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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1177–1180

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Grütter, Nesina

Titel/Untertitel:

Das Buch Nahum. Eine vergleichende Untersuchung des masoretischen Texts und der Septuagintaübersetzung.

Verlag:

Göttingen (Neukirchen-Vluyn): Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2016. XVI, 312 S. = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 148. Geb. EUR 49,00. ISBN 978-3-7887-3068-0.

Rezensent:

Walter Dietrich

Das Buch Nahum (oder wie es im Blick auf seine Zugehörigkeit zum Zwölfprophetenbuch wohl besser hieße: die Nahum-Schrift) ist nicht lang. Zu drei Kapiteln oder 47 Versen eine mehrhundertseitige Monographie zu schreiben, ist an sich schon ein Kunststück, das aber noch mehr, wenn es darin einzig um Textkritik geht! Das Kunststück ist Nesina Grütter gelungen. Das vorzustellende Buch– die überarbeitete Fassung einer von Markus Saur angeregten, von Hans-Peter Mathys und Eberhard Bons betreuten und »2015 im Rahmen einer cotutelle de thèse der Universität Basel und der Université de Strasbourg« (VII) angenommenen Dissertation – zeigt keine Längen, es liest sich, sofern man nur Sinn für ein solches Sujet hat, geradezu spannend (wenn auch nicht immer ganz leicht), es ist gut formuliert, zeigt enorme Gelehrsamkeit und führt zu manchen überraschenden Ergebnissen.
Der Aufbau des Buches ist nicht auf den ersten Blick durchschaubar. Nach zwei kurzen einleitenden Kapiteln über den »Stellen­wert« der Nah-Septuaginta und über methodische Grundsatzfragen folgt das Basiskapitel 3: »Analyse der Septuagintaübersetzung des Nahumbuchs« (15–133). Hier bilden das Skelett he­bräische und griechische Textwiedergaben und dazugehörige deutsche Wort-für-Wort-Übertragungen der sechs Nah-Perikopen (1,1–8; 1,9–2,6; 2,7–11; 2,12–14; 3,1–7; 3,7–19 – tatsächlich erscheint 3,7 doppelt). In den Übersetzungen wird, wie die Vfn. selbst einräumt, »der hebräische und der griechische Text in einer Weise nachgeahmt …, dass das deutsche Sprachempfinden an seine Schmerzgrenze stösst« (11). Da folgen pluralische Verbformen auf singularische Subjekte, da bleiben Anakoluthe stehen, da finden sich unbegreifliche Partizipialformen: alles in größtmöglicher Nähe zum hebräischen und zum hebräisch gedachten griechischen Text.
Diesen Textwiedergaben beigeordnet sind jeweils übergreifende Sachthemen. Da es zu diesen Belege auch in anderen Perikopen gibt, kommt es zuweilen zu einem verwirrenden Hin und Her über das Ganze der Nah-Schrift hinweg. So wird zu Nah 1,1–8 »Die Übersetzung von poetischen Elementen und Strukturen« abgehandelt (warum gerade und nur hier?), zu Nah 2,7–11 »Die Übersetzungsweise im Hinblick auf das semantische Verständnis hebräischer Wortfamilien«, zu Nah 3,1–7 »Übersetzungsweise von Titeln und Bezeichnungen« usw. Offenbar wurden thematische Einzelstudien mehr oder weniger gut passend einzelnen Texten zugeordnet.
Die in der Arbeit verfolgte Kernaufgabe ist der Vergleich von M und G, oft unter Beiziehung noch anderer antiker Versionen wie Syrohexapla, Peschitta, Targum, Vetus Latina, Vulgata, dazu Texte vom Wadi Murabba‘at, aus Nag Hammadi, dem Nahal Ḥever und Qumran, Kirchenväterzitate und obendrein »Texte aus dem mesopotamischen, ägyptischen und griechischen Raum« (273 f. – überflüssig oder nicht überflüssig zu erwähnen, dass sich die Vfn. in die Sprachen all dieser Texte eingearbeitet hat). Die fein verästelte Debatte kann in einer Rezension nicht vollständig referiert werden; diese muss sich auf einen allgemeinen Überblick beschränken und kann allenfalls noch ein, zwei Einzelbeispiele diskutieren.
Gleichsam als Bündelung und Krönung des dritten Kapitels wird in einem vierten »Die rekonstruierte Vorlage der Septuaginta des Nahumbuches« dargeboten (135–166). Das Hauptstück ist hier eine im Querformat angeordnete Tabelle, in welcher der Nah-Text Sinneinheit um Sinneinheit in vier übereinander stehenden Zeilen abgebildet wird: in Zeile 1 der vokalisierte Text von M (in Um­schrift), in Zeile 2 der bloße Konsonantentext von M (in Umschrift), in Zeile 3 der (erschlossene) Konsonantentext der hebräischen Vorlage von G (in Umschrift), in Zeile 4 der volle Text von G (mit Vokalzeichen, in griechischer Schrift). Aufschlussreich sind insbesondere die Zeilen 2 und 3, zeigt sich hier doch Wort für Wort und mit einem Blick, wo M und die (erschlossene) hebräische Vorlage von G identisch sind und wo sie voneinander abweichen.
