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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1217–1219

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Daugirdas, Kestutis

Titel/Untertitel:

Die Anfänge des Sozinianismus. Genese und Eindringen des historisch-ethischen Religionsmodells in den universitären Diskurs der Evangelischen in Europa.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 636 S. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 240. Lw. EUR 100,00. ISBN 978-3-525-10142-1.

Rezensent:

Wolf-Friedrich Schäufele

Obwohl der Sozinianismus quantitativ nicht mehr als ein Rand­phänomen des evangelischen Christentums der Frühen Neuzeit war und nur in Polen-Litauen für gerade einmal ein Jahrhundert kirchenbildend wirkte, hat er seit dem 19. Jh. immer wieder die besondere Aufmerksamkeit der Forschung gefunden, da man in ihm einen Vorläufer und Wegbereiter der historisch-kritischen Bibelexegese und der rational-moralischen Auffassung des Chris-tentums in der Aufklärungstheologie erkannte. Seit etwa zwei Jahrzehnten ist in der deutschsprachigen Forschung wieder ein verstärktes Interesse am Sozinianismus zu verzeichnen, für das vor allem auf die Arbeiten von Martin Mulsow und Sascha Salatowsky verwiesen sei.
Das hier anzuzeigende Buch, mit dem sich Kestutis Daugirdas an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen habilitiert hat, darf ohne Übertreibung als das neue Standardwerk der theologischen Sozinianismusforschung gelten. Der Vf. versteht den Sozinianismus als dasjenige theologische Lehrsystem, in dem erstmals konsequent das von ihm so genannte historisch-ethische Religionsmodell durchgeführt wurde. Damit ist eine Auffassung des Christentums gemeint, die die Bedeutung Jesu aus seinem historischen Wirken statt aus dem ontologischen Datum seiner göttlichen Natur ableitet, die die Bibel wie auch alle Gebote und Glaubensnormen historisch versteht und das Heil und die Gabe des ewigen Lebens nicht auf den Sühnetod Jesu und eine imputativ verstandene Rechtfertigung gründet, sondern von der dem freien Willen des Menschen jederzeit möglichen Befolgung der Gebote Jesu abhängig macht.
In dieser Form, als geschlossenes Lehrsystem, hat sich der Sozinianismus erst um die Wende zum 17. Jh. herausgebildet. Der Vf. rekonstruiert minutiös sein Werden seit 1562 bei Fausto Sozzini selbst und bei seinen frühen Anhängern und Parteigängern sowie die Rezeption des neuen Religionsmodells im Diskurs der reformierten und lutherischen Universitätstheologie Deutschlands und der Niederlande bis in die 1620er Jahre. Dabei versucht er, die Entwicklung und Etablierung des historisch-ethischen Religionsmodells im theologischen Diskurs des europäischen Protestantismus als Ergebnis komplexer dynamischer Vernetzungsprozesse zu erfassen, wofür er sich methodisch auf eine modifizierte Akteur-Netzwerk-Theorie stützt.
Der erste Hauptteil der Untersuchung (Kapitel II) ist der Genese des theologischen Denkens Fausto Sozzinis gewidmet, die sich über einen Zeitraum von rund vier Jahrzehnten erstreckte. Schon dabei arbeitet der Vf. heraus, wie die einzelnen Elemente der sozinianischen Theologie im Wesentlichen in der Interaktion Sozzinis mit Gegnern und Gleichgesinnten ihre endgültige Gestalt gewannen. Am Anfang stand die exegetisch begründete Formulierung der unitarischen Christologie im Zusammenhang von Sozzinis Auslegung des Johannesprologs, mit der er die Anregungen seines Onkels Lelio aufgriff. In der Folgezeit traten dazu fünf weitere »Eckpfeiler« der Lehrbildung Sozzinis, die nach und nach von ihm selbst im Ge­spräch mit seinen Zeitgenossen formuliert wurden: die mit ratio nal-juristischen Argumenten begründete ethische Neubestimmung der Soteriologie, die Überzeugung von der schöpfungsmä-ßigen Sterblichkeit des Menschen und dem ewigen Leben als übernatürlicher Gabe Gottes, die historisch akzentuierte Anschauung von der Heiligen Schrift, die Überzeugung von der Freiheit des menschlichen Willens und die Verwerfung einer Auferstehung zum Gericht und ewiger Höllenstrafen.
