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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1259–1262

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Timm, Hermann

Titel/Untertitel:

Dichtung des Anfangs. Die religiösen Protofiktionen der Goethezeit.

Verlag:

München: Fink 1996. 207 S. 8. Kart. DM 68,-. ISBN 3-7705-3159-0.

Rezensent:

Jan Bauke

In der gegenwärtigen deutschsprachigen Theologie erlebt das theologische Programm einer "Theopoesie" bzw. die Fragestellung einer "po(i)etologischen Theologie"1 eine gewisse (Hoch-) Konjunktur. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieser Fragestellung liegen insbesondere in der deutschen Romantik mit ihrer Idee einer Universalpoesie. Hermann Timm hat sich seit Jahren dieser Zeit zugewandt2 und seine Vorarbeiten zur Frage der "Theopoesie" der Goethezeit3 nun in einem eigenen Bändchen "Dichtung des Anfangs. Die religiösen Protofiktionen der Goethezeit" vorgelegt.

Der Vf. verweist zunächst - in Anwendung einer These von Novalis, die Friedrich Schlegel in die Maxime "Das Denken des religiösen Menschen ist etymologisch, ein Zurückführen aller Begriffe auf ursprüngliche Anschauung" (178) gebracht hat - auf den nautischen Sitz im Leben des "muttersprachlich" übersetzten Wortes "Dichtung": "Dichten heißt Schiffe dichten: Planken verfugen und die Ritzen versiegeln, damit eine Oberflächenspannung entsteht, auf der man die Meerfahrt des Lebens wagen kann ... Während sich die poiesis am festländischen Ins-Werk-Setzen orientiert, speziell am Unerschütterlichkeitseros der Statiker und Architekten (Grundsteinlegung, Felsenfestigkeit, fundamentum inconcussum), führt die Dichtung zur Küste, wo es gilt, dem Fundamentalismus Adieu zu sagen ... Dichtung ist die muttersprachlich ins Wasser gesetzte Poesie der Neuschöpfung auf schwankendem Boden" (9 f.). Was abgedichtet wird, bleibt, nautisch-metaphorisch gesprochen, an der (Wasser)Oberfläche, ist, wenn die gewasserte Dichtung wieder ans Land gesetzt wird, oberflächenorientiert und -interessiert (16). Dichtung hat es so gesehen mit Daseinszugewandtheit zu tun (15.80), die sich mit Blick auf die philosophische Subjektivitätsproblematik als "Abdichtung des egologischen Tiefensogs zugunsten extensiverer Respektierung der Gegenwartsmodi des Heiligen" (22; vgl. auch 14.16.173), mit Blick auf die theologische Gottesproblematik als "Abdichten zugunsten einer Horizontalisierung des Inkarnationslogos (26) präsentiert.

Beides will der Vf. mit der "Dichtung des Anfangs" der Goethezeit zeigen, die in ihrer Mittel- oder Zwischenstellung neben oder zwischen den theologischen Reflexionen des Anfangs im Credo (Glaube) und den philosophischen Bemühungen um den Anfang im Cogito (Vernunft) ein respektables Alternativ-Modell für die Thematisierung von Anfangsgründen und Letztbegründungen bietet (14) und die historisch-genetische Archäologie ("am Anfang war") mit der logisch-performativen ("im Anfang") durch die Allianz von Hermeneutik und Poetik produktiv verbindet. Die "goethezeitliche Dichtertheologie" wird darin nicht nur zur Vorläuferin der Gruppe "Poetik und Hermeneutik", der der Vf. bis zur ihrer Auflösung im letzten Jahr angehörte, sondern markiert als "revolutionäre[s] Unternehmen einer neuen Weltfindung jenseits von Credo und Cogito" (22) mit seiner Entdeckung der Kategorie des Gefühls (23), der Sprachlichkeit (Logos, Mundart) (23 f.), des Antlitzes (24), der Plastik (25) und der Liebe (25 f.) den "Denkwandel ..., der aus der metaphysischen Gottesreligion von Patristik und Scholastik die postmetaphysische Geistreligion der Moderne werden ließ"4 und nachzeichnen soll, "wie der Wandel vom metaphysisch-spekulativen Altertum in die hermeneutisch-phänomenologische Moderne vollzogen wurde" (41), eine "relativ eigenständige Wahrheitsgestalt der Offenbarungsreligion außerhalb des akademischen Streits der Fakultäten" (14), die auch "in unserer eigenen Jetztzeit" möglich ist5 und gerade so "etwas für die herkunftsgeschichtliche Verständigung über die eigene Bewußtseinslage in der sogenannten Spät- oder Postmoderne" (14) aussagen könnte.

