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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1168–1171

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Calabi, Francesca, Munnich, Olivier, Reydams-Schils, Gretchen, et Emmanuelle Vimercati [Eds.]

Titel/Untertitel:

Pouvoir et puissances chez Philon d’Alexandrie.

Verlag:

Turnhout: Brepols Publishers 2015. XXX S., S. 9–388 m. 5 Abb. = Monothéismes et Philosophie, 22. Kart. EUR 65,00. ISBN 978-2-503-56637-5.

Rezensent:

Folker Siegert

Was macht zurzeit die Philon-Forschung? Eine Tagung vom Juni 2011 in Mailand, vier Jahre danach als Sammelband erschienen, kommt nunmehr dem Rezensenten auf den Tisch. Sie bietet 19 Namen, darunter auch die solcher Größen wie David Runia, Greg Sterling, Roberto Radice, Maren Niehoff und nicht zuletzt Carlos Lévy: Er, Begründer der Reihe »Monothéismes et Philosophie«, Latinist der Sorbonne und sonst Cicero- und Skepsis-Forscher, aber auch spiritus rector gewesener und zu erwartender Philon-Konferenzen, hat eine brillante Einführung geschrieben (XV–XXX). Nächst der Einordnung des Kongresses in die Forschungsgeschichte bietet sie ein Resümee aller Beiträge. Die Ordnung nach Unterthemen, die er vorschlägt (XXII), ist anschließend auch in der Gliederung des Bandes befolgt worden. Sieben Beiträge sind auf Französisch ge­schrieben, sieben auf Englisch, acht auf Italienisch, keiner auf Deutsch. Auf S. 357–361 stellen die Autoren und Autorinnen sich vor, eine löbliche Verbesserung gegenüber früherer Verschwiegenheit. Eine Gesamtbibliographie und ein Stellenregister runden den Band ab.
Der Band ist sauber gedruckt, jedoch keineswegs frei von Druckfehlern und in der Wiedergabe des Griechischen nicht einheitlich (unterschiedliche Transkriptionen).
Das Wort atheia, das derzeit in der Philon-Forschung die Runde macht, gibt es bei Philon gar nicht (sondern atheotēs) und sonst auch nur selten, als viersilbiges Wort: atheïa. (Nur im Italienischen ist das kein Unterschied.) Im Register, wo wieder einmal »Origines« zu lesen steht statt Origenes, ist die Einordnung biblischer Bücher nach dem Alphabet nicht günstig; man muss sich Philons Bibel, den Pentateuch, aus den Buchstaben D, E, G, L und N zusammensuchen. Unter »Heb« ist der Hebräerbrief zu finden, das Evangelium des Johannes jedoch weder unter E noch unter J; dabei hatte dessen Logoslehre durchaus als Vergleichsgegenstand gedient (96). Auch sind die Verweise auf Legat., die der Beitrag Sfameni Gasparro bot, übersehen, wohl weil sie anders formatiert gewesen waren, als dass elektronische Suche sie gefunden hätte. Das ist schade angesichts der gleich noch zu beklagenden Ausblendung des Historisch-Konkreten.
Ein zentrales Stück aus Philons Kosmo-Theologie ist herausgegriffen worden, die Lehre von den dynameis des »Seienden«, zwei an der Zahl in kosmischem Antagonismus oder auch mehr, je nachdem wie differenziert ihr Wirken dargestellt wird. Mit »pouvoir« ist kratos gemeint, die politische Macht, was ja wohl, allen voran, diejenige Roms sein müsste. In dieser Hinsicht ist die Themenstellung jedoch weit weniger klar, und manche der Beiträge lassen den his­torischen Bezug überhaupt vermissen. Die begriffsgeschichtliche Engführung des ganzen Bandes ist bereits im Register sichtbar an der nur sporadischen Verwendung des Traktats De providentia.
Eine politische Lektüre dieses (in zwei Fassungen erhaltenen) Traktats, die bei der gegebenen Themenstellung doch wohl unerlässlich gewesen wäre, unterbleibt selbst da, wo er zitiert wird. Zu einseitig hat man sich auf das Wortfeld um dynamis geeinigt, und da hat Prov. keine Chance, fehlt es doch, bis auf die wenigen im griechischen Original enthaltenen Fragmente, in den Philon-Indizes einschließlich TLG.
Dabei hätte die Konfrontation der philonischen Theosophie mit »Macht« nicht nur als Begriff, sondern auch als physisch ausgeübter (vgl. XXI), durchaus fruchtbar sein können. War Philon, der für sich beanspruchte, »Judäer« und (alexandrinischer) »Grieche« zugleich zu sein, nicht auch Römer? War er nicht der Bruder des Verwalters der kaiserlichen Finanzen in der Provinz Ägypten?
