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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1203–1204

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dicken, Frank, and Julia Snyder[Eds.]

Titel/Untertitel:

Characters and Characterization in Luke-Acts.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2016. 256 S. = The Library of New Testament Studies, 548. Geb. US$ 114,00. ISBN 978-0-567-66391-7.

Rezensent:

Nils Neumann

Mit der Frage nach der Charakterisierung der in biblischen Erzähltexten auftretenden Figuren widmet sich der von Frank Dicken und Julia Snyder herausgegebene Sammelband »Characters and Characterization in Luke-Acts« einem sehr aktuellen Forschungsthema. Das anhaltende Interesse an der Thematik spiegelt sich auch darin, dass dies bereits der dritte Band zur Charakterisierung ist, der innerhalb weniger Jahre in der Library of New Testament Studies erscheint. Die Herausgeber verweisen ausdrücklich auf die Vorgänger »Characters and Characterization in the Gospel of John« (hrsg. v. Ch. W. Skinner, LNTS 461, London 2013) und »Character Studies and the Gospel of Mark« (hrsg. v. Ch. W. Skinner und M. Ryan, LNTS 483, London 2014). Aus welcher Projektgruppe die drei Veröffentlichungen hervorgegangen sind, legen sie dabei aber nicht offen.
Die narratologische Konzentration auf die Charakterisierung erlaubt es, die Darstellung handelnder Personen zu analysieren und dabei auch das Wirkungspotenzial der Schilderungen auf die Leserschaft des Werks auszumessen. Dies geschieht im vorliegenden Band, der sich in der exegetischen Figurenanalyse auf das sogenannte »lukanische Doppelwerk« fokussiert. Viele der hier vereinigten Beiträge sind auch unter methodologischer Perspektive instruktiv.
Dazu zählt etwa der Aufsatz »The Woman who Crashed Simon’s Party« (7–22), in dem J. L. Resseguie die »Salbung Jesu durch die Sünderin« (Lk 4,36–50) aus rezeptionsorientierter Perspektive untersucht. In Anknüpfung an die narratologischen Arbeiten von W. Iser und V. Shklovsky (10) nimmt er in diesem Textabschnitt eine Er­zähltechnik wahr, die er als »defamiliarization« (21) beschreibt. Eine Sünderin tritt auf, die sich dann aber nach der maßgeblichen Bewertung durch Jesus konträr zu dem verhält, was die Lesenden von einer Sünderin erwarten würden. Der Ansatz ließe sich ge­winnbringend auf weitere Szenen des Lukasevangeliums ausweiten, die ebenfalls gängige kulturelle Erwartungen aufnehmen, diese dann aber durch das Mittel der Charakterisierung konkreter Figuren in der Erzählung auf den Kopf stellen. Dies ist zum Beispiel im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (10,25–37), bei der Heilung der zehn Aussätzigen (17,11–19), im Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (18,9–14) oder bei der Begegnung Jesu mit Zachäus (19,1–10) der Fall. Indem es systematisch geltende soziale Grenzen hinterfragt, wirkt das Lukasevangelium auch auf das Selbstverständnis der Gemeinschaft ein, für welche es bestimmt ist.
Gezielt befasst sich der Beitrag »Levi’s Banquet (Luke 5:29–39) and Lukan Discipleship« (23–39) von J. A. Darr sodann mit dem Prozess der Identitätsbildung (»identity formation«) durch das Lukasevangelium. Darr hält die »Berufung des Levi« für eine besonders programmatische Szene (26 f.). Die lukanische Redaktion des Stoffes dient seiner Ansicht nach dazu, vom Beginn des Wirkens Jesu an wichtige Eckpunkte dessen zu skizzieren, was Lukas unter Jüngerschaft versteht. Nicht nur für die weitere Lektüre des Lukasevangeliums, sondern auch für die der Apostelgeschichte behielten diese ihre Gültigkeit. Gemäß der Auslegung Darrs speisen Jesus und seine Jünger gerade deshalb mit dem in die Jüngerschaft gerufenen Zöllner, weil dieser nach der synoptischen Tradition als idealtypischer Sünder gilt. Für das Selbstverständnis der lukanischen Jünger sei es nun charakteristisch, dass diese sich als umgekehrte Sünder begreifen (34). Ob dies nun auch für die Identität der gesamten lukanischen Gemeinschaft zutrifft, mag man bezweifeln. Der Einbezug des ganzen Lukasevangeliums legt es eher nahe, dass diese eine gewisse Heterogenität aufweist, so dass der Lukas-Evangelist gegenüber seiner Leserschaft zur Mitfreude aufrufen muss, wenn Sünder die Umkehr vollziehen und sich der Gemeinschaft an­schließen (vgl. vor allem Lk 15). Unzweifelhaft besteht das Verdienst von Darr jedoch darin, den Zusammenhang zwischen Charakterisierung und der Formung von Identität durch das Lukasevangelium hervorgehoben zu haben. So zeichnet der Beitrag die Verbindung zwischen der erzählten Welt des Texts und der Wirklichkeit seiner Adressatenschaft schlüssig nach.
F. S. Spencer betrachtet unter dem Titel »A Woman’s Touch« (73–94) solche Szenen des Lukasevangeliums, die Jesus mit weiblichen Figuren interagieren lassen. Dabei spielen die Aspekte der Berührung und der Emotion wiederkehrend eine Rolle. Spencer erblickt dahinter eine lukanische Gesetzmäßigkeit (»law of emotion«), die bei der Leserschaft die Bereitschaft zum Handeln (»action readiness«) weckt (93).
Mit »Sight and Spectacle« (141–153) untersucht B. E. Wilson die Paulus-Darstellung der Apostelgeschichte. Sie nimmt dabei wahr, wie häufig die Schrift das Auftreten des Paulus in Konflikt-Situationen als Aufsehen erregendes Ereignis (gr. θεωρία) schildert. Als solches steht es im Kontext des römischen Zirkus-Spektakels (142f.), das Wilson aufgreift, um eine Parallele zwischen der Mission des Paulus und dem Wirken Jesu im Lukasevangelium (vgl. Lk 23,48) zu konstruieren (152). Die Studie ließe sich gut vor der Folie griechisch-römischer Rhetorik zu einem Nachdenken darüber ausweiten, wie der Text durch die Beschreibung des Spektakels auch das innere Sehvermögen seiner Leserinnen und Leser aktiviert.
Bei aller Verschiedenheit belegen die Beiträge in »Characters and Characterization in Luke-Acts« somit deutlich, wie sich narratologische Untersuchungen mitnichten in einer schieren Nachzeichnung textimmanenter Merkmale erschöpfen. Vielmehr übt das lukanische Werk durch das Mittel der Charakterisierung einen gezielten Einfluss auf das Selbstverständnis, das Empfinden und das Verhalten seines Publikums aus.
Am Ende des Bandes finden sich ein die Beiträge übergreifendes Literaturverzeichnis (213–231) sowie Stellen- (233–246), Themen- (247–249) und Autorenregister (251–254), die die Arbeit mit dem Buch erleichtern.