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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1194–1197

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Sweeney, Marvin A.

Titel/Untertitel:

Isaiah 40–66.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2016. XX, 432 S. = The Forms of the Old Testament Liter­ature. Kart. US$ 55,00. ISBN 978-0-8028-6607-3.

Rezensent:

Torsten Uhlig

Genau 20 Jahre nach dem Erscheinen seines Kommentars zu Jesaja 1–39, der sich bei aller Kürze durch seine gründlichen historischen und formkritischen Auslegungen sowie eine gut nachvollziehbare redaktionsgeschichtliche These auszeichnet, legt der renommierte jüdische Ausleger Marvin A. Sweeney (Professor of Hebrew Bible an der Claremont School of Theology und Professor of Tanak an der Academy for Jewish Religion in Californien) in derselben Reihe seinen Kommentar zu Jesaja 40–66 vor.
In der Einleitung zum Kommentar, die an den Aufbau der Kommentierung jedes Abschnittes angelehnt ist, verhandelt S. zentrale Fragestellungen der Auslegung von Jesaja 40–66. Er sieht in Jes 40–55 ein ursprünglich eigenständiges Werk eines anonymen Propheten, komponiert kurz nach der Machtübernahme von Kyros in Babylon, das gegen Ende des 6. Jh.s v. Chr. mit den überlieferten und redaktionell überarbeiteten Worten Protojesajas zu einem Buch zusammengearbeitet wurde. Dieses erfuhr zunächst eine Ergänzung um Jes 60–62. Mit der Erweiterung um Jes 56–59; 63–66 sowie einigen Einschreibungen in Jes 1–62 fand die Entstehung des gesamten Jesajabuches gegen Ende des 5. oder Anfang des 4. Jh.s v. Chr. seinen Abschluss und lässt dabei in seiner Endgestalt einen parallelen Aufbau erkennen (Jes 1–33//Jes 34–66).
Den parallelen Aufbau sieht S. bereits in der großen Jesajarolle von Qumran (1QJesa) angedeutet (größere Lücke zwischen Jes 33 und Jes 34) und in der weitgehenden parallelen Entsprechung der Abschnitte innerhalb von Jes 1–33//Jes 34–66 begründet. Im Blick auf Jes 40–66 unterteilt er zwei Hauptteile, Jes 34–54 und Jes 55–66, wobei in Letzterem das rhetorische Ziel des gesamten Jesajabuches liegt (zu beachten gilt, dass Jes 55 für S. einerseits Teil der ursprünglichen Einheit Jes 40–55 ist, auf synchroner Ebene des gesamten Jesajabuches jedoch die Einleitung zu Jes 55–66 darstellt).
Im Blick auf die Gattung spricht S. von einem prophetischen Buch, dessen Hauptausrichtung die Ermahnung (»exhortation«) ist. Weitere wichtige Gattungen innerhalb von Jes 40–66 sind Disputation, rhetorische Fragen, prophetische Gerichtsrede und prophetische Heilsansage. In der Einleitung wie auch zu mehreren Einzelabschnitten betont S. zudem den liturgischen Charakter des Jesajabuches. Er wendet sich dabei gegen eine Beeinflussung durch griechische Dramenaufführungen (so vor allem K. Baltzer), vermutet aber eine dramatische Aufführung am Jerusalemer Tempel.
Hinsichtlich der historischen Einordnung sieht S. die Kapitel Jes 40–55 als weitgehend einheitlich an. Noch im späten 6. Jh. v. Chr. sind diese Kapitel mit Jes 2–32* zusammengestellt und um Jes 60–62 ergänzt worden. Dieses Buch (Jes 2–62*) wurde möglicherweise für die Tempelweihe im Rahmen einer liturgischen Aufführung eingesetzt. Jes 63,7–64,11 könnte nach S. vor Jes 40–55 und Jes 56–66 zu datieren sein, die anderen Texte in Jes 56–66 sind weitgehend ergänzt worden mit dem Fokus auf der Differenzierung des Volkes Israel in »Gerechte« und »Frevler« (Jes 56–59; 63,1–6; 65–66). Zusammen mit entsprechenden weiteren Einschreibungen in Jes 1–39 (1,1; 1,19–20.27–28; 2,1; 4,3–6; 33; 34) entstand so wohl im 5./4. Jh. v. Chr. das Jesajabuch (substantielle Fortschreibungen in hellenistischer Zeit schließt S. vor allem wegen der Nichterwähnung Griechenlands in den Fremdvölkersprüchen aus), das der Unterstützung (!) des Programms von Esra und Nehemia diente. In dieser Verhältnisbestimmung zwischen Jes und Esr/Neh bietet S. einen erwägenswerten (und andernorts weiter begründeten) eigenen Ansatz in der vieldiskutierten Frage an.