Die Konturen dieser "goethezeitlichen Dichtertheologie" sucht der Vf. nach den beiden Eingangskapiteln "Die Botschaft hör’ ich wohl ... Dichter-Theologie nach der Aufklärung" (13-30) und "Poiesis und Mimesis. Kontingenzwaltung nach Dichters Art" (31-48) in neun Einzelporträts (49-200) herauszuarbeiten. Den Anfang machen zwei Aufsätze über Gotthold Ephraim Lessing (49-69.70-78) und Johann Gottfried Herder (94-113; vgl. auch 193 f.), die der Vf. als "Gründergestalten dessen, was man die Kunstreligion oder Dichtertheologie des Neuprotestantismus nennen könnte" (49), bezeichnet. Es folgen sechs Kapitel über die eigentliche Blüte- und Hochzeit der "Dichtertheologie der Goethezeit" in der Romantik und im deutschen Idealismus (Johann Wolfgang Goethe [79-93], Friedrich Hölderlin [142-144.149-162], Novalis [114-137. 146-148.175-182], Friedrich Schlegel [114-137] und Friedrich Schleiermacher [114-137.169-175]). Den Schluß, der freilich ein wenig aus der thematischen Reihe zu tanzen scheint, macht Kapitel XI "Deutschland als europäische Seelenlandschaft. Ein Stück topographischer Kulturpoetik" (186-200).

Zwei Charakteristika der "Dichtertheologie der Goethezeit" seien stellvertretend für die neun Einzelporträts, deren detaillierte Profile an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden sollen und können, herausgehoben, zum einen ihr Insistieren darauf, daß die "Dichtertheologie" in vermeintlich petrifizierten Entweder-Oder-Konstellationen fundamentaltheologischer oder -philosophischer Provenienz das "tertium datur!" entdecke, den "dritten Weg zwischen Himmelshöhe und Höllentiefe" (11) - fast so etwas wie ein Leitmotiv in T.s Buch (vgl. 20.26 ff.) -, zum anderen aber ihre entschiedene Abkehr von metaphysischen Spekulationen und ihr ebenso entschiedener Wille, sich in ihrem Vollzug dem irdischen Dasein zuzuwenden. Besonders anschaulich wird das "dichtertheologische" Beharren auf dem "tertium datur!" in des Vf.s Darstellung von "Lessings Neuinszenierung der Geistesgeschichte" (49). Lessing, "Liebhaber der Theologie und nicht Theolog" (53; vgl. 76 f.), arrangiere, so die These vom Vf., den für die Konstituierung des Neuprotestantismus zentralen Konflikt zwischen dem Rationalismus Samuel Reimarus’ und dem orthodoxen Glauben des Hamburger Pastor Goeze (55) "als literarischen Schaukampf von tragikomischer Selbstwidersprüchlichkeit" (60), um gerade dank dieses Arrangements "die Bühne für das dritte Reich des freischaffenden Geistes" (64) jenseits von "Dogmatismus der Heilstatsachen und dem Kritizismus ihrer bloßen Wahrscheinlichkeiten" (64) zu errichten - eine großangelegte Legitimation seiner eigenen "parabolisch-änigmatische[n] Dichtertheologie" (53) als der "einzig mögliche[n] Wahrnehmung der Religionsthematik nach vollbrachter Aufklärung" (50). Vorgezeichnet ist dieses "Tertium datur!" im trinitarischen Symbol des Christentums (65 f.), angedeutet hat Lessing sie in der "Erziehung des Menschengeschlechts" und im "Nathan", dessen Ringparabel der Vf. ein eigenes Kapitel gewidmet hat ("Originalkopie. Die Parabel vom dreieinigen Ring" [70-78]). Auch sie will das Widereinander von Offenbarung und Vernunft überwinden (71), indem sie poetisch schildert, daß Religion kein juridifizierbares Eigentum sein kann (71), und die Unzulänglichkeit der Rechtsvernunft in Sachen Religion aufzeigt (74).

