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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1197–1200

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Arzt-Grabner, Peter

Titel/Untertitel:

2. Korinther

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. 583 S. = Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament, 4. Lw. EUR 130,00. ISBN 978-3-525-51002-5.

Rezensent:

Manuel Vogel

Schon länger liegt nun bereits der 4. Band der Papyrologischen Kommentare zum Neuen Testament vor. Mit dem Kommentar zum 2. Korintherbrief hat Peter Arzt-Grabner den bisher umfangreichsten Band zu der von ihm initiierten und nunmehr zusammen mit John S. Kloppenborg (Toronto) und Mauro Pesce (Bologna) verantworteten Reihe beigesteuert. Enthalten sind darin, wie das Vorwort vermerkt und die Anmerkungen dokumentieren, Vorarbeiten von Ruth E. Kritzer. Für die Besprechung der ersten drei Bände sei auf die vorhandenen Rezensionen verwiesen, die über Ausrichtung und Anliegen der Reihe das Ihre sagen: J. Chapa, ThLZ 130 [2005], 160–162, zum Philemonbrief (Peter Arzt-Grabner), sowie K.-W. Niebuhr, ThLZ 132 [2007], 1186–1189, und ThLZ 136 [2011], 1181–1183, zum 1. Korintherbrief (Ruth E. Kritzer, Amfilochios Papathomas u. a.) und zum 2. Thessalonicherbrief (Christina Maria Kreinecker).
Der nun zu besprechende Band stellt insofern einen einstweiligen Höhepunkt der Reihe dar, als die Erschließung der antiken Papyri, Ostraka und Täfelchen vom 4. Jh. v. Chr. bis Anfang des 4. Jh.s n. Chr. – »ab dann [sind] die entsprechenden Dokumente ­ maßgeblich christlich geprägt« (48) – nun für eine Schrift fruchtbar gemacht wird, die wie kein anderer Text der neutestamentlichen Briefliteratur eine Synthese zwischen brieflicher Form und persönlicher Kommunikation darstellt und nur so überhaupt zu begreifen ist. Der 2. Korintherbrief ist Theologie und Kommunikation in Briefform, ist briefliches Dokument einer sachlichen und zugleich höchst persönlichen Auseinandersetzung von größter Dichte und Dramatik. Die Auswertung der in den Papyri dokumentierten brieflichen Alltagssprache und -kommunikation ist deshalb be­sonders verdienstvoll und vielversprechend, und sie beschränkt sich keineswegs auf den lexikalischen Befund zum paulinischen Wortgebrauch, der freilich für sich selbst schon wichtig und ertragreich genug ist: Da der Kommentar nicht einfach Wortbedeutungen notiert, sondern das Vorkommen des jeweiligen Wortes im Satzzusammenhang des jeweiligen Papyrustextes bietet, längere Sätze zudem in Übersetzung, und den Sachzusammenhang des zitierten Textstückes kurz erläutert, entsteht im lexikalischen Zugriff ein reiches und sozial- und kulturgeschichtlich anschauliches Bild antiken Alltagslebens. Für die Paulusexegese, die in ihrem berechtigten Interesse am theologischen »Ertrag« des paulinischen Denkens stets versucht ist, die briefliche Argumentation des 2Kor auf die abstrakte Ebene einer theologischen Binnensemantik zu heben, wird durch A.s Kommentar Vers für Vers und Wort für Wort an die alltagssprachlichen Verwendungszusammenhänge des paulinischen Vokabulars erinnert. Zu ὑπήκοος in 2,9 wird beispielsweise ausgeführt, dass dieses Adjektiv »in den Papyri nur selten« begegnet, dass man aber »dennoch ein aufschlussreiches Bild davon [erhält], in welcher Beziehung ›gehorsame‹ Personen zu jenen, die ihnen dieses Verhalten abverlangten, in der Regel standen« (247). Es folgen kommentierte Zitate aus einem Papyrus mit den Abschriften mehrerer Testamente, aus dem Lehrvertrag eines Webers und aus dem Schreiben an einen Präfekten.
