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Ausgabe:

November/2017

Spalte:

1165–1168

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Benz, Wolfgang [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 7: Literatur, Film, Theater und Kunst. Hrsg. im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Red. B. Mihok. In Zusammenarbeit m. W. Bergmann, R. Kampling, J. Wetzel und U. Wyrwa.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter Oldenbourg 2014. XXI, 598 S. Geb. EUR 209,00. ISBN 978-3-11-025873-8. Bd. 8: Nachträge und Register. Bearb. v. B. Mihok. Berlin u. a.: De Gruyter Oldenbourg 2015. IX, 426 S. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-037932-7.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Als Nachtrag zur Besprechung der Bände 1 bis 6 des Handbuchs im Literatur- und Forschungsbericht der ThLZ 139 (2014) 12, 1543–1549, folgt hier die Rezension der beiden noch ausstehenden Bände. Band 7 versammelt, in dieser Hinsicht den in sich ja ebenfalls sehr heterogenen Bänden 3, 4 und 5 vergleichbar, eine Vielzahl von qualitativ und quantitativ ganz unterschiedlichen Beiträgen zu Manifes-tationen des Antisemitismus in der Kultur. Aufgenommen wurden fast immer flüssig zu lesende und interessant aufbereitete, informative Beiträge zur Literatur (mit einem Schwerpunkt im 19. und 20. Jh., aber auch Artikeln zu früheren Jahrhunderten, z. B. zu den Canterbury Tales aus dem 14. Jh.), zum Film, zum Theater sowie zur Bildenden Kunst und Musik. Hinzu kommen schließlich Artikel zu einzelnen Essays, zu Denkmälern (Das Mendelssohn-Bartholdy-Denkmal in Leipzig) und zu Karikaturen und Comics (namentlich mit Beiträgen zu rechtsextremen Comics, zu französischen Comics und zum Internationalen Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb, der im Februar 2006 im Iran als Antwort auf die Mohammed-Karikaturen in der dänischen Zeitung Jyllands-Pos­ten ausgerufen wurde).
In allen Sparten werden sowohl Produkte des Antisemitismus als auch Ausdrucksformen des »Anti-Antisemitismus« besprochen. Im Hinblick auf Romane geht es etwa um Max Frischs Andorra auf der einen und um Gustav Freytags Der Hungerpastor auf der anderen Seite. Was die Lyrik anbelangt, so stehen Informationen zu Bertolt Brechts Ballade von der Judenhure Marie (31–33) einer Besprechung von Wilhelm Buschs Bildergeschichte Die Fromme Helene gegenüber. Dabei gehört es zu den Vorzügen des Bandes, dass die Qualifizierung eines bestimmten Werkes als »antisemitisch« im­mer wieder diskutiert und gelegentlich auch relativiert oder zu­rückgenommen wird; so kommt der Autor (U. Wyrwa) im letztgenannten Artikel zu der Einschätzung, dass die judenfeindlichen Verse Buschs (»Und der Jud mit krummer Ferse/krummer Nas und krummer Hos’/schlägelt sich zur hohen Börse/tiefverderbt und seelenlos«) die bewusst stilisierte Karikatur einer judenfeindlichen Haltung sind. Angemerkt wird dazu, dass der Autor sich später »ab­fällig über den Antisemitismus […], positiv hingegen über Juden« äußerte (127).
Besonderes Interesse verdienen Artikel zu judenfeindlichen Dichtungen der frühen Neuzeit wie den Contra Iudaeos-Liedern von Michel Beheim aus dem 15. Jh. und die zur gleichen Zeit entstandenen Meisterliedern des in Worms geborenen Dichters Hans Folz (152–153). Genannt sei auch das Straßburger Gedicht »Enderung und schmach der bildung Marie von den juden bewissen« aus dem frühen 16. Jh., in dem es um eine populäre judenfeindliche Legende geht, nach der ein getaufter Jude in einem Kloster ein Marienbild schändete, das daraufhin zu bluten angefangen habe (94–95).