So, wie sich die Herausbildung der sechs Grundelemente der Theologie Sozzinis erst allmählich, im Lauf von Jahrzehnten, vollzog, so stellte auch die frühe Rezeption seiner Anschauungen im siebenbürgischen Unitarismus, vor allem aber in der polnisch-litauischen »Ecclesia reformata minor« einen komplexen, zeitlich langgestreckten und von zahlreichen verschiedenen Akteuren mitgestalteten Prozess dar. Noch bevor Sozzini selbst einen gewissen Abschluss in seiner theologischen Entwicklung erreicht hatte, wurden seine Gedanken schon von anderen aufgenommen, teilweise weitergebildet und systematisiert und wirksam verbreitet. Der Erhellung dieser komplexen Phänomene dient der zweite Hauptteil des Buches (Kapitel III). Hier sichtet der Vf. in prosopographischer Ordnung die Beiträge der wichtigsten Akteure des frühen Sozinianismus zur Konsolidierung und Propagierung des historisch-ethischen Religionsmodells. Dabei geht er insbesondere auf die Polen Petrus Statorius, Andreas Wojdowski und Hieronymus Moskorzowski und auf die Deutschen Christoph Ostorodt, Johannes Völkel und Valentin Schmalz ein.
Der dritte Hauptteil (Kapitel IV) erörtert die Reaktionen auf das sozinianische Religionsmodell im universitären Diskurs Mittel- und Westeuropas. Dabei handelte es sich im Betrachtungszeitraum ganz überwiegend um polemische Abweisungen der neuen An­schauungen. Doch blieben diese Abweisungen nicht ohne Rückwirkungen auf die orthodox-protestantische Art, Theologie zu treiben. Insbesondere die reformierten Autoren in Zürich (Josias Simler) und Heidelberg (Girolamo Zanchi, Franciscus Junius, David Pareus) sahen sich rasch gezwungen, sich zur Verteidigung der klassischen Trinitätslehre gegen die schriftbezogene Argumenta- tion der Sozinianer auf die aristotelische Metaphysik zurückzu-ziehen – eine Konsequenz, die schließlich auch die Lutheraner in Wittenberg, Königsberg und Jena zogen, nachdem sie einsehen mussten, dass der von ihnen versuchte Traditionsbeweis das evangelische Schriftprinzip konterkarierte. Doch fanden Anschauungen Sozzinis auch Anklang bei Theologen wie Konrad Vorstius in Steinfurt, den der Vf. als »Semi-Sozinianer« charakterisiert. Auch die niederländischen Remonstranten, die Vorstius als Nachfolger des Arminius nach Leiden berufen sehen wollten, gerieten bald in den Verdacht des Sozinianismus – und wirklich positionierten sie sich bald darauf unter der Ägide von Simon Episcopius ebenfalls in einem »semi-sozinianischen« Sinn. Doch ob in Abwehr oder in Anknüpfung – alle der vom Vf. akribisch nachgezeichneten akademischen Diskurse wirkten gleichermaßen daran mit, das historisch-ethische Religionsmodell als Alternative zur traditionellen Auffassung des Christentums ins allgemeine Bewusstsein zu heben und damit die aufklärerische Rezeption des Sozinianismus in England, den Niederlanden und Deutschland (die im vorliegenden Band nicht mehr behandelt wird) zu ermöglichen.
Die Untersuchung ist umfangreich, aber doch konzis und lu-zide disponiert. Sie überzeugt durch die quellengesättigte, klug pointierte Darstellung. Dank seiner außergewöhnlichen Sprachkenntnisse konnte der Vf. Quellen und Literatur in deutscher, italienischer, polnischer, niederländischer und englischer Sprache auswerten. Der methodische Zugang, die Thesen und die Einzelergebnisse überzeugen. Für die künftige theologische Sozinianismusforschung wird das Buch eine unentbehrliche Grundlage sein.