Das Ergebnis ist zunächst einigermaßen beruhigend: M und G-Vorlage stimmen in 95 % der Textmenge buchstabengenau überein, d. h. der Übersetzer hatte keinen völlig anderen Text vor sich als die Masoreten. Von den 5 % Abweichungen lässt sich die überwiegende Mehrheit »harmlos« erklären: aus Differenzen in der Auffassung von Verben als zwei- oder dreiradikalig, als Versuche sachter Kontextualisierung oder Inkulturierung von Seiten des Übersetzers, als Folge von Unterschieden zwischen Ausgangs- und Zielsprache ( et­wa die Unterscheidbarkeit von Mask.- und Fem.-Formen im [tiberiensischen] Hebräisch und ihre Ununterscheidbarkeit im Griechischen oder die unterschiedliche Zeitenfolge in beiden Sprachen) und Ähnliches mehr. Auf die Tabelle folgen noch einige Erklärungen und Annotationen und, wie bei jedem Kapitel (und sogar bei den Unterkapiteln!), »Ergebnisse« (bzw. »Zwischenergebnisse«, d. h., man kann diese Arbeit entlang der knappen Zusammenfassungen auch relativ schnell lesen – was hiermit aber keinesfalls empfohlen sei).
In drei, nun allerdings bedeutsamen, Fällen differieren M und G-Vorlage ernsthaft voneinander, und diese Stellen werden im fünften Kapitel verhandelt (167–236). Es geht um Versteile von Nah 1,12; 3,8 und 3,15. In allen drei Fällen meint die Vfn. nach intensiver Erwägung dem hinter G stehenden hebräischen Text den Vorrang vor dem masoretischen Text geben zu sollen. (Es sei mir verziehen, wenn ich hinter diesem Entscheid das Wirken von Adrian Schenker vermute, der diese Tendenz generell vertritt und bei dem sich die Vfn. dafür bedankt, dass er ihr »ganz am Ende meines Forschungsprozesses seine Zeit und sein Wissen geschenkt hat«, VIII.) Die M-Version verdankt sich angeblich einer Revision des überlieferten Textes in hellenistischer Zeit, die vor allem darauf abziele, den zerklüfteten Nah-Text in einen »Fließtext« zu verwandeln, der sich durchgehend als gegen fremde Völker (besonders natürlich Assur/ Ninive) gerichtet lesen lasse und prophetische Kritik am eigenen Volk bzw. dessen »unliebsame[n] Repräsentanten« (259) nach Möglichkeit ausblende.
Abgeschlossen wird das Werk durch ein Verzeichnis der benutzten Literatur (269–308, unterteilt in Hilfsmittel, Sekundärliteratur und Datenbanken) sowie ein Register ausgewählter Bibelstellen (309–312).
Die in der Arbeit angewandte Argumentationstechnik und ihr Kernergebnis – G vor M – soll nunmehr am Beispiel von Nah 3,1–7 und 3,8 näher vorgestellt und überprüft werden. Im Kapitel 3 ihres Buches analysiert die Vfn. Nah 3,1–7 (94–111) nach ihrem Schema: M-Text (94), G-Text (95), Übersetzung von M (96), Übersetzung von G (97; Leseprobe: »Und werde werfen auf dich Abscheulichkeit und deine Unreinheiten und werde stellen dich in ein Beispiel«), »Anmerkungen zu Text und Übersetzung« (98–101, gegliedert in a–z + aa–gg). Danach wird die »Übersetzung von drei theologisch relevanten Titeln und Bezeichnungen« (101–110) diskutiert – es geht um b‛lh/b‛l, blj‛l und jhwh ṣb’wt – und in »Zwischenergebnissen« zusammengefasst (111).
Die zweite Bezeichnung, »Belial«, kommt in 3,1–7 gar nicht vor, sondern in 1,11 und 1,15/2,1 (einer jener verwirrenden Rück- oder Vorgriffe über den konkreten Text hinaus). Die Vfn. möchte wissen, ob im biblischen Text schon die späte Verwendung des Begriffs als Bezeichnung für ein böses, mythisches Wesen mitklingt; für G meint sie dies ausschließen zu können, für M nicht – womit G eine Präferenz zukäme, wenn denn die Sachlage bei M eindeutig wäre; denn m. E. ist der »Belial« von 1,11 schlicht der vom Propheten für »nichtnutzig«, d. h. für sozial schädlich gehaltene König Manasse. Was die b‛lh , die »Herrin«, von 3,4 angeht, besteht zwar keine Textdifferenz zwischen M und G, doch hält die Vfn. den griechischen Text (ἡγουμένη) für besser geschützt gegen ein »genderspezifisches Denken« (104), welches einer Frau »in leitender Tätigkeit« nicht die Einschätzung als »Anführerin, Leiterin, Meisterin« zugestehen möchte, sondern »ihre Machtposition verschleiert« (104). Doch die Vfn. übersetzt die betreffende Stelle in M wie in G gleichermaßen mit »Herrin der Zauberei« (96.97)? Im Anschluss von b‛lh äußert sie sich gleich auch zur Übersetzung von b‛l in Nah 1,2 sowie im ganzen Zwölfprophetenbuch, wobei sie erwägt, ob man in G den Namen »Baal« gelegentlich vermeiden wollte oder ob man b und ‛l als »zusammengesetzte Präposition« verstand (105 f.). Am Ende heißt es aber einigermaßen ernüchternd, es ließen »sich keine Differenzen in G und M heraus­arbeiten, die einen begründeten Schluss auf ein unterschiedliches theologisches Verständnis […] zuliessen« (111 – dieses doppelte »s« ist übrigens einer der wenigen Hinweise auf die helvetische Herkunft der Vfn.; erwähnt sei noch der hübsche Helvetismus »sind wir uns gewohnt«, 183).
Nah 3,8 enthält eine der drei erheblichen Abweichungen zwischen M und G; ihr widmet die Vfn. volle 23 Textseiten (167–190). In M wird Ninive angeredet: »Bist du besser als No Amon, die in Strömen sitzt?« G hingegen bietet: »Stimme die Saite, bereite den Anteil, Amon!« Die Frage »No oder nicht No« beantwortet die Vfn. nach ausgiebiger Debatte einschlägiger Passagen aus Qumran, Wadi Murabba‛at und dem Nahal Ḥever sowie von Ez 30,14–16 und Jer 46,25 letztlich mit »nicht No«, also: G(-Vorlage) enthält den älteren Text. Das ist nicht unerheblich, ist doch die Erwähnung von No Amon (= »Stadt des Amon« = Theben) im Grunde der wichtigste Nagel, an dem die Datierung von Nah hängt. Theben fiel den Assyrern 669 zu, die assyrische Hauptstadt Ninive fiel 612; zwischen diesen beiden Daten (eher näher beim ersten als beim zweiten) wäre die Prophetie des Nahum anzusiedeln. Die Vfn. zieht diesen Nagel mit textkritischer Begründung aus der Wand: Theben werde erst in hellenistischer Zeit ausdrücklich mit dem Gott Amon in Verbindung gebracht (obwohl, wie sie selbst einräumt, Amon »ursprünglich Lokalgott von Theben« war, 176). Dann schlägt sie aber, etwas tiefer, erneut einen Nagel in die historische Wand, indem sie »Amon« in G(-Vorlage) auf den Manasse-Nachfolger dieses Namens (641–639 v. Chr.) deutet (242). Nur: Was soll die Aufforderung »Bereite den Anteil, Amon!« bedeuten? Und warum verdient diese Lesart so viel Vertrauen, nachdem die in G vorangehende Aufforderung htjṭbj mn auf »eine Konflation zweier Lesarten« zurückgehen (182) und zu streichen sein soll? Dabei ist die von der Vfn. vorgeschlagene Übersetzung dieser Wendung mit »Stimme die Saite!« in sich schon fragwürdig, weil erstens »bislang kein Hitpael für [jṭb] belegt« ist (184) und sich zweitens ein Feminin-Imperativ schwerlich an den doch wohl maskulinen Amon richten kann.
Zumindest in diesem Fall also ist m. E. die Bevorzugung von G gegenüber M in Zweifel zu ziehen. Gleichwohl bleibt es ein unbestreitbares Verdienst der Vfn., den G-Text so sorgfältig auf sein Verhältnis zur M-Version (und im Kontext der gesamten antiken Text-Tradition von Nah) untersucht und seine mutmaßliche hebräische Vorlage oft überaus scharfsinnig rekonstruiert zu haben. Ihre Arbeit wird für die künftige Nah-Exegese von grundlegender Bedeutung sein – nicht obwohl, sondern weil sie sich ganz auf den Text dieser Prophetenschrift konzentriert und sich ihrer Deutung (noch?) weitgehend enthält.
Bemerkt sei noch: Der Rezensent ist froh, seinen eigenen Nah-Kommentar (den Vfn. zwar in der Bibliographie aufführt, aber offenbar nicht mehr verarbeiten konnte) nicht noch schreiben zu müssen, hätte er sich dann doch auf eine intensive Diskussion mit dieser ambitionierten textkritischen Arbeit einzulassen. Andererseits bekennt er gern, dass dies seiner Kommentierung hier und da gutgetan hätte.
Das angezeigte Buch ist eines der letzten des Verlagsprogramms »Neukirchener Theologie«, das als Publikationsort »Neukirchen-Vluyn« ausweist; künftig wird dies »Göttingen« sein. Die überaus sorgfältige Drucklegung eines hochkomplexen Manuskripts wie des hier verarbeiteten zeigt die Handschrift nicht nur einer versierten und engagierten Autorin, sondern auch eines sachkundigen Lektors; die Vfn. bedankt sich dafür bei Volker Hampel in Neukirchen (VIII); möge seine Arbeitsweise auch in Göttingen den Maßstab bilden.