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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1095–1098

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Grümme, Bernhard, u. Thomas Schlag [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gerechter Religionsunterricht. Religionspädagogische, pädagogische und sozialethische Orientierungen.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016. 351 S. m. 5 Tab. = Religionspädagogik innovativ, 11. Kart. EUR 40,00. ISBN 978-3-17-030942-5.

Rezensent:

Bernhard Dressler

Was ist »gerechter Religionsunterricht«? Auf welche Weise kann Unterricht »gerecht« sein? Geht es um einen Religionsunterricht, der einem Gerechtigkeitsideal verpflichtet ist? Das verlangt eine kontroverse Diskussion um das, was Gerechtigkeit ist und wie sie erreicht werden kann. Geht es um einen Religionsunterricht, der allen Schülern, die an ihm teilnehmen, gerecht wird? Das ist ein hoher didaktischer Maßstab, gegen den es keinen Einwand geben kann, dessen Realisierungsbedingungen aber nicht unumstritten sind. Geht es um einen künftigen Religionsunterricht, der Gerechtigkeitsmaximen z. B. durch Inklusion einlöst? Das ist eine (hinsichtlich ihrer Lösungsbedingungen ebenfalls nicht unumstrittene) Frage an die Schule, in der der Religionsunterricht stattfindet, und auf die er als Religionsunterricht einen eher geringen Einfluss hat.
Das hier zu besprechende Buch enthält zu all diesen Fragen überwiegend Beiträge aus einer interdisziplinären und konfessionsübergreifenden Tagung zum Thema »Bildungsgerechtigkeit in religionspädagogischer Perspektive« – eine Themenformulierung, die gegenüber dem Buchtitel, der sich wohl dem Wunsch nach einer gewissen Plakativität verdankt, sachangemessener erscheint. Was man sich unter einem »gerechten Religionsunterricht« vorzustellen hat, ist nach der Lektüre dieses Buches nicht unbedingt klarer als vorher. Man könnte eben darin allerdings auch eine Stärke dieses Sammelbandes sehen, insofern dessen unterschiedliche, zum Teil auch kontroverse Beiträge der Komplexität und Strittigkeit des Themas durchaus gerecht werden.
Wie fast immer lässt es die Anlage eines solchen Sammelbandes nicht zu, alle Beiträge angemessen in den Blick zu nehmen. In ihrer »Einführung« postulieren Bernhard Grümme und Thomas Schlag, Religionspädagogik müsse aufgrund ihrer Fundierung »in der Theologie der Gottesebenbildlichkeit […] in inhaltlichem Sinn ein Lernen auf Gerechtigkeit hin anstreben«, und das »Menschenrecht auf Bildung« werde »zur religionspädagogischen Sache und Aufgabe selbst.« (9) Dem wird man nicht widersprechen können. Freilich sei es der Bildungspolitik »nicht in ausreichendem Maße gelungen, die Kluft zwischen privilegierten und benachteiligten Schülerinnen und Schülern zu verringern.« (ebd.) Die Herausgeber nennen (10) vier Schwerpunkte: »Rezeption und Interpretation aktueller empirischer Einsichten zum Thema« (1.), die Darstellung »der in d en Bildungswissenschaften geführten Debatte zur Bildungsgerechtigkeit« (2.), die für das Thema relevanten »theologischen Grundlagen« in »ökumenischer Perspektive« (3.), und die Förderung der »religionspädagogischen Reflexion in einer dezidiert bildungsgerechten Perspektive« im Hinblick auf »die Theoriearbeit wie die Praxis religiöser Bildung« (4.).
Den Aufschlag macht Norbert Mette: »Bildung und Gerechtigkeit – religionspädagogische Annäherungen. Eine Zwischenbilanz« (13–27). Er schärft u. a. die Frage, was Theologie und Religionspädagogik »denn über eine Selbstverständigung in den eigenen Reihen hinaus an Relevantem in den allgemeinen Diskurs über Bildungsgerechtigkeit einzubringen vermögen« (18 f.), und betont vor allem die Kritik an der »ökonomistischen Sichtweise« (19). In der Tat sind die Kirchen die einzigen gesellschaftlichen Großinstitutionen, die der bildungsfeindlichen Entwicklung der allgemeinbildenden Schulen zu Dienstleitungsagenturen für den Arbeitsmarkt entgegentreten. Mette warnt freilich vor einer »möglicherweise drohenden Selbstüberschätzung der Religionspädagogik« in diesem Diskurs, und überhaupt vor »einer naiven Überschätzung der Möglichkeiten von Bildung« (14).
Marcin Morawski beleuchtet das Thema »Bildung im Kontext von Distinktionsgeschehen« (28–41) im Rekurs auf die Habitustheorie Pierre Bourdieus – ein Referenzaspekt, der auch in anderen Beiträgen des Buches themeneinschlägiges Klärungspotenzial aufweist.
Norbert Brieden (»Inklusion und Bildungsgerechtigkeit. Interdisziplinäre Sondierungen«, 42–62) rückt die zuweilen beobachtbaren Trivialisierungstendenzen der Inklusionsdebatte (zugleich auch das Thema »Bildungsgerechtigkeit« generell) ins Licht der »grundlegenden Paradoxie der Bildungssysteme […], die Instrumentalisierung für die Gesellschaft einerseits (besonders die Allokations- und Selektionsfunktion) und das Ideal zweckfreier Bildung andererseits miteinander zu vereinbaren. Paradoxien im Leitbild inklusiver Bildung benennen inkludierende Effekte von Exklusionen ebenso wie exkludierende Effekte von Inklusionsbemühungen.« (42 f.)
Alexander Unser (»Soziale Ungleichheiten im Religionsunterricht«, 80–95) berichtet über eine quantitativ-empirische Untersuchung zur Frage, wie weit Geschlecht, soziale Herkunft und Migrationshintergrund als Wirkungsfaktoren des Religionsunterrichts zu ermitteln sind. Ebenfalls empirisch fundiert ist der Beitrag von Stefan Altmeyer und Katharina Funken (»Zum Zusammenhang von Sprachkompetenz und Gotteskonstruktion«, 110–124), in dem das »spezifische Gerechtigkeitsproblem« religiöser Bildung thematisiert wird, ohne damit »eine Strukturfrage pädagogisieren« zu wollen (111). Der Befund, auch religiöse Bildung bestätige »bildungskritische Faktoren wie soziale Herkunft und Sprachfähigkeit« (114), nötigt freilich zu der Einsicht, dass von »außen« in die Schule mitgebrachte Unterschiede sich nicht völlig nivellieren lassen. Die Schwierigkeiten kompensatorischer Bildung sind seit Langem bekannt.
Ausgesprochen interessant und gewichtig nicht nur für den Religionsunterricht in den zunehmend marginalisierten Hauptschul-Bildungsgängen, sondern für die religiöse Kommunikation jenseits bürgerlicher Bildungsmilieus überhaupt, sind die von Frank M. Lütze beigetragenen Beobachtungen und Überlegungen (»Redet die Religion auch mit den Ungebildeten unter ihren Verächtern?«, 96–109). Seine Weigerung »einzusehen, warum Hauptschüler vor allem lernen sollen, wie man Religion praktiziert, während Gymnasiasten weitgehend auf die Reflexion von Religion beschränkt werden« (104), sollte auch an Gymnasien zu denken geben. Wenn ausweislich der Teilnahmedaten »der Religionsunterricht in einem bildungsaffineren Kontext attraktiver« erscheint (99), kann er sich deshalb kaum den »Ungebildeten unter den Verächtern« der Religion auf Kosten des Anspruchs, Religion den Gebildeten zu erschließen, zuwenden. Das erfordert religionsdidaktische Überlegungen, die bislang angesichts der Segregation unterschiedlicher Allgemeinbildungsabschlüsse kaum entwickelt wurden.
Ein interessanter Nebenaspekt in Bernhard Grümmes Einordnung des Themas in den allgemeinen schulpädagogischen Diskurs (»School matters. Zur Relevanz von Schule und unterrichtlichem Handeln für einen bildungsgerechten Religionsunterricht«, 125–138) ist der Befund, dass sich gerade die besonders angesagt erscheinenden offenen Formen selbstgesteuerten Lernens als »sozial selektiv« erweisen.
Befremdlich, mit welcher Attitude Krassimir Stojanov (»Bildungsgerechtigkeit aus bildungsphilosophischer Perspektive«, 168–180) pauschal gegen die »hierzulande« angeblich dem Bildungsthema nicht gerecht werdenden »Erziehungswissenschaften« polemisiert, die dem »Bildungsphilosophen« nicht das Wasser reichen können. Seinem Plädoyer für die Konzeptionierung von »Bildungsgerechtigkeit als Anerkennungsgerechtigkeit« im Anschluss an Axel Honneth (im Unterschied zu »Leistungs«- und »Begabungsgerechtigkeit«) widerspricht mit Gründen der Erziehungswissenschaftler Henning Schluß (»Herausforderungen, Problemstellungen und systematische Erwägungen zur Bildungsgerechtigkeit aus allgemein-pädagogischer Perspektive«, 194–207), insofern sich »Anerkennungsgerechtigkeit dann als kontraproduktiv« erweist, »wenn sie gegen die Verteilungsgerechtigkeit oder Regelgerechtigkeit ins Spiel gebracht wird« (204).
Als den auf- und anregendsten Text dieses Bandes habe ich den Beitrag von Roland Reichenbach (auch er ein Erziehungswissenschaftler) gelesen: »Eine enorme Maschine, um die Gleichheit durch Ausbildung zu fördern: Bemerkungen zum Ungleichheitsdiskurs, zur Pädagogisierung und zur Verhochschulung der Gesellschaft« (181–193). Reichenbach zeigt, dass »die gesellschaftlichen Probleme letztlich weder der Schule bzw. dem Bildungssystem in toto angelastet noch von dieser bzw. diesem wirklich gelöst werden« können (183). Im Gegenteil: »Die Demokratisierung der Bildung – Massenbildung – verringert die sozialökonomischen Unterschiede […] keineswegs, sondern mag noch dazu beitragen, sie zu vergrößern.« (189) Wenn, so könnte man folgern, »sozialer Fortschritt« als »ein primär pädagogisches Projekt« gedacht werde, und wenn sich das gar als »Verblendungszusammenhang« darstelle (185), dann ist die Kehrseite der Ökonomisierung der Bildung die Überlastung der Schule als Reparaturbetrieb für anderswo erzeugte soziale und kulturelle Probleme. Könnte es sein, dass unter der Allmacht kapitalistischer Vergesellschaftungszwänge die Bemühungen um Bildungsgerechtigkeit (zumal durch relativ bedeutungslose Religionspädagogen) illusionär sind und eher der Selbstgerechtigkeit dienen?
Dass aus Sicht der christlichen Religion allen Erscheinungsