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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1187–1190

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Bassy, Karl-Heinz

Titel/Untertitel:

Von Herder zu Duhm. Psalmenforschung im 19. Jahrhundert – Studien zur Forschungsgeschichte der Weisheitspsalmen.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2015. 523 S. Geb. EUR 89,95. ISBN 978-3-631-66835-1.

Rezensent:

Beat Weber

Bei dieser Monographie handelt es sich um eine bei Otto Kaiser (Marburg) erstellte Doktorarbeit, die mit einigem zeitlichen Ab­stand erschienen ist und für die Publikation in ihrem Umfang (über de Wette hinaus) erweitert wurde. Die umfangreiche Studie von Karl-Heinz Bassy bietet eine Geschichte der (mit Ausnahme von R. Lowth) deutschsprachigen Psalmenforschung im (18. und) 19. Jh. Dies geschieht einerseits bezogen auf die Biographie und den Ansatz der jeweiligen Gelehrten, andererseits wird deren Position anhand der Auslegung von weisheitlichen Psalmen (1, 37 und 73) exemplarisch verdeutlicht. Bereits in der Einleitung wird deut-lich, dass der Zielpunkt der Darbietung die wohl einflussreichste Gestalt der neuzeitlichen Psalmenforschung Hermann Gunkel (1862–1932) und seine Gattungsforschung ist. Von ihm ist öfters die Rede, er selbst aber ist nicht (mehr) Gegenstand dieses Bandes. Vielmehr wird hier die Vorgeschichte der neueren Psalmenforschung entfaltet. Weniger die zeitliche als die innere Mitte bzw. den »Scheitelpunkt« der Darstellung bildet darin de Wette als »Begründer einer rational-ästhetischen Psalmenexegese«.
Der Vf. setzt ein im 18. Jh. und referiert zunächst den englischen Lordbischof R. Lowth (1710–1787) und dessen Hauptwerk »De sacra Poesi Hebraeorum«. Dieses ist aufgrund der Schilderung des der bibelhebräischen Poesie zugrunde liegenden parallelismus membrorum bekannt geblieben. Es folgt J. A. Cramer (1723–1788) als Vertreter eines »sentimental-ästhetischen Christentums«. Lesenswert sind seine beigegebenen Psalmübertragungen, da sie sein Programm der ans Herz rührenden Poesie durch Reimgebung der Psalmen im Deutschen ausdrücken. Von größerem Gewicht ist die »historisch-ästhetische Bibelauslegung« von J. G. von Herder (1744–1803) und seine programmatische Schrift »Vom Geist der Ebräischen Poesie«. Für ihn ist Poesie gleichsam »die Muttersprache der Menschheit«, Ausdruck des unmittelbaren Empfindens. Es geht ihm zentral um die Ursprungssituation und -intention und die Fähigkeit, sich in diese Textwelt einzufühlen. Bei ihm taucht erstmals der Begriff der »Gattung« im Zusammenhang mit den Psalmen auf. Den Ansatz von J. G. Eichhorn (1752–1827) bringt der Vf. auf die Formel »grammatisch-historisch-kritisch«. In seiner Arbeit verbinden sich Züge des Rationalismus und des Historismus; die theologische Textausschöpfung tritt zurück. Der Asaph zugewiesene Ps 73 wird nun als »exilisch« eingestuft. Die Stärken von E. F. C. Rosenmüller (1768–1835) liegen im philologischen, textkritischen und im Blick auf rabbinische, frühchristliche und orthodoxe Autoren komparativen Bereich. J. C. W. Augusti (1772–1841) entwirft eine zwei-gestaffelte Entstehung der Psalmen als Sammlung: Den Grundstock bildete die (David-)Anthologie Ps 1–72, der als Nachlese die übrigen Psalmen als zweiter Teil angefügt wurden; das Ganze wurde dann nach dem Vorbild des Pentateuchs in fünf Bücher aufgeteilt.
W. M. L. de Wette (1780–1849) und seine Arbeiten über die Psalmen werden ausführlicher als die bisherigen Forscher referiert. Die kritische Wissenschaft ist nun bei ihm am Punkt angekommen, wo der Disput um die dogmatische Methode weithin ans Ende gekommen ist und die Texte nach den (historischen) Methoden der profanen Literaturwissenschaft betrachtet werden. Bei den Psalmen hält de Wette aber einen primär historischen Zugang nicht für angemessen. Dies führt ihn zu einer zweifachen Psalmenauslegung. Neben seinem bekannten, in historisch-kritischer Manier verfassten Psalmenkommentar (mit Klassifizierungs-, Verfasser- und Da­tierungsfragen) schreibt er eine »erbauliche Erklärung der Psalmen«, in der die theologischen, existentialen und ästhetischen Betrachtungsweisen aufgenommen sind. Die Gewichtung und Reihenfolge sind dabei klar: Die historische Erarbeitung ist Voraussetzung für den ästhetischen Nachvollzug der in den Psalmen ausgedrückten religiösen Stimmungen und allgemeinmenschlichen Lebensumstände des Beters. Was die Psalmen 1, 37 und 73 betrifft, bietet der Vf. ausführliche Erörterungen unter Beizug beider Werke.
Mit de Wette ist dem Vf. zufolge der Scheitelpunkt der älteren neuzeitlichen Psalmenforschung insofern erreicht, als dieser (gerade auch im Hinblick auf die Klassifizierung der Psalmen) die früheren Wissenschaftler überragt, ebenso die ihm nachfolgenden bis zu Gunkel hin (mit Ausnahme von Hupfeld). Auf de Wette reagieren die Vertreter der sogenannten »positiven Kritik«, als sie nicht nur die Psalmenangaben (Überschriften, Datierungen etc.) »negativ« kritisch befragen, sondern nun »positiv« zu konkreten (neuen) Einordnungen vorstoßen. Dazu rechnet der Vf. G. H. A. Ewald (1803–1885) und F. Hitzig (1807–1875). Letzterer unternimmt eine absolute Datierung der meisten Psalmen – Ps 1 etwa gehöre in die Zeit des Alexander Jannäus zwischen 94–88 v. Chr. –, währenddessen eine theologische Betrachtung bei ihm kaum mehr zu finden ist. Unter den Stabreim »witzig bei Hitzig« lässt sich die Anekdote eines Erlanger Kollegen (J. Delitzsch?) stellen, der den Studenten in seiner Psalmenvorlesung zu sagen pflegte: »… wollen Sie wissen, meine Herren, wer einen Psalm gedichtet hat, in welcher Straße von Jerusalem und um welche Stunde des Morgens oder Nachmittags er entstanden ist, so gehen Sie zu Professor Hitzig in Heidelberg, der weiß Alles« (263, nach A. Hausrath).
Ein eigenes, längeres Kapitel ist H. Hupfeld (1796–1866) gewidmet, der in Marburg und Halle wirkte und dessen mehrbändiger Psalmenkommentar als sein wissenschaftliches Hauptwerk gelten kann (gemäß dem Vf. sei dies der erste, für den die Bezeichnung »historisch-kritisch« im Vollsinn des Wortes zutreffe). Die Arbeit Hupfelds bezieht sich in umfassenderer Weise als bisher auf die »menschliche« Natur der Schrift. Die Inspirationslehre müsse als »Götzendienst des Buchstabens« aufgegeben werden und statt-dessen der Glaube an die Offenbarung, »das Walten des göttlichen Geistes in dem heiligen Kreise aus dem sie hervorgegangen und von dem sie Ausfluß und Zeugen sind« (282 f.) festgehalten werden. In seinem Psalmenkommentar ist eine doppelte Frontstellung gegen die überzogene Hypothetik bei Hitzig und Ewald einerseits und die dogmatische (messianische) Ausrichtung bei Hengstenberg und Delitzsch andererseits erkennbar. Was das »Lehrgedicht« Ps 73 betrifft, so ist für ihn wegen der Allgemeinheit von Form und Inhalt sowie fehlenden Anspielungen auf historische Begebenheiten eine Datierung nicht möglich.
Als »konservative Richtung der Psalmenexegese« werden danach E. W. Hengs­tenberg (1802–1869) und F. Delitzsch (1813–1890) erörtert. Von allen Personen und Positionen kommt Hengstenberg am schlechtesten weg. Aufgrund seiner Schriftauffassung wird dem der Erweckungsbewegung nahestehenden lutherischen Theologen eine »rückwärtsgewandte Repristinationstheologie« bzw. eine »abseitige Position« zugeschrieben. Den Maßstab bildet die vom Rationalismus geleitete historisch-kritische Interpretation bzw. die diesbezügliche Lichtgestalt Hupfeld. Etwas besser ergeht es Delitzsch, weniger aufgrund seiner konfessionellen Position oder messianischen Interpretation der Psalmen, sondern aufgrund der philologischen Gründlichkeit seines Kommentars, dem auch seine Gegner Respekt zollen.
Den Abschluss macht B. L. Duhm (1847–1928). Sein Psalmenkommentar zeichnet sich durch die Berücksichtigung metrischer Fragen, der (Ab-)Qualifizierung einzelner Psalmen und vor allem eine grundsätzliche Spätdatierung aus. Nach ihm stammen die ältesten Psalmen aus der hellenistischen, die meisten aus der makkabäischen Zeit. Sein Verständnis des Psalters nicht als Gesang-, sondern als Lehr- und Lesebuch wird bis heute überwiegend vertreten. Aufgrund der nahezu zeitgleichen Arbeiten Gunkels erwies sich der Kommentar von Duhm aber schon bald als überholt. In einem umfangreichen Anhang finden sich – soweit vorliegend – die Übersetzungen der Psalmen 1, 37 und 73 von den erwähnten Psalmenforschern. Ein Literaturverzeichnis macht den Abschluss; Register fehlen.
Zwar gibt es zu den erwähnten Forschergestalten bereits Lexikonartikel, Aufsätze und/oder Monographien. Eine Darbietung unter dem Aspekt der Psalmenforschung und ihrer Entwicklung im Zuge der historisch-kritischen Zugangsweise fehlt m. W. aber bisher. Insofern bietet dieser Band eine nützliche Vorgeschichte zu Gunkel (und Mowinckel), mit dem (denen) die heutige Forschung in der Regel einsetzt. Zugleich wird an drei weisheitlichen Psalmen der Ansatz des jeweiligen Forschers konkretisiert. Den Aufruf des Vf.s, den Psalmenkommentar von Hupfeld auch für heutiges Arbeiten an den Psalmen zu konsultieren, kann der Rezensent nur unterstützen – mit der Ergänzung: auch derjenige von Delitzsch ist lohnenswert.
Der Band ist leider etwas unstrukturiert und enthält viele Doppelungen. Dafür erfährt man interessante Details. Diese füllen die Fußnoten, so dass nicht selten dieser Teil umfangreicher als der Haupttext ist, was dem Lesefluss freilich nicht förderlich ist. Mit der geschichtlichen Darstellung der Psalmenforschung verbindet sich zugleich ein Plädoyer für die historisch-kritische Zugangsweise zum Alten Testament in Marburger Akzentuierung (H. Hupfeld, R. Bultmann, O. Kaiser). Das zeigt sich deutlich in der Behandlung der »dissidenten« Vertreter (Hengstenberg, Delitzsch). Es fehlt hier an kritischer Distanz. Ein vergleichender Blick in die aktuelle, nicht mehr auf den deutschsprachigen Raum beschränkte Psalmen- und Psalterforschung hätte deutlich gemacht, dass auch die als »abseitig« eingestuften Psalmenforscher in neuer, modifizierter Weise Gehör gefunden haben. Bei Delitzsch finden sich wesentliche Einsichten, die in der gegenwärtigen kanonhermeneutisch und redaktionsgeschichtlich bestimmten Psalterforschung rezipiert worden sind. Und auch die – seinerseits kritische! – Anfrage von Hengstenberg gegenüber einer kritischen Vernunft als rein objektives und vorurteilsfreies »Organ« ist angekommen und hat zur Enteuphorisierung der historisch-kritischen Methodik mit beigetragen. Alles in allem ist dem Vf. zu danken für seine Aufarbeitung der Geschichte der Psalmenforschung.