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Ausgabe:

Dezember/1999

Spalte:

1256–1258

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Gryphius, Andreas

Titel/Untertitel:

Herodes - Der Ölberg. Lateinische Epik. Hrsg., übers. und komment. von R. G. Czapla.

Verlag:

Berlin: Weidler 1999. 349 S. m. 7 Abb. 8 = Bibliothek seltener Texte in Studienausgaben, 4. Kart. DM 84,-. ISBN 3-89693-133-4.

Rezensent:

Johann Anselm Steiger

Der Germanist Ralf Georg Czapla legt eine Neuedition dreier lateinischer Großdichtungen des Dichters Andreas Gryphius mit deutscher Übersetzung, Stellenkommentar und Nachwort vor. Somit sind nun drei bedeutsame bibelepische Schriften G.s. und damit ein nicht unwesentlicher Teil seines weniger beachteten lateinischen Frühwerkes - erstmals in Form einer zweisprachigen Studienausgabe - zugänglich. Diese Edition verdient nicht nur auf seiten der germanistischen, sondern auch und im besonderen der historisch-theologischen Früheneuzeit-Forschung Beachtung und erinnert letztere daran, daß neben der hymnologischen Interessenlage bezüglich der geistlichen Dichtung außerhalb des Gebietes des Kirchenliedes noch viele Hausaufgaben zu erledigen sind. "Herodis Furiae & Rachelis lachrymae" (1634), "Dei Vindicis Impetus et Herodis Interitus" (1635) und "Olivetum libri tres" (1646) - das Epos "Golgatha" ist verschollen (329) - sind Teile eines großangelegten, aber fragmentarisch gebliebenen Zyklus, innerhalb dessen G. wohl ursprünglich die gesamte vita Christi poetisch bearbeiten wollte (328).

Vorliegende Edition, die auf den Erstdrucken beruht (nur ,Olivetum’ wird nach der veränderten und korrigierten zweiten Auflage [1648] ediert), ist mit hohem philologischen Sachverstand und bestechender Kompetenz im Hinblick auf die Kommentierung gearbeitet. Die parallel zum lateinischen Text gebotene Prosa-Übersetzung lehnt sich eng (genug) an die Vorlage an, ist aber dennoch nicht nur gut zu lesen, sondern selbst als kunstvoll gelungen zu bezeichnen. Die Editionsprinzipien verfolgen bezüglich "Lautstand, Orthographie und Interpunktion" (258) dankenswerterweise das Prinzip der Vorlagentreue und verzichten weitestgehend auf Normalisierungen. Der textkritische Apparat, dem die Kategorie des ,Stillschweigens’ zum Glück unbekannt ist, sorgt für die wünschenswerte Transparenz, indem er Orthographie- und Satzfehler, Varianten späterer Drucke sowie - soweit vorhanden - von G. vorgenommene handschriftliche Korrekturen und Einträge verzeichnet.