Erwartungsgemäß sind die papyrologischen Funde, die diesem Kommentar zugutekommen, aber auch oberhalb der lexikalischen Ebene aufschlussreich, sofern die Papyri explizit oder implizit zahllose Einzelheiten des antiken Briefverkehrs erhellen. Hier ist besonders der für 2Kor 3,1–3 unmittelbar wichtige Exkurs »Empfehlungsbriefe« (270–276) zu nennen, oder aber die Ausführungen zum Überbringen von Briefen innerhalb der Einleitung (171–176).
Die Einleitung (47–180) widmet sich mit einiger Ausführlichkeit der Frage der literarischen Einheitlichkeit des 2Kor, die die Forschung bis heute nachhaltig beschäftigt. Während Literarkritik in den übrigen Paulusbriefen gegenwärtig kaum mehr eine Rolle spielt, wird über die literarische Integrität des 2Kor bis heute lebhaft gestritten. A. widmet der literarkritischen Frage nicht weniger als 77 Seiten (»Papyrologisches zur Frage der Einheitlichkeit des 2Kor«: 71–148). Aber auch die allgemeineren Ausführungen S. 51–71 (»Papyrusbriefe und 2Kor«) sind für die Frage der Einheitlichkeit zum großen Teil von Bedeutung, so dass der Kommentar auf fast hundert Seiten, d. h. gut einem Sechstel des Gesamtumfangs, mit diesem Thema befasst ist. Vorgreifend kann gesagt werden, dass A. die Diskussion von papyrologischer Warte aus um wesentliche Aspekte bereichert und neu belebt hat.
Von Belang sind bereits die Ausführungen zu Brieflänge und Beschreibmaterial, etwa zu den von E.-M. Becker und A. Steward-Sykes vorgetragenen Überlegungen, der 2Kor könnte auf einzelne Wachstäfelchen oder einzelne Papyrusblätter geschrieben worden sein (54–57). Dem steht der papyrologische Befund entgegen, dass der 2Kor eine Vielzahl von Täfelchen benötigt hätte, wofür es aber bisher keine antiken Belege gibt. Auch Szenarien einer (aus der Johannesforschung sattsam bekannten) Blattvertauschung infolge einer Niederschrift des 2Kor auf einzelnen Papyrusblättern können ausgeschlossen werden, da zwar Papyrusrollen aus einzelnen Blättern gefertigt wurden, doch üblicherweise Rollenstücke in der für das jeweilige Dokument passenden Größe aus einer aus Einzelblättern zusammengeleimten Rolle herausgeschnitten wurden. »Mir ist (…) kein Fall aus ptolemäischer und römischer Zeit (also auch paulinischer Zeit) bekannt, wo ein Brief oder ein Dokument auf mehrere lose Blätter geschrieben worden wäre« (56). Der längste bisher bekannte Privatbrief aus griechisch-römischer Zeit (Mai/ Juni 348 n. Chr.) entspricht in etwa der Länge des Galaterbriefes. Er ist auf einem einzigen Papyrus von ca. 75 cm Länge in Kolumnen geschrieben. Der doppelt so lange 2Kor hätte also auf eine Rolle von ca. 1,5 m gepasst. Eine Papyrusrolle in der Standardgröße von 20 Blatt maß ca. 2,2 m, hätte also für den 2Kor ausgereicht (57).