Gottfried Schimanowski, Juden und Nichtjuden in Alexandrien (2006, nicht zitiert) vermutet in einem Abschnitt »Philon der Jude, Alexandriner und Römer« nicht ohne Grund, dass seine ganze Familie rechtlich römische Bürger waren. Sein Bruder jedenfalls war ein Julius, der Kaiserfamilie zugehörig. Philon wähnte sich aufgrund der romfreundlichen Haltung des Judentums, die von Caesar mit den bekannten Privilegien belohnt wurde und wofür sein Neffe Alexander, von ihm in Prov. noch ermutigt, die politische Karriere beschritt, auf Seiten der Mächtigen.
Die vielen Mächte und Götter, theoi und kyrioi, die Philon kennt und auch Paulus (1Kor 8,5, nicht zitiert), dürfen in Philons Welt dank allerhöchster Providenz sich auswirken in allen ihnen möglichen Richtungen – nicht zuletzt dank Rom.
Sämtliche Beiträge machen einen großen Bogen um Flacc. 53–57, jenen Konflikt der alexandrinischen Juden mit der kaiserlichen mai-es­tas am Tage der reichsweit verordneten Staatstrauer um Caligulas verstorbene Schwester Drusilla (vgl. aber XVII). Alan Kerkeslagers Analyse in JSJ 2006, 367–400, bleibt ungenutzt, welche die Ereignisse dieses Tages, den Philon nicht berichtet, sondern übergeht, aus ihren Folgen erschließt, nämlich aus dem Verlust der bürgerlichen Rechte für die Juden Alexandriens. Den konnte Flaccus nicht ohne Anlass aussprechen, so wie Philon das suggeriert. Zu den Folgen zählt auch die Notwendigkeit jener Gesandtschaft nach Rom unter Philons Führung, deren Scheitern er danach in Legat. darstellt, getröstet nur vom Scheitern Caligulas selbst wie auch dem des Flaccus. Es ging um nichts Geringeres als die Wiederherstellung der von Caesar den Juden des ganzen Reiches gewährten, von Claudius dann zögernd erneuerten Privilegien; es ging um ihre Sonderstellung im ganzen Reich, sowohl in politischer wie in kultischer Hinsicht. Es enttäuscht den Rezensenten, auf die Rahmenbedingungen des Themas pouvoir et puissances hier allererst hinweisen zu müssen, die doch das Profil des ganzen Bandes hätten werden können. Die philologische Einseitigkeit der Konzeption lässt Interpretationsmöglichkeiten ungenutzt, die dessen Neuheit hätten ausmachen können.
Selbst der thematisch auf die Macht Roms gerichtete Beitrag von Giulia Sfameni Gasparro umgeht die besagten Passagen und verschenkt die Chance, Neues in die Philon-Forschung einzubringen; das Historische wird in die Anmerkungen abgedrängt (150 f.). Auch der in seinem Titel originelle Beitrag von Maren Niehoff über Ares (Mars) im Denken Philons gedeiht nicht bis dahin, dessen »Macht« – von deren römischer Verehrung Philon immerhin spricht (135) – mit den Legionen Roms in Verbindung zu bringen. In hermeneutischer Hinsicht fällt dabei auf, dass Ironie bei Philon, wo sie gegen Rom gerichtet ist, zwar durchaus bemerkt wird (131), nicht jedoch Philons Unverständnis gegenüber jener anderen Ironie, in welcher Caligula Roms Götter in einem Fasching von Verkleidungen verspottete. Erich Gruens diesbezüglicher Hinweis wird in der Fußnote genannt, aber nicht rezipiert. Als Philon in Rom dem mächtigsten Mann der Welt persönlich gegenüberstand und von diesem die kalte Schulter gezeigt bekam, wusste er angeblich überhaupt nicht, woran es lag; stattdessen gibt er an, Caligula sei verrückt gewesen. Kreist denn nicht auch Philon um sich selber, gerade dort, wenn auch auf feinere Art? Er hat ja wahrhaft viel geschrieben über die Macht der Emotionen, aber bis zum Wahrnehmen der Emotionen anderer ist seine Kunst nicht gediehen. Zu schweigen von der politischen Analyse: In der Konfrontation mit tatsächlicher Macht erleben wir bei ihm einen eklatanten Wirklichkeitsverlust.
Leider ist auch auf rein gedanklichem Gebiet, wo, Philon gemäß, der eigentliche Ehrgeiz der Beiträge liegt, Wichtiges übersehen oder im Unklaren gelassen worden. So etwa, dass dynamis noch keine »Wirkung« meint oder gar »Wirklichkeit«, auch nicht »Aktivität« (das wäre energeia), sondern die »Möglichkeit« oder auch »Fähigkeit«, etwas zu erreichen (253: ability). Dynamis ist, in philosophischen Texten zumindest, nicht power, sondern possibility. Das ist auch gegen Ellen Birnbaums sonst so schönen Beitrag (111–127) zu erinnern; dynatai ti heißt: Etwas ist möglich. Wo bleibt die Abgrenzung dieses Begriffs gegen den aristotelischen Komplementärbegriff energeia, den Philon doch kennt? Stellen, wo man das hätte klären können, Spec. 1,46 f. etwa oder Heres 110, werden in dem Band zwar genannt, aber nicht dazu genutzt.
Schon in dem als lexikalische Orientierung gedachten Anfangsbeitrag von Monique Alexandre wird nur lexikalisch, nicht systematisch gedacht. Die Rede von einem kratos des »Stehenden« (33; Post. 28) ist doch wohl paradox: Wie kann, wer steht, alles Übrige bewegen? Soll man auch dazu Aristoteles konsultieren? Die Angaben zu kratos auf S. 17–19 greifen das systematische Problem nicht auf, und wie die Begriffe exousia und archē auf den »Seienden« oder (passender) auf seine dynameis anzuwenden sind, wird nicht zu ordnen versucht. Vom Griechischen her wäre archē im Sinne von »Anfang« vom »Seienden« wohl zu prädizieren, im Sinne von »Herrschaft« jedoch weit weniger. Wo wird das bedacht?
Verwirrend, diesmal ohne Schuld des Alexandriners, ist die Rede vom »Gott« Philons, als wäre er das, was in seinen Texten als theos bezeichnet wird. Der o. g. Anfangsbeitrag sagt es erst auf S. 13, dass theos nur eine der beiden »Kräfte« oder »Möglichkeiten« (dynameis) ist, und sie befinden sich auf der untergeordneten Ebene der – be­reits übelträchtigen – Zweiheit. Über ihnen thront, was immer wieder vergessen wird, der »Seiende« von Ex 3,14 LXX. Von diesem Einen und von diesen Beiden sagt Roberto Radice (297, zu Spec. 1, 46 f.), dass von den funzioni jener höheren Instanzen nicht auf deren es­senza geschlossen werden könne. Wenn dann aber Philon selbst sein Höchstes Wesen »Gott« zu nennen scheint (254: »God and his powers«, nach Abr. 59), stellt sich die Frage, ob er seine Sprachregeln vergessen hat oder ob wir uns nicht doch auf Stufe 2 seines Systems befinden. (Es geht um einen Schöpfungsakt, eine Zeugung, also das für theos, und nicht für kyrios oder den »Seienden«, Typische.) Das wäre eine interessante Interpretationsfrage gewesen.
Was den Komplementärbegriff zu theos betrifft, kyrios, so bleibt die Bedeutung »Eigentümer«, die diesem Wort vom Griechischen her ursprünglich wäre und damit eher auf das Schöpfer- als das Herr(scher)sein des »Seienden« verwiese (die Schöpfung, gedacht als Prägung von Materie, ist in philonischer Sprache sein »Eigentum«, ktēma), undiskutiert. »Herrsein« und »Herrschersein« gehen seit Philon bis heute im Reden von Gott als »Herr« durcheinander, so wie »Eigentum« und »Besitz« in der Umgangssprache. Hier wäre es der Mühe wert gewesen, wenigstens metasprachlich weiter zu kommen als Philon selbst.
Auch wo das Problem des Dualismus mutig und frontal aufgegriffen wird, bleibt ein Defizit. Francesca Calabi fragt in Il potere regale di Dio e le sue crepe (Risse) in Filone di Alessandria: Wie kann es nach Philon sein, dass in der Schöpfung Feindschaft aufkommt gegen den Schöpfer? Wie kann der Sündenfall die providentielle Ordnung der Welt durcheinanderbringen? Leider lässt schon der Titel unklar: Wer aus Philons System soll hier der »König« sein, theos, kyrios oder der »Seiende« zugleich mit ihnen? Am Ende steht dann ein Widerspruch (110): Eva als Mensch Nr. 2 ist zwangsläufig Trägerin des Bösen, denn schon die Zwei ist von Übel (sagte Pythagoras). Das klingt zunächst plausibel; doch nennt Philon diesen Umstand im selben Kontext eine »Notwendigkeit«, er bezeichnet ihn als »Schicksal«. Merkt er denn nicht, dass dieses Schicksal – natürlich ist es nicht ein Mensch namens Eva – es ist, welches dem »Seienden« ernstlich Konkurrenz macht, ja in eine äußerst üble Zweiheit mit ihm tritt? Wurde nicht dies der Ausgangspunkt der Gnosis: Dem Schöpfer ist seine Welt missraten, seine Weisheit hat Löcher?
Diesem Problem wäre wohl nur so beizukommen, dass man die Theologie löst von Kosmologie und »Weltanschauung«. (Das ist freilich auch im Christentum nicht immer getan worden.) Den Rabbinen, die dazu bereit waren, gilt Esther Starobinski-Safrans Beitrag über die sefirot der Kabbala. Ob und vor allem wie die Kabbalisten Philon-Kenntnis hatten, muss dort allerdings offen bleiben. Auch antwortet er auf das eben genannte Grundproblem nur indirekt: Der »Gottesmann« Mose wird Eigentum (lot, »Anteil«) des unnennbaren Gottes, dieser aber auch sein Anteil und Eigentum – Grundgedanke der Mystik.
Die Beiträge verbleiben im sicheren Innenraum der Ideen- und Begriffsgeschichte und wagen nicht, pouvoir als Macht auf Erden konkret ins Auge zu fassen – auch da nicht, wo es angekündigt wird. Dabei hat Philon mit ihr mehr, als ihm lieb war, zu tun gehabt.