Unter »Interpretation« zeichnet S. den Argumentationsgang des gesamten Jesajabuches und dessen Absicht im 5./4. Jh. v. Chr. nach und schließt daran einige Erwägungen zur Botschaft des Buches Jes 2–55* im 6. Jh. v. Chr. an. – Nicht ganz deutlich wird, wie sich Kapitel 60–62 dazu verhalten. Sie werden mehrfach im Rahmen des vermuteten »Buches« aus dem 6. Jh. v.Chr. zusammen mit Jes 2–55* ge­nannt, doch an dieser markanten Stelle in der Einleitung spricht S. lediglich von Jes 2–55*.
Die Kommentierung jedes Abschnittes erfolgt in vier Schritten. Dessen Aufbau wird zunächst in einer detaillierten Übersicht dargestellt und dann vor allem anhand syntaktischer Beobachtungen begründet (»Structure«). Darauf folgt die Diskussion der Gattungen (»Genre«) und eine historische Situierung, die differenziert für die jeweilige Stufe redaktionellen Wachstums umrissen wird (»Setting«). Unter »Interpretation« erfolgt eine knappe Auslegung des jeweiligen Abschnittes, in die Bezüge zu weiteren Stellen im Jesajabuch einfließen und die gelegentlich auch weiterreichende theolo gische Reflexionen enthalten, jedoch nur selten Einzelfragen der Auslegung diskutieren.
Das weitgehende Fehlen der Diskussion von Einzelfragen wirkt sich dort ungünstig aus, wo S. von herkömmlichen Deutungen und Abtrennungen abweicht. So zählt er Jes 43,8 zu Jes 43,1–8 und interpretiert diesen Vers als Aufruf, Israel freizulassen, während die häufiger vertretene Auslegung darin den Auftakt zur Gerichtsszene in Jes 43,8–13 sieht. An anderen Stellen leuchtet S. jedoch durchaus knapp, aber verständlich wichtige Verstehenshintergründe aus, so z. B. das Chaoskampfmotiv zu Jes 59,9–10. Einige weitere Schlaglichter aus der Auslegung S.s können hier nur angerissen werden:
Jes 40,1–11 vermittelt innerhalb der ursprünglichen Einheit Jes 40–55 die Berufung des anonymen Exilspropheten im göttlichen Thronrat, auf der synchronen Ebene stellt es eine erneute Berufung Jesajas dar. Der Knecht JHWHs ist auch in Jes 42,1–9; 49,1–12; 50,1–11 und 52,13–53,12 als Israel anzusehen, wobei gerade die Stellen, die vom Auftrag dieses Knechts an Israel sprechen, in der Kommentierung eher unscharf bleiben. Die Götzenbilderpolemik (z. B. Jes 44,9–20) ist für S. nicht später nachgetragen, sondern integraler Bestandt eil, um die Vergeblichkeit der Anbetung fremder Götter zu ver-anschaulichen (z. B. 99.107). In Jes 49–54 begegnet in Zion eine weibliche »Knechtsfigur«, die mit der männlichen (Jakob-Israel) interagiert. Dabei kann der männliche Knecht mit den Exulanten in Babylon identifiziert werden, während Zion die Stadt Jerusalem verkörpert, in die die Exulanten zurückkehren sollen (so z. B. 227). Mit der häufig vertretenen Interpretation von Zion als dem Volk in der Heimkehrperspektive setzt sich S. zwar nicht auseinander, vermag mit seiner Interpretation allerdings m. E. angemessen die rhetorische Funktion der Zionstexte als Motivation zur Heimkehr für die Exulanten zu erschließen. Welche Funktion dies dann freilich auf den von S. angenommenen späteren Redaktionsstufen hat, wird nicht verdeutlicht. Das redende »Ich« in Jes 61,1–3 ist vom Propheten zu unterscheiden und stellt eine priesterliche Gestalt dar, da der Zusammenhang mit der Tempelerneuerung und die Terminologie (z. B. »Gnadenjahr«) auf priesterliche Aufgaben verweisen.
Den Kommentar von S. wird man weniger für Detailfragen und Einzelaspekte in Bezug auf Wortbedeutungen, Einzelverse und verschiedene Positionen der Auslegung konsultieren können; hierzu bieten sich andere kürzlich erschienene umfangreiche Kommentare (BK.AT, HThK.AT, ICC) an. Die Stärken dieses Kommentars liegen in der konsequenten Auslegung jedes Abschnittes in Bezug auf die unterschiedlichen Redaktionsstufen des Jesajabuches und in der durchgehenden Einbeziehung der Gattungsanalyse in die Interpretation (dem Profil der Kommentarreihe entsprechend).
Viele, auch neueste, redaktionskritische Untersuchungen bleiben häufig darauf begrenzt, dass sie die Charakteristika der jeweiligen Redaktionsschicht zur Zeit ihrer Entstehung herausarbeiten und allein in Bezug auf diesen historischen Kontext auslegen, nicht jedoch, wie sie zudem mit früheren und vor allem späteren Stufen zusammen »funktionieren« und auszulegen sind. Dies für die einzelnen Perikopen immer wieder hinsichtlich der jeweiligen Entwicklungsstufen des wachsenden Jesajabuches in den Blick zu nehmen, ist ein besonderes Verdienst der Kommentierung S.s. Gleichsam wären aus redaktionskritischer Perspektive einige Anfragen an S.s Überlegungen zu Charakteristik und Umfang der Jes-Redaktionen zu stellen. In Bezug auf Jes 40–55 geht er von einer Einheitlichkeit aus, ohne die inzwischen erheblichen redaktionsgeschichtlichen Differenzierungen in anderen Arbeiten zu erwähnen oder zu diskutieren. Auch die Verortung von Jes 58–59 auf einer Ebene mit Jes 65–66 ist anzufragen, denn Jes 58–59 behandeln das Verhältnis von Tun des (einen) Volkes und JHWHs Heil, während erst Jes 65–66 ausdrücklich die Differenzierung innerhalb des Volkes vollziehen. Gleichsam wäre auch nach dem Verhältnis der Texte zu Jes 65–66 zu fragen, die innerhalb von Jes 40–55 auf eine Differenzierung der Adressaten hinauslaufen (z. B. Jes 48,20–22; 50,10–11).
Die formkritische Fragestellung ist vor allem wegen der Orientierung an den »authentischen Worten« der Propheten und deren häufiger Verflechtung mit dem Interesse an der Prophetenpersönlichkeit zu Recht in die Kritik geraten. S. jedoch gelingt es, die Be­deutung der Bestimmung der jeweiligen Gattung für die Rhetorik des vorliegenden Buches herauszuarbeiten und leistet damit einen ganz gewichtigen Beitrag für den bleibenden Wert der Gattungskritik in der Prophetenexegese. Dieser spiegelt sich nicht zuletzt auch in dem hervorragenden Glossar am Ende des Buches wider, das alle verwendeten Bezeichnungen und Charakteristika der prophetischen Gattungen und Formeln aufführt, dabei auch den entsprechenden deutschen Fachausdruck wiedergibt und so als kleines Kompendium für die Gattungskritik der Propheten dienen kann.
Ein bedeutender Vorläufer für die in S.s Kommentierung charakteristische Verbindung von Gattungsbestimmung einzelner Einheiten und deren Bedeutung für den Argumentationsgang eines gesamten Abschnittes war die Dissertation von Roy F. Melugin (The Formation of Isaiah 40–55. Berlin; New York: de Gruyter 1976 = BZAW 141). Dieser war ursprünglich als Ausleger für Jes 40–66 in der Reihe The Forms of the Old Testament Literature vorgesehen, er konnte seine Arbeit jedoch durch seine plötzliche Erkrankung und Tod nicht vollenden. Seinem Andenken ist der Kommentar von S. gewidmet.