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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1206–1208

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

[Osborne, Grant R.]

Titel/Untertitel:

On the Writing of New Testament Commentaries. Festschrift for Grant R. Osborne on the Occasion of his 70th Birthday. Ed. by S. E. Porter and E. J. Schnabel.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2013. 493 S. = Texts and Editions for New Testament Study, 8. Geb. EUR 189,00. ISBN 978-90-04-23291-4.

Rezensent:

Thomas Söding

Grant B. Osborne ist ein intelligenter, reflektierter, kompetenter Evangelikaler, der exegetische Akkuratesse mit historischem Interesse verbindet und aus theologischen Gründen ein starkes hermeneutisches Problembewusstsein entwickelt. Im Umkreis der Trinity Evangelical Divinity School (Deerfield, Illinois) ist eine »Festschrift« (das Wort ist eine der schönsten Leihgaben deutscher Sprache an die scientific community) aus Anlass seines 70. Geburtstages entstanden, die mit Stanley E. Porter und Eckhard J. Schnabel zwei besonders aktive und ausgewiesene Forscher aus dem Schüler- und Kollegenkreis herausgegeben haben.
Die Festschrift ist kein Florilegium, sondern eine Monographie zum »Kommentar«. Er wird neu als Grundform der Theologie bestimmt. Die zentrale Stellung des Schriftkommentars ist im Prinzip konfessions- und zeitübergreifend. Der Kommentar gibt dem Schriftwort die Ehre; er folgt dem, »was geschrieben steht«; er lässt sich die Agenda der Theologie nicht von Aktualitäten oder Traditionen vorgeben, sondern von der Bibel selbst, ohne deren Zeugnis und Wirkung es keine Theologie gäbe. Er kann sich dann aber nicht damit zufrieden geben, die Texte in ihrer Vergangenheit stehen zu lassen; er muss vielmehr dafür arbeiten, dass sich einerseits die Gegenwart in ein qualifiziertes Verhältnis zur Geschichte setzt, wie sie ihr durch die Heilige Schrift erschlossen wird, und dass andererseits der geschichtliche Bibeltext nicht in seiner Vergangenheit stehen bleibt, sondern in seiner unabgegoltenen Ak­tualität erschlossen wird. In der Antike und im Mittelalter diente dieser Hermeneutik die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn, in Verbindung mit dem Postulat, dass für den dogmatischen Schriftbeweis der Literalsinn entscheidend sei. In der Reformation erfuhr der Kommentar durch das sola scriptura einerseits neuen Auftrieb, weil er eine von der kirchlichen Tradition unabhängige, originäre, unverfälschte Theologie erschließen zu können versprach; andererseits musste er neue Lasten tragen, weil er das Ganze der Theologie aufgebürdet zu bekommen schien. Durch die historische Kritik wuchs die Distanz zwischen Bibel und Dogma, Schrift und Tradition, Geschichte und Gegenwart. Man kann einen guten Teil der evangelikalen Bewegungen sowohl in Europa als auch in den USA damit erklären, dass die Bedeutung historischer Fragen für die Theologie und die Bedeutung historischer Methoden für die Exe-gese anerkannt werden, dass aber die Antworten, die gefunden werd en, eine sehr viel größere historische Substanz der Bibel sichern wollen als in der liberalen Exegese; das hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass weltanschauliche Prämissen der westlichen Moderne nicht geteilt, sondern kritisiert werden, vor allem im Blick auf all das, was Thomas von Aquin als »Mysterien des Lebens Jesu« beschrieben hat, ganz zu schweigen von der Auferstehung Jesu und der Inspiration der Gläubigen durch den Heiligen Geist. Dieses Projekt kommt international weit verbreiteten Tendenzen katholischer Exegese entgegen, nur dass die den Zusammenhang zwischen Bibel und Kirche stärker betont und einen hermeneutischen Primat des Lehramtes in allen wesentlichen Fragen des Glaubens und der Moral anerkennt.
Der Band versammelt 21 Beiträge, die sich allesamt mit der Gattung des Kommentars befassen. Schnabel gibt einen weiten Überblick, der die lange Geschichte und die typischen Probleme von Kommentaren (Umfang, Genauigkeit, Lesbarkeit, Preis) skizziert (3–31). In der Abteilung »Exegese« werden Grundfragen wissenschaftlicher Qualität behandelt: die philologische (Porter, 33–56) und (nicht unpolemisch) die historische Kompetenz (Douglas S. Huffman, 91–111) von Kommentaren, woran ein Essay über die historische Rückfrage, besonders in Markuskommentaren, an­schließt, der die starken Meinungsschwankungen in der Forschung aufspießt (Craig A. Evans, 113–127); überdies werden die Übersetzungsaufgabe (Douglas J. Moo, 57–71) und Gattungsanalysen (Craig L. Blomberg, 73–90) beschrieben.
