kirche legte Rieger Wert auf die Sichtbarkeit der christlichen Gemeinden. Sowohl das Kriterium der Sichtbarkeit als auch das der Kontinuität teilt Rieger mit der katholischen Kirchengeschichtsschreibung z. B. bei Jacques Bénigne Bossuet. Allerdings nahm er die Möglichkeit von Veränderung und Entwicklung in der Kirchengeschichte wahr, die ihm ihren Weg zum Reich Gottes verständlich machte. Das pietistische Anliegen der Erbauung sah Rieger auch in der Betrachtung der Kirchengeschichte erfüllt, die die christliche Gemeinde auf dem Weg durch die Verfolgung zum Reich Gottes hin zeige. Dies erweise sich, so E., auch an Riegers Stil in seinen historischen Werken, der häufig predigthafte Züge annehme, auch wenn er in seiner Darstellung die zeitgemäße historische Methode verfolgte. Die Beschäftigung mit der Kirchengeschichte habe für ihn als eigentlichen Zweck, das Reich Jesu Christi in ihr zu erkennen. Ihre Aufgabe sei die »Visualisierung des Reiches Christi« (126).
E. gliedert ihr Werk in acht Kapitel, die mit dem Bericht über das Leben Riegers beginnen, dann die Entstehung seines kirchengeschichtlichen Hauptwerks darstellen. Danach referiert sie sukzessive mit ausführlichen Zitaten den Inhalt beider Schriften, um dann Riegers kirchengeschichtliche Konzeption und Methode zu erläutern. Anschließend stellt sie Riegers »pietistische Aneig-nung und konfessionelle Vereinnahmung« der »Wahrheitszeugen« Jan Hus, John Wyclif, der Hussiten und der Böhmischen Brüder in seinem Hauptwerk vor. Riegers Verhältnis zu den Herrnhutern, die er als »Neue Böhmische Brüder« bezeichnete, behandelt ein eigenes Kapitel. Zum Schluss geht E. der Rezeption von Riegers Kirchengeschichtsschreibung im 18. Jh. nach. Eine Zusammenfassung bündelt die historischen Erkenntnisse der Arbeit. E. liefert mit ihrer Untersuchung einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung und insbesondere zum Ge­schichts- und Kirchengeschichtsverständnis des Pietismus.
Das Buch enthält fünf ganzseitige Abbildungen von Titeln und anderen Blättern aus Riegers Schriften, sowie ein Porträt. Ein Personen- und ein Ortsregister beschließen den Band.