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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1171–1173

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Förster, Niclas, u. J. Cornelis de Vos [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Juden und Christen unter römischer Herrschaft. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung in den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 224 S. m. 1 Abb. = Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum, 10. Geb. EUR 90,00. ISBN 978-3-525-54209-5.

Rezensent:

Michael Tilly

Leitendes Thema des Sammelbandes, dessen Beiträge auf einem im April 2012 in Münster anlässlich des 65. Geburtstages von Folker Siegert veranstalteten wissenschaftlichen Symposium vorgetragen wurden, ist die Wahrnehmung und Beschreibung von inner- und interreligiösen identitätsstiftenden Faktoren und Prozessen im antiken Judentum und im frühen Christentum.
In seinem programmatischen Einleitungsbeitrag fragt Hermann Lichtenberger (17–41) danach, was es bedeutet, »sich selbst zu sehen, wie andere einen sehen« (17). Dabei beleuchtet er nacheinander vier eindrückliche Beispiele wechselseitiger Identitäts- und Alteritätszuschreibungen bzw. perspektivischer Fremdwahrnehmungen sozioreligiöser Gruppen, nämlich erstens die Diskrepanz zwischen der scharfen Romkritik im Habakuk-Pescher (1QpHab) und dem wohlwollenden Blick antiker römischer Autoren (Plinius, Josephus) auf die Essener als »liebenswürdige Ausnahmen« (23), zweitens die in antijüdischer Absicht böswillig verzerrenden Deutungen (Beschneidung, Sabbatheiligung) und Unterstellungen (Kindesaussetzung, Menschenhass) sowohl graeco-ägyptischer als auch römischer Historiker als Ausdruck einer – insbesondere in der stadtrömischen Öffentlichkeit verbreiteten – Aversion gegen das Judentum aufgrund seiner angeblichen strukturellen Devianz von der »normierenden nichtjüdischen »Leitkultur«« (30), drittens die durchweg negative Sicht der Rabbinen auf die römischen Kaiser Titus und Hadrian, von denen Ersterer (aufgrund der ihm zugewiesenen Verantwortung für die Zerstörung des Jerusalemer Tempels) als paradigmatischer Gottesfeind und Letzterer (aufgrund des mit seiner Person verbundenen Beschneidungsverbots) gleichsam als »Wiedergänger« des Antiochos IV. Epiphanes dargestellt wurde, und viertens die kategorische Ablehnung des globalen Herrschaftsanspruchs Roms durch den Verfasser der Johannesoffenbarung. Thomas Witulski (42–73) nimmt das 4. Makkabäerbuch als »ein religiöses Zeugnis des aktuellen Ringens um ein zentrales Element jüdischen Glaubens« (52) in den Blick und widmet sich dabei zunächst dem Verhältnis zwischen der allgemeinen philosophisch-theoretischen Abhandlung in 4Makk 1,13–3,18 und der exemplarischen Erzählung über die jüdischen Glaubenszeugen in 4Makk 3,19–17,6, um vor diesem Hintergrund das Rededuell zwischen Eleazar und Antiochos IV. in 4Makk 5,1–38 als narrative Veranschaulichung der festen Überzeugung seines Verfassers zu deuten, weder Gesetz noch Sitten des Judentums ließen irgendeinen Spielraum zu ihrer Relativierung.
Manuel Vogel (74–84) unternimmt den Versuch einer Übertragung der von Henri Tajfel und John C. Turner entwickelten Theorie der sozialen Identität, gemäß derer bereits bloße Gruppenzugehörigkeit die soziale Selbst- und Fremdwahrnehmung zu steuern vermag, auf die (anhand der literarischen Quellen rekonstruierbaren) Beziehungen zwischen der frühen Jesusbewegung und der Bewegung um Johannes den Täufer. Niclas Förster (85–109) befasst sich eingehend mit einem bereits 1905 nahe der ägyptischen Stadt Oxy-rhynchus entdeckten apokryphen Evangelienfragment (P.Oxy 840), dessen starkes Interesse an den Ritualen und Reinheitsvorstel-lungen des Tempels dem Selbstverständnis und den Traditionen judenchristlicher Gruppen entspreche (103). J. Cornelis de Vos (110–126) untersucht die (vom ersten Evangelisten generell negativ konnotierten) Erzählfiguren »Schriftgelehrte und Pharisäer« im Matthäusevangelium und gelangt zu dem Ergebnis, dass ihre sche-matische Disqualifikation als eine Negativfolie der von Matthäus an­gesprochenen Gemeinde zunächst der Affirmation ihrer externalisierten Eigenwahrnehmung gedient habe: »Die Schriftgelehrten standen stereotypisch für das Wort, die Pharisäer stereotypisch für die Tat, während Matthäus und die Matthäusgruppe sich im Gegenteil für die Einheit von Wort und Tat eingesetzt haben« (123).
Thematisch etwas deplatziert wirkt Detlev Dormeyers Beitrag (127–140), der zunächst auf das Fehlen eines expliziten Schuldspruchs in den Passionserzählungen des Matthäus und des Johannes hinweist, um diese Erzählungen sodann mit den Regeln und Praktiken der Gerichtsbarkeit in den östlichen Provinzen des römischen Imperiums zu vergleichen und dabei zu dem nicht überraschenden Resultat zu gelangen, dass es entgegen der frühchristlichen Erzählüberlieferung keinen förmlichen Prozess Jesu gegeben habe: »Die unterschiedlichen Darstellungen der Evangelien […] konstruieren nachträglich jeweils einen plausiblen Handlungsverlauf« (138). Während Gottfried Schimanowski (141–163) in Philons apologetischen Schriften In Flaccum und Legatio ad Gaium eine hoffnungsstiftende theologische Deutung der lokalen antijüdischen Pogrome des Jahres 38 n. Chr. findet, konzentriert sich Joseph Sievers (164–174) auf die – höchst selektive – Benutzung der Werke nichtjüdischer Autoren durch Josephus. Jan Willem van Henten (175–186) interpretiert die von dem jüdischen Geschichtsschreiber sowohl in Bellum I 648–655; II 5–7 als auch in Antiquitates XVII 148–164 überlieferte Zerstörung des über einem Tor des Jerusalemer Tempels angebrachten goldenen Adlers durch aufständische Judäer als Ausdruck eines »clash of authorities« (185) bzw. der grundsätzlichen Ablehnung eines solchen (zumal dem akzentuierten Bilderverbot des Dekalogs widersprechenden) Symbols der von He­rodes unterstützten römischen Fremdherrschaft. Ein forschungsgeschichtlicher Aufsatz von Daniel R. Schwartz (187–200), in dem es um die Identifikation des anonymen Verfassers einer 1867 erschienenen deutschen Übersetzung der beiden kürzeren Werke des Josephus (De vita sua und Contra Apionem) geht (S. schreibt das Werk dem Breslauer jüdischen Gelehrten Manuel Joël [1826–1890] zu), beschließt den lesenswerten Tagungsband. Beigegeben sind Verzeichnisse der Stellen (206–215), Sachen, Orte und Namen (216–219) sowie moderner Autoren (220–224).
Insgesamt spiegeln sich in sämtlichen Beiträgen des Bandes nicht nur die hohe Relevanz und die Komplexität des multiperspektivischen Begriffs »Identität« für die Erforschung der Literatur und Religion des antiken Judentums und des frühen Christentums wider, sondern auch die vielfältigen Arbeitsgebiete und Interessen des mit dem Symposium geehrten damaligen Direktors des Institutum Judaicum Delitzschianum.