Den hermeneutischen Fragen ist eine zweite Abteilung gewidmet. Im Zentrum steht ein programmatischer Beitrag von Donald A. Carson über »hermeneutische Kompetenz« (147–172); er gibt einen Überblick über die Geschichte der Schriftauslegung, der nicht, wie in den meisten Lehrbüchern üblich, vom Standpunkt der liberalen Theologie um ihre Patrone Harnack und Troeltsch aus gegeben wird, sondern mehr Zahn und Schlatter die Ehre gibt (die katholische Hermeneutik aber ausblendet). Daneben stehen Stu-dien zum Gebrauch des Alten Testaments in neutestamentlichen Kommentaren (Richard S. Hess, 131–146), zum Verständnis von Röm 10,13 mit dem Zitat von Joël 3,5 (Daniel I. Block, 173–192) und von Röm 13,1–7 (David W. Pao, 193–214). Zwei weitere Beiträge ge­ben Einblick in die Praxis evangelischer (in Deutschland hieße es: freikirchlicher) Gemeinden, einer fokussiert den »Pastor« (Robert W. Yarbrough, 215–234), einer die Predigt (Walter L. Liefeld, 235–252); eine historische Studie zu Musculus verleiht der These, ein Kommentar müsse einen hohen Gebrauchswert für die Praxis ha­ben, Tiefenschärfe (Scott M. Manetsch, 253–266).
Die dritte Abteilung schaut auf die »Theologie«. Kevin J. Vanhoozer, Systematiker, plädiert dafür, bei den explizit als solchen überlieferten Gottesworten anzusetzen, um über Exegese zur Theologie zu werden und durch eine spirituelle Auslegung Verbindlichkeit zu generieren (269–298). Fallstudien erschließen die Deutung der Christologie in englischsprachigen Philipperkommentaren (Daniel J. Treier, 299–316) und in Auslegungen der Pastoralbriefe (Linda L. Belleville, 317–336).
Die vierte Abteilung untersucht paradigmatisch Einzelfälle: Einleitungsfragen in Synoptikerkommentaren (Darrel L. Bock, 339–363), Forschungstendenzen in der Römerbriefexegese (Stanley E. Porter, 365–404), Charakteristika von Jakobusbriefauslegungen (Scot McKnight, 405–419) und von Apokalypsekommentaren (Lois K. Fuller Dow, 421–448). – Der Insider-Bericht eines amerikanischen Verlegers von Kommentaren bildet den Abschluss (451–469).
Der sorgfältig edierte Band ist mindestens aus zwei Gründen wichtig: Erstens ist die evangelikale Exegese und Theologie in deutschen Universitätsdiskursen kaum präsent, weil sie an Fakultäten nur ausnahmsweise vertreten ist. Sie ist aber nicht nur weltweit von großem Gewicht; sie hat auch in der Kritik an Hyperkritik, in der beharrlichen Suche nach historischen Referenzen und in der leidenschaftlichen Frage nach aufbauenden Predigtimpulsen viel zu sagen. Die evangelikale mit fundamentalistischer Exegese gleichzusetzen, besteht nicht der geringste Grund. Wo es ge­schieht, wird nur ein Gespräch verweigert, das die Plausibilitäten der kritischen Einleitungswissenschaften, der religionsgeschichtlichen Exegese und des historischen Skeptizismus nicht zur Diskussion stellen will. Ob die vertretenen Positionen den Test eines kritischen Fachgesprächs bestehen können, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden.
Zweitens ist die Gattung des Kommentars zwar höchster Ehren voll, gilt sie doch als Königsdisziplin der Exegese; aber abgesehen von den Jahrzehnte zurückliegenden »Vorarbeiten« zum Evangelisch-Katholischen Kommentar (die im vorliegenden Band nicht aufgegriffen werden) gibt es nur sporadisch Forschungen über die Programmatik und Methodik von Kommentaren. Hier füllt der Band eine Lücke.
Dass die evangelikale Hermeneutik kein monolithischer Block ist, sondern selbst bei Schulgemeinsamkeiten Unterschiede aufweist, lässt sich am Sammelband zum Beispiel daran sehen, dass die Tradition der Auslegung teils als Problem gilt, das es exegetisch zu lösen gilt, teils als Pfund, mit dem es hermeneutisch zu wuchern gilt. Der Blick der Applikation richtet sich immer wieder auf den Einzelnen und die überschaubare Predigtzuhörergemeinde, kaum jedoch einmal auf die una sancta.
Die Komposition einer »Festschrift« folgt ihren eigenen Gesetzen. Sie führt in diesem Fall dazu, dass sich ausschließlich (mehr oder weniger) evangelikale Exegeten nordamerikanischer Universitäten äußern. Das ist kein Einwand gegen den Band, aber der Hinweis auf eine Grenze – und auf die Notwendigkeit einer internationalen und ökumenischen Forschung, vom Desiderat einer interreligiösen und interkulturellen Kommentaranalyse zu schweigen.