Als "Vordenker der Lebenswelttheologie" (94) skizziert der Vf. im Kapitel "Geerdete Vernunft" (94-113) Johann Gottfried Herder, den "Generalsuperintendent[en] auf dem Sächsischen Olymp" (193 f.). Herder, der theologiegeschichtlich schwer einzuordnen ist (98) und in systematischer Hinsicht "viel zu wünschen übrig [läßt]" (112), führt den durch Kopernikus’ Universalisierung (94 f.), Kolumbus’ Globalisierung (95 f.) und Spinozas Mundanisierung des Kosmos (96 f.) begonnenen Transformationsprozeß auf allen Gebieten durch (97). Sein eigenes Profil gewinnt er dabei aus einer "Synopse von archäologischer Plastizität [Johann Joachim Winckelmann, J. B.], ästhetischer Wahrheit [Alexander Gottlieb Baumgarten, J. B.] und logischer Schöpfung [Johann Georg Hamann, J. B.]" (101), dessen "poetologische[r] Wende" er den "Impuls zur Neuordnung christlicher [korr.] Theologie entnahm" (100). Unter dem Leitwort "Morgenland" resp. "Orient" samt der aus der "märchenhaften Urpoesie" (194) des "Urdichter[s] des Menschengeschlechts und Archipoet[en] der Schöpfung" (193) Mose gewonnenen Devise "ex oriente lux" (106), die die "Tiefengrammatik seiner Theologie" (106) steuern, wendet sich Herder so "zur ,Denkart der alten Welt’, der orientalischen, der Patriarchenwelt, die ihm eine physik- wie metaphysikfreie ,Erdbildlebenskunst’ präfigurieren soll" (101). "Der mit Herders Augen gelesene Schöpfungsmythos wurde zur poetica in nuce, so daß die gottebenbildliche Bestimmung des Menschen sich zum Dichtermenschentum wandelte. Imago Dei - homo poeta" (152). Damit kommt Herder in der goethezeitlichen "Poesie des Anfangs" eine Schlüsselstellung zu, "um ein Orientierungsangebot (vgl. die Ausführungen zu Orient - Orientierung) für die Erdenmenschheit zu unterbreiten, im Zentrum neuprotestantischer Religionsbildung etabliert" (112).

Wie sich diese Religionsbildung innerhalb der romantischen "Literaturreligion" (114 Anm. 1) bei Schleiermacher, Novalis und Friedrich Schlegel vollzieht, zeichnet der Vf. in den Kapiteln "Universalität und Individuation. Das Konzept des frühromantischen ,Christianismus’" (114-137) und "Originierungspietät. Die frühromantische Religionspoetik" (163-185) nach. Der Vf. hebt dabei insbesondere auf das Religionsverständnis Schleiermachers ab (169-175) und zeigt Schleiermachers Bemühen, aus der theologia naturalis der Aufklärung und ihrer Gegner eine theologia natalis zu machen, die Gott als "Woher unserer schlechthinnigen Abhängigkeit" (171 f.) versteht und so den Gottesgedanken religiosifiziert (172) und ans menschliche Dasein zurückbindet. Vollmundig schließt der Vf.: "Wir werden immer schleiermacherbedürftiger. Die Inkarnation des ,Erdgeistes’ und der ,echte Naturalismus’ der Religion dürften ihre Zeit noch vor sich haben" (185).

Altem Brauch folgend (201) bietet der Vf. zum Schluß seines Buches die "Lehre" der "Fabel". "Wes Geistes Kind sind die Anfangsdichtungen der Goethezeit? Und wie wäre ihre Denkwürdigkeit vor Ort unserer eigenen Zeitgenossenschaft zu adoptieren?" (201). Was vor gut zweihundert Jahren der Versuch war, gegen den Szientismus samt seiner Vorherrschaft von Mechanik und Physik eine Kosmologie more poetico zu entfalten, erfährt heute als Rückkehr zur Erde und ihrer "Lebenswelt" (vgl. o.) eine ungeahnte Renaissance. Denn die astronautischen Exkursionen ins Weltall haben eines "wider Willen" gezeigt: "Exzentrisch reflektiert, hat der Globus eine Anmut und Würde gewonnen, die uns mit photographischer Evidenz zu sagen erlaubt, weshalb sich alle Götter in diese Welt, die Menschenwelt ... verliebten. Schöner ist es nirgends" (202). Was bleibt, ist die Erkenntnis: "Die Erde hat uns wieder. Und ihr könnt sagen, daß ihr dabeigewesen seid, bei der Epiphanie der Mundanität" (202). Dies Erlebnis als Neuanfang zu besingen, wäre Aufgabe einer "Dichtung im Anfang" unserer Tage.

Leicht macht es der Vf. seinen Lesern und Leserinnen mit seinem Plädoyer für einen Neuanfang einer "Dichtung des Anfangs" freilich nicht. Was er - zugebenermaßen kenntnisreich und fundiert - bietet, wirkt oft Metaphern-übersättigt und Assoziationen-überladen, ist "muttersprachlich" allzu sehr gespickt mit etymologischen Kapriolen und Übersetzungsvorschlägen (11.177) - "Übersetzen lautet die Parole der Geistreligion: Üb’ ersetzen! Üb’ er setzen!"6 - "in unserem geliebten Deutsch" (203), die die Worte beim Wort nehmen ("Dichterglaube ist dichter Glaube" [80] oder "Besonnene Vernunft ist geerdete Vernunft" [203; Hervorhebung J. B.]). Schwere Kost also, die den Verdauungsprozeß der interpretierenden Vernunft hemmt, vor allem aber der anvisierten "Dichtung des Anfangs" wenig bekömmlich ist. Wer an Blähungen leidet, singt selten neue Lieder. Vieles von dem, was dem Vf. bei seinem Plädoyer für den Neuanfang einer "Dichtung des Anfangs" vorschwebt, ließe sich, das die Behauptung des Rez., auch weniger schwülstig formulieren. Daseinszugewandtheit fängt bei der eigenen Sprache an.

Fussnoten:

1) Vgl. O. Bayer, Poetologische Theologie? Überlegungen zur Poesie des Versprechens, in: ThLZ 124, 1999, 3-14; ders., Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999 (angekündigt); U. H. J. Körtner [Hrsg.], Poetologische Theologie. Zur ästhetischen Theorie christlicher Sprach- und Lebensformen, Ludwigsfelde 1999.

2) H. Timm, Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Bd. 1: Die Spinozarenaissance (SPLNJ 22), Frankfurt/M. 1974; Ders., Heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik. Schleiermacher - Novalis - Fr. Schlegel, Frankfurt/M. 1978; ders., Fallhöhe des Geistes. Das religiöse Denken des jungen Hegel, Frankfurt/M. 1979.

3) H. Timm, Die Botschaft hör’ ich wohl ... Dichter-Theologie nach der Aufklärung, in: G. vom Hofe/P. Pfaff/H. Timm, Was aber bleibet stiften die Dichter? Zur Dichter-Theologie der Goethezeit, München 1986, 19-36; im besprochenen Band "Dichtung des Anfangs" als erstes Kapitel (13-30) abgedruckt.

4) H. Timm, Kontingenzrepräsentation. Schöpfung und Erlösung in der goethezeitlichen Dichtertheologie, in: G. v. Graevenitz/O. Marquard [Hrsg.], Kontingenz (Poetik und Hermeneutik 17), München 1998, (319-341) 319.

5) H. Timm, Dichterisch wohnen. Auf der Suche nach einer ökomorphen Ästhetik, in: E. Valtink [Hrsg.], Sperrgut Literatur. Plädoyer für ein Spannungsverhältnis von Literatur und Theologie (Hofgeismarer Protokolle 261), Hofgeismar 1989, (129-147) 129.

6) H. Timm, Sprachenfrühling. Perspektiven evangelisch-protestantischer Religionskultur, Stuttgart 1996, 9.