Im Blick auf die in der Forschung bisher für und wider die literarische Integrität des 2Kor entwickelten Hypothesen gilt, dass zwar, so A., aus papyrologischer Sicht keine eindeutige Entscheidung getroffen werden könne, dass es aber möglich sei, einen Rahmen abzustecken, der es erlaubt, den Wahrscheinlichkeitsgrad vorhandener Erklärungsmodelle besser als bisher einzuschätzen. Hierfür sind Papyrusbriefe deshalb geeignet, weil sie »in authen-tischer, also ursprünglicher Form erhalten« sind und »keinem sekundären Redaktionsprozess unterzogen« wurden. »Sie bieten deshalb die Möglichkeit, Originale zu studieren und dabei zu erheben, ob und bis zu welchem Ausmaß einheitliche Briefe, die in zeitlicher Nähe zu den Paulusbriefen verfasst wurden, inhaltliche Spannungen, Unterbrechungen, Einschübe oder Wechsel im Tonfall enthalten haben.« Mithin geht es daum,
»wie die Frage der Einheitlichkeit des 2Kor vor dem Hintergrund der griechisch-römischen Papyrusbriefe einzuschätzen ist, also inwieweit dessen Spannungen auf für antike Briefgewohnheiten mehr oder weniger übliche Stimmungswechsel, Exkurse oder aufeinander folgende Teile ein und desselben Briefes zurückgeführt werden könnten oder bereits als Indizien für eine Komposition des 2Kor aus mehreren ursprünglich separaten Briefen gedeutet werden sollten« (74 f.).
A. unterscheidet zunächst drei Gruppen von Papyrusbriefen: a) »Se­parate Papyrusbriefe mit klar unterscheidbaren Briefsituationen« (75–81), b) »Einheitliche Papyrusbriefe mit unterschiedlichen Beschreibungen derselben Briefsituation« (81–91) und c) »Separate Papyrusbriefe mit kaum unterscheidbaren Briefsituationen« (91–95). Zu jeder dieser Gruppen bietet er instruktive Textbeispiele. Zur ersten Gruppe zählen zwei Briefe desselben Absenders an denselben Adressaten, die aber situativ klar zu unterscheiden sind. Eine gedachte Kompilation beider Briefe zu einem einzigen wäre in diesem Detail widersprüchlich und damit als Kompilation erkennbar. Die Briefe der zweiten Gruppe enthalten deutliche Spannungen, die, wäre die literarische Integrität nicht durch den originalen Papyrus erwiesen, als Indiz dafür gedeutet werden könnten, dass es sich bei dem Dokument um eine Briefkompilation handelt. Die angeführten Textbeispiele »veranschaulichen die Bandbreite dessen, was an unterschiedlichen Äußerungen innerhalb eines einheitlichen Briefes der damaligen Zeit und Kultur Platz finden konnte« (82). Bei den Textbeispielen der dritten Gruppe handelt es sich wiederum um Briefe mit identischem Absender. Bei diesen Briefen ließen sich durch entsprechendes teilweises Weglassen der Eingangs- bzw. Schlussgrüße Briefkompositionen herstellen, die keinerlei Anzeichen literarischer Uneinheitlichkeit aufwiesen, weil sie keine sachlichen Widersprüche oder Spannungen enthielten. Als Kompilationen wären sie dann nicht mehr identifizierbar.
Unter der Voraussetzung, dass 2Kor weder unvereinbare Widersprüche in den Angaben zur Briefsituation enthält, noch in dieser Hinsicht völlig spannungsfrei ist, bieten sich die Briefe der zweiten Gruppe als einschlägige Vergleichstexte an. Zwar kann durch diesen Vergleich weder die Einheitlichkeit noch die Uneinheitlichkeit des 2Kor erwiesen werden. Es kann aber gefragt werden, »ob der 2Kor im Rahmen derartiger Beispiele bleibt«, oder »ob die emotionalen Schwankungen des Paulus und seine Beschreibungen der Briefsituation nicht weiter voneinander abweichen als in manchen der oben präsentierten Papyrusbriefe. Oder anders gefragt: Können die konkreten Spannungen innerhalb des 2Kor sinnvoll auf eine einheitliche Briefsituation bezogen werden und in einem einheitlichen Brief Platz gefunden haben, oder sind sie so groß, dass sie diesen Rahmen sprengen?« (96)