Auch im Bereich des Theaters stehen sich judenfeindliche Er­scheinungen – das Arische Theater (oder Antisemitentheater) in Wien (1898–1903) – und jüdische Produktionen gegenüber, die sich mit den Mitteln der Bühnenkunst gegen die Judenfeindschaft zur Wehr setzen. Lesenswert ist der Artikel von Wolfgang Benz Jud Süß in der Literatur, der auch Hinweise auf Bühnenbearbeitungen des Stoffs (z. B. durch das jüdische Nationaltheater HaBima in Israel) enthält. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Artikel zu spätmittelalterlichen oder frühzeitlichen Bühnenstücken, die judenfeindlichen Motiven in unterschiedlichen Passionsspielen oder in Fastnachtsspielen nachgehen. Eine besondere Rolle kommt dem Endinger Judenspiel zu (96–98), das einen angeblichen jüdischen Ritualmord aus dem 15. Jh. zum Gegenstand hat. Ein eigener Text ist ferner der Deggendorfer Gnad gewidmet, einer Massenwallfahrt zum Ort eines im 14. Jh. angeblich von Juden begangenen Hostienfrevels, die erst 1992 auf Betreiben des Regensburger Diözesanbischofs eingestellt wurde (65–66). Hier befremdet freilich der Eingangssatz, nach dem Erzählungen vom Hostienfrevel »[b]einahe so alt wie das Christentum selbst und ebenso weitverbreitet« seien. Hätte man hier nicht theologischen Sachverstand zu Rate ziehen können, um zeitlich (hinsichtlich des Zusammenhangs mit dem 4. Laterankonzil) und geographisch präziser zu formulieren?
Besonders erwähnenswert ist der Beitrag zu Max Liebermanns Gemälde Der zwölfjährige Jesus im Tempel, das während einer Mün­chner Ausstellung 1879 für einen Skandal sorgte, weil der Maler Jesus »nicht als erhabene, hehre Lichtgestalt« dargestellt, sondern einen »jüdischen Knaben« gezeigt hatte, »der mit erwachsenen Juden diskutiert« (564). Im Rückblick auf die damalige Empörung, die sich antisemitischer Slogans bediente, äußerte Liebermann später, »dieses Bild habe den Berliner Hofprediger Stoecker ›zu seiner Judenhetze veranlaßt‹« (566) – hier wie an anderer Stelle hätte sich der Leser über einen genauen Zitatnachweis gefreut.
Die in der Rubrik Film zu erwähnenden Besprechungen sind sehr international ausgerichtet; aufgenommen wurden – neben Besprechungen von nationalsozialistischen Filmproduktionen (z. B. Der Triumph des Willens von Leni Riefenstahl, 1934) – Artikel zu Arbeiten Claude Lanzmanns ebenso wie zu skandinavischen, rumänischen oder auch spanischen und amerikanischen Filmen. Im mit knapp zwei Seiten recht kurzen Eintrag zu Jesusfilmen (Autor: Matthias Blum) wird Mel Gibsons Die Passion Christi aufgrund der in diesem Film auffallenden negativen »Überzeichnung des Hohen Rates und breiter Schichten des jüdischen Volkes« kritisiert (191). Etwas überraschend ist ein ebenfalls zweiseitiger Beitrag zu Judenbildern in der Fernseh-Krimiserie Tatort. Mit Bezug auf einige (wenige) Folgen, in denen jüdisches Brauchtum zu Wort kommt und auch jüdische Verdächtige in den Blick geraten, attes-tiert die Autorin (Renée Winter) dem Fernsehen ein freilich nicht immer gelungenes »Streben um Normalität jüdischer Figuren« (486). Soll man hier wie an manch anderer Stelle in diesem Band die Frage nach dem Kriterium für die Aufnahme dieses Textes in den Band stellen? In diesem Fall wäre diese Frage wohl mit dem Hinweis auf eine 2003 vom SWR ausgestrahlte Folge unter dem Titel »Der Schächter« zu beantworten; in dieser Tatort-Episode – mit dem Ausgangspunkt des Fundes der Leiche eines Jungen, dessen Hals einen großen Schnitt aufwies – war es allen Ernstes um eine Art Ritualmordvorwurf gegangen, bei dem Juden verdächtigt wurden (485).
Die Wahrnehmung der vielfältigen Erscheinungsformen der Judenfeindschaft ist wahrlich erschreckend. Dennoch drängt sich bei der Durchsicht gelegentlich die Frage nach den Kriterien der Aufnahme in dieses Handbuch auf. Zu einer gewissen Unübersichtlichkeit trägt bei, dass die Einträge zu den unterschiedlichen Sparten des Kunst- und Kulturbetriebs nicht auf unterschiedliche Großkapitel (Literatur, Film, Theater …) verteilt, sondern promiscue und alphabetisch (nach den Anfangsbuchstaben in den jeweiligen Originalsprachen) angeordnet sind. Informationen zum Essay Jan Blonskis (»Die armen Polen schauen auf das Ghetto«) über zwei Gedichte des polnischen Literaturnobelpreisträgers Czeslaw Milosz (1911–2004) zum Thema des Warschauer Ghettoaufstands erscheinen unter dem polnischen Titel des erwähnten Essays (»Biedni Polacy patrza na getto«), also unter dem zweiten Buchstaben des Alphabets. Auch diese Anordnung wird freilich nicht konsequent durchgehalten: Marcel Ophüls Dokumentation »Le Chagrin et la pitié« (1969) über eine Massenverhaftungsaktion der deutschen Okkupanten im besetzten Paris (1942) erscheint nicht unter »C«, sondern unter dem Eintrag »Vélodrome d’Hiver-Razzia im Kinofilm« (513–515).
Der Abschlussband des Handbuches beginnt – offenbar um der Unübersichtlichkeit im Hinblick auf die Definition des Antise-mitismus einige Orientierungsmarken entgegenzusetzen – mit einem Überblicksartikel des Herausgebers zum Thema Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart. Es folgen nachgetragene Personenartikel etwa zu Ferdinand Christian Baur, Sören Kierkegaard (erstaunlicherweise wird in der Rubrik Literatur zum Thema »Kierkegaard und die Juden« nur ein einziger, zumal dänisch-sprachiger Titel genannt), Arthur Trebitsch, Kurt Tucholsky, Max Wilhelm August Wundt und zum württembergischen Landesbischof während der NS-Zeit Theophil Wurm (Autor: Axel Töllner).
Es folgen nachgetragene Sachartikel – etwa zum Freiburger Rundbrief (das Aufnahmekriterium für diesen Text ist dem Rezensenten nicht klar geworden), zur Gesetzesfrömmigkeit (gemeint ist der gegen die Juden gerichtete Vorwurf der »Werkgerechtigkeit«; Autor: Matthias Adrian) und zur Katholischen Reform und Gegenreformation (Autor: Markus Thurau). Einen Nachtrag wert war auch die Debatte um Günter Grass’ »Gedicht« aus dem Jahre 2012 Was gesagt werden muss. Dieser letztere Beitrag aus der Feder des Herausgebers ist mit seiner feuilletonistisch-suggestiven Sprache symptomatisch für die Problematik einer ganzen Reihe von Texten der nun vorliegenden acht Bände. So sagt der Autor, der auf eine Verteidigung des Dichters abzielt, der Grass-Kritik (hier Henryk Broders) ohne weitere Belege und Zitate nach, »weniger tiefschürfend« zu analysieren »als durch Überzeugung« festgelegt zu sein (217). Dass die Grass-Debatte gezeigt habe, »wie leicht der Antisemitismusvorwurf politisch zu instrumentalisieren ist« (219), war Lesern auch vorher nicht neu. Ein solches Argument, also die Verwahrung gegen eine (vorgeblich oder tatsächlich) sachfremde Indienstnahme der Anklage des Antisemitismus, war – das macht dieses Handbuch ja deutlich! – in den vergangenen Jahrzehnten aber von Autoren diesseits und jenseits des Grabens zu hören, der Antisemiten von Judenfreunden trennt. Aufgabe einer seriösen Antisemitismusforschung wäre an dieser Stelle aber nicht die Verbreitung von Gesinnungsrhetorik, sondern die Herausarbeitung von Kriterien gewesen, die es erlauben, das Eindeutige vom Uneindeutigen und manchmal auch Zwielichtigen oder einfach Geschmacklosen (ein schlechtes Gedicht!) zu unterscheiden und im gegebenen Falle einmal ein (bei diesem Thema ja fast zwangsläufig immer moralisierendes) Urteil zurückzustellen. Ein Autorenverzeichnis und ein Gesamtregister der Personen sowie der Orte und Regionen schließen den Band ab.