Die "Erläuterungen" (272-309) enthalten sehr detaillierte Gliederungen der G.-Texte und bieten im Sinne eines Stellenkommentars - knapp und treffsicher auf den Punkt gebracht - die wichtigsten Informationen. Besonderes Augenmerk wird dabei neben Sacherläuterungen dem Nachweis antik-heidnischer Quellen geschenkt, aber auch Bibelzitate bzw. -allusionen und patristische Similien sind recht breit angegeben. Dabei wird - dem Genus ,Studienausgabe’ angemessen - keine Vollständigkeit angestrebt, die angesichts der überaus hohen Dichte der G.schen Texte auch durch einen sehr viel umfangreicheren Kommentar nicht zu erreichen wäre. Kleinere Monita (wie etwa die Tatsache, daß die Bezeichnung Jesu als Lamm zunächst von Jes 53,7 und Joh 1,29 herrührt [306]) schmälern das hier Geleistete nicht. Gleichwohl hätte z. B. bezüglich der prophetischen oratio ficta Davids, den G. auf die Passion Christi vorausblicken läßt (vgl. 250-252), belegt werden können, daß dieser Teiltext von ,Olivetum’ sich in vielerlei Hinsicht aus Ps 22 speist, der nicht erst im 17. Jh., sondern schon in der patristischen Tradition in toto als Weissagung des Leidens Christi ausgelegt zu werden pflegte: Die Löwen, Stiere und Hunde (250,516 ff.) entstammen Ps 22,13 f.17, die Bezeichnung Christi als vermis (Wurm) (252,527) folgt Ps 22,7, während das Motiv der Verlosung (252,531 f.) auf Ps 22,19 basiert. Dennoch sollte dies eher Ansporn für eine genaue biblisch-theologische Analyse der G.schen Bibelepik im Kontext der Motivik zeitgenössischer Passionstheologie und der Exegese der Leidensgeschichte insgesamt denn Anlaß zu Kritik an vorliegender Ausgabe sein. Was die Apparate angeht, wäre es m. E. jedoch besser gewesen, dieselben unter dem Text zu plazieren, auch wenn dies mit höheren Produktionskosten verbunden gewesen wäre.

Das Nachwort des Herausgebers bietet nicht nur wichtige, in die edierten Texte einführende und deren Kontexte erhellende Informationen, sondern meldet z. B. auch - stichhaltig begründet - Bedenken gegen die von Marian Szyrocki vertretene These an, derzufolge man anhand von G.s frühen lateinischen Dichtungen zu beobachten fähig sei, wie der Schlesier sich zum Dramendichter entwickelt habe. Erschlossen wird die Edition durch ein "Verzeichnis der Eigennamen" (310-318), das kurze Erläuterungen der biblischen, mythologischen und geographischen Namen enthält. Den ersten beiden G.-Texten sind Reproduktionen der Titelseiten der Erstdrucke beigegeben. Weswegen eine solche zu ,Olivetum’ fehlt, ist dem Rez. nicht ersichtlich geworden.

Auf die erhebliche Relevanz der edierten Texte innerhalb der Literatur-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte kann an dieser Stelle naturgemäß nicht im eigentlich erforderlichen Maße eingegangen werden. Es sei aber zumindest darauf hingewiesen, daß z. B. dem Epos ,Olivetum’ eine zentrale Bedeutung innerhalb der Wirkungsgeschichte reformatorischer Theologie und im Kontext der Erforschung der lutherischen Passionstheologie des 17. Jh.s zukommt. Der Text ist von Anfang bis Ende von dem von Luther her bekannten Motiv geleitet, demzufolge Christus in Gethsemane und am Kreuz alle Sünden, den Zorn Gottes und die gesamte den sündigen Menschen zugedachte Strafe des göttlichen Richters getragen hat. Dieses Theologumenon bildet eine der Motivationen für G., diesen Teil der Leidensgeschichte Christi derart eingehend poetisch-meditativ, biblisch tingiert, topisch durchstrukturiert sowie u. a. von der Vergilschen Dichtung inspiriert zu betrachten und in höchst kunstvoller Weise geradezu zu inszenieren, wobei nicht zuletzt die direkten Reden der verschiedenen Aktanten eine zentrale stilbildende Funktion haben. Als im höchsten Maße aufschlußreich dürfte sich jedenfalls bei der künftigen interpretatorischen Befassung mit dieser Quelle die Fragestellung erweisen, inwiefern lutherische Auslegungen der Passionsgeschichte, nicht zuletzt Valerius Herbergers, Johann Gerhards u. a., deren Virulenz im Schaffen G.s Hans-Henrik Krummacher bereits nachgewiesen hat, auch das ,Olivetum’ betreffend einen entscheidenden Einfluß gehabt haben. Die germanistisch-literaturwissenschaftliche und die historisch-theologische Früheneuzeit-Forschung haben mit der vorliegenden verdienstvollen Edition einen Grund mehr, das zu tun, was zu wenig getan wird: nämlich gemeinsame Sache zu machen.