Mit dieser Leitfrage diskutiert A. anschließend drei gängige Teilungshypothesen (95-105), zwei Erklärungen für die mögliche Einheitlichkeit (105–112), sowie literarkritisch relevante inhaltliche und sprachliche Beobachtungen zu den einzelnen Teiltexten 2Kor 10–9/10–13; 2,14–7,4; 6,14–7,1; 8 f. (112–137). Unter den zahlreichen genuin papyrologischen Beobachtungen möchte ich zwei herausgreifen: a) Textbeispiele aus dem Zenon-Archiv (100–105) vermitteln einen Eindruck von der augenscheinlich als notwendig angesehenen klaren Unterscheidbarkeit und formalen Vollständigkeit und Abgeschlossenheit von Briefen sowohl bei Originalbriefen wie auch bei Archiv-Kopien, etwa auch bei mehreren binnen weniger Tage verschickten und empfangenen Briefen desselben Absenders an denselben Empfänger. Die Frage der Einheitlichkeit des 2Kor kann durch diese Vergleichstexte nicht entschieden werden. Sie zeigen aber, dass jedenfalls im alltäglichen privaten und geschäftlichen Briefverkehr der formalen Vollständigkeit von Briefen ein hoher Wert zugemessen wurde.
Zwar war bei einer möglichen Kompilation des 2Kor dem Erfordernis der Identifizierbarkeit eines eingefügten Briefes als paulinisch durch seinen neuen Briefkontext Genüge getan. M. E. vermitteln die Zenon-Briefe aber einen Eindruck davon, dass ein Kompilator jedenfalls gute Gründe gehabt haben muss, Paulusbriefe als formal eigenständige Briefe unkenntlich zu machen zuguns­ten einer Briefkomposition von späterer Hand. b) Zu der Hypothese, nach der Abfassung von 2Kor 1–9 hätten Paulus neue und nun wiederum schlechte Nachrichten aus Korinth erreicht, die ihn zur Abfassung der Kapitel 10 bis 13 veranlassten, bietet A. ebenfalls instruktive Vergleichstexte. Zwar ist belegt, dass Briefe in mehreren Teilen über einen zeitlichen Abstand hinweg verfasst wurden, doch fällt bei den angeführten Briefen auf, »dass die Briefsender relativ deutliche Hinweise geben, wenn während der Abfassung des Briefes etwas vorgefallen ist, das zu einer Unterbrechung oder einem späteren Nachtrag geführt hat. In 2Kor fehlt aber jeglicher Hinweis dieser Art« (107).
Beide Beispiele zeigen, dass die Diskussion zur Literarkritik des 2Kor durch die papyrologische Expertise des vorgelegten Kommentars erheblich befördert und an nicht wenigen Stellen auch korrigiert wird. Dass A. sich in der »[z]usammenfassende[n] Schlussfolgerung« (137–148) für die literarische Einheitlichkeit des 2Kor ausspricht, sei nur am Rande erwähnt. Die Beispiele zeigen aber auch, wie fruchtbar die Auswertung der antiken Papyri für die neutestamentliche Briefliteratur weit über Fragen des Lexikons hinaus ist. Auch dort, wo die beigebrachten Belege die geläufige Wortsemantik lediglich bestätigen und insofern wenig Neues beitragen, entstehen doch schlaglichtartig Miniaturen antiken Alltagslebens, die maßgeblich helfen, die neutestamentlichen Texte als Teil ihres kulturellen Entstehungskontextes wahrzunehmen. Dass andere Forschungsperspektiven, etwa das hellenistische Judentum, damit nicht relativiert, sondern ergänzt werden sollen, versteht sich von selbst. Der weiteren Forschung zum 2Kor ist zu wünschen, dass sie dem Band die ihm gebührende Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt.