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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1190–1192

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Dubovský, Peter, Markl, Dominik, and Jean-Pierre Sonnet [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Fall of Jerusalem and the Rise of the Torah.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. X, 381 S. = Forschungen zum Alten Testament, 107. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-154054-7.

Rezensent:

Rainer Albertz

Der Sammelband geht auf eine internationale Fachtagung zurück, welche die Herausgeber vom 27.–28. März 2015 am Päpstlichen Bibelinstitut in Rom durchgeführt haben. Der Grundgedanke der Organisatoren war, durch einen interdisziplinären Diskurs von historisch-archäologisch und literarisch-bibelwissenschaftlich orientierten Fachkollegen aus Europa, Israel und den USA die Kluft zwischen einer überwiegend exilisch-nachexilischen Datierung des Pentateuch, wie sie in Europa vorherrscht und dessen vorwiegend vorexilischen Datierung, wie sie in den USA und Israel meist vertreten wird, dadurch zu überwinden, dass man die eine zentrale Frage zu klären sucht: Ist der Fall von Jerusalem, »is the trauma of 587 re-flected in the Pentateuch – or can the contrary be demonstrated« (V).
Der Band enthält 17 Beiträge namhafter Fachkollegen, die in vier Gruppen thematisch geordnet sind. In der ersten Gruppe »The Fall of Jerusalem: Archaeological, Historical and Literary Perspec-tive« finden sich: Israel Finkelstein, Jerusalem and Judah 600–200 BCE. Implications for Understanding Pentateuchal Texts (3–18); Lester L. Grabbe, The Last Days of Judah and the Roots of the Pentateuch. What Does History Tell Us? (19–45); Peter Dubovský, Suspicious Similarities. A Comparative Study of the Falls of Samaria and Jerusalem (47–71); Jean-Pierre Sonnet, The Siege of Jerusalem be-tween Rhetorical Maximalism (Deuteronomy 28) and Narrative Minimalism (2 Kings 25) (73–86).
Unter der Überschrift »The Rise of the Torah: Exemplary Texts and Issues« versammeln sich die folgenden Aufsätze: Angelika Berlejung, Living in the Land of Shinar. Reflections on Exile in Genesis 11:1–9? (89–111); Jean-Louis Ska, Why Does the Pentateuch Speak so Much of Torah and so Little of Jerusalem? (113–128); Konrad Schmid, Divine Legislation in the Pentateuch in its Late Judean and Neo-Babylonian Context (129–153); Eckart Otto, Born out of Ruins. The Catastrophe of Jerusalem as Accoucheur to the Pentateuch in the Book of Deuteronomy (155–168); Nili Wazana, The Law of the King (Deuteronomy 17:14–20) in the Light of Empire and Destruction (169–194).
Die priesterlichen Traditionen des Pentateuch werden gesondert unter der Überschrift »Priestly and Cultic (Dis-)continuities« durch folgende Abhandlungen in den Blick genommen: Nathan McDonald, Aaron’s Failure and the Fall of the Hebrew Kingdoms (197–209); Jeffrey Stackert, Political Allegory in the Priestly Source. The Destruction of Jerusalem, the Exile and their Alternatives (211–226); Dominik Markl, The Wilderness Sanctuary as the Archetype of Continuity between the Pre- and the Postexilic Temples of Jerusalem (227–251); Christophe Nihan, Cult Centralization and the Torah Traditions in Chronicles (253–288).
Die vierte Gruppe von Beiträgen bezieht unter der Überschrift »Prophetic Transformations« die Bezüge zwischen Pentateuch und den Prophetenbüchern mit ein: Georg Fischer, Don’t Forget Jerusalem’s Destruction! The Perspective of the Book of Jeremiah (291–311); Bernhard M. Levinson, Zedekiah’s Release of Slaves as the Babylonians Besiege Jerusalem. Jeremiah 34 and the Formation of the Pentateuch (313–327); Ronald Hendel, Remembering the Exodus in the Wake of Catastrophe (329–345). Den Abschluss bildet unter der Überschrift »Dis-aster: Reflection and Perspective« der Aufsatz des Mitveranstalters Jean-Pierre Sonnet, Writing the Desaster. Trauma, Resilience and Fortschreibung (349–357), der auf ein Nachgespräch der Herausgeber zurückgeht. Indizes der antiken Texte und modernen Autoren runden den Band ab.
Grundsätzlich ist die Idee der Herausgeber, über die Frage, ob und wieweit der Pentateuch die Zerstörung Jerusalems und die damit verbundenen Exilierungen reflektiert, einen gesicherten Fixpunkt für die umstrittene Datierung vieler seiner Texte zu gewinnen, interessant und vielversprechend. Auch die Einbeziehung der archäologischen und historischen Forschung zu den Exilierungen ist ein Gewinn, selbst wenn man sich damit zusätzliche methodische Probleme und irritierende Befunde einhandelt, etwa dass, worauf Finkelstein hinweist, das Zentrum des alten Jerusalem vielleicht auf dem Tempelberg lag (4), wo man nicht graben kann, oder dass es ausgerechnet für die persische Zeit keinerlei archäologische Belege für eine hebräische Schriftkultur in Juda gibt, in die viele Exegeten die formative Periode des Pentateuch verorten (9–10.14).
Wenn der Band dennoch nicht alle Erwartungen erfüllt, dann liegt das u. a. daran, dass sich nicht alle Beiträger voll auf die intendierte Fragestellung eingelassen haben (z. B. behandelt McDonald die für diese zentralen Kapitel Ex 32–34 primär unter der Fragestellung möglicher priesterlicher Rivalitäten und streift den auffälligen Tatbestand, dass hier die Gründungsgeschichte Israels als »Sündenfallgeschichte« dargestellt wird, nur am Rande; vgl. 207–208), ein Problem, das jeder kennt, der selber einmal eine Tagung ausgerichtet hat. Es hat aber auch damit zu tun, dass nicht alle Beiträger an Datierungsfragen besonders interessiert sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: Levinson macht gute Gründe geltend, dass die Erzählung von der zurückgenommenen Sklavenbefreiung in Jer 34,8–22 mit ihren klaren Bezügen auf Dtn 15,1a.12 in V. 14 und ihren eher versteckten Anspielungen auf Lev 25,39.41 in V. 9b.17 nicht einfach historisch für die Zeit vor dem Fall Jerusalems ausgewertet werden könne, weil sie von Hause aus einen theologischen, rechtshermeneutischen Traktat darstelle (318–325). Wellhausen (Prolegomena, 114) hatte die Erzählung noch als Nachweis dafür verwendet, dass das deuteronomische Gesetz älter als das Heiligkeitsgesetz ist. Diese Funktion fällt für Levinson fort; der von ihm als Einheit verstandene Text wolle gerade zwischen den Rechtsauffassungen beider Gesetze auslegend ver-mitteln. Waren diese dann gleichzeitig, und wenn ja, wann? Leider unterlässt es Levinson, Jer 34,8–22 zu datieren. Berücksichtigt man allerdings, dass in der Septuaginta, die an vielen Stellen ein älteres Stadium als der masoretische Text zu repräsentierten scheint, alle Anspielungen auf Lev 25 fehlen und auch kein klarer Bezug zum dtn. Schemitta-Gesetz hergestellt wird, dann könnten die rechtshermeneutischen Ausgleichsversuche im MT, die Levinson hervorragend beschreibt, in das 3. Jh. v. Chr. gehören, d. h. in eine Zeit, als der Pentateuch weitgehend fertig vorlag.
Voll auf die Datierungsfragen lässt sich dagegen z. B. Schmid ein. Er nennt drei Merkmale des Pentateuch, die eher für seine Datierung nach 587 v. Chr. sprechen: er blicke auf die Geschichte Israels außerhalb des Kulturlandes, habe eher eine »republikanische« als monarchische Tendenz und führe die Gesetzgebung nicht auf den König, sondern auf Gott zurück (132). Allein die Beobachtung, dass er weitgehend im »Standard Biblical Hebrew« und nicht im »Late Biblical Hebrew« verfasst ist, könnte für seine vorexilische Datierung sprechen. Doch bedürfe die linguistische Datierung wei­terer methodischer Klärungen, um aussagekräftig zu sein (133–135). Schmid wendet sich im Einzelnen dem Phänomen der Theologisierung des Rechts zu, mit dem sich die pentateuchische Ge­setzgebung signifikant von den altorientalischen Rechtskorpora unterscheidet. Da diese Theologisierung erst in den jüngeren Partien des Bundesbuches auftaucht, lässt sich ihr Beginn relativ eindeutig auf das Ende des 8. Jh.s datieren; sie hängt offensichtlich mit der sozialen Krise in Israel und Juda und dem Untergang des Nordreiches 722 v. Chr. zusammen. Über die Untersuchungen von Otto und Albertz hinausgehend, macht Schmid auch noch die Solarisierung JHWHs und seine Funktion als Garant der Gerechtigkeit in Jerusalem geltend (141–146). Der Prozess der Theologisierung als wesentliches Element für die Ausbildung des Pentateuch begann nach Schmid somit schon gut 150 Jahre vor dem Fall Jerusalems: »the introduction of God as lawgiver in the Covenant Code and Deuteronomy maybe especially reflecting the loss of kingdom and statehood in 720 BCE« (147). Der Untergang des Südreiches hat diesen Prozess nur noch weiter vorangetrieben: »Apparently, in the wake of the fall of Jerusalem, the notion of YHWH as God in charge of justice on Mount Zion was transformed into the concept of the divine legislator on Mount Sinai« (146). Schon diese eine stärker literaturgeschichtlich argumentierende Untersuchung macht deutlich, dass der griffige Titel des Sammelbandes sachlich nur cum grano salis zutreffend ist.
Leider fehlt der Raum, die übrigen Beiträge des Bandes im Einzelnen zu würdigen. Sie behandeln viele interessante Details und bewegen sich auf einem soliden wissenschaftlichen Niveau. So ist den Herausgebern für die Organisation der Tagung, die offenbar Gelegenheit zu anregenden Diskussionen gab, zu danken, auch wenn sie ihr hochgestecktes Ziel, die Datierung der Pentateuch-texte auf ein solideres Fundament zu stellen, nicht ganz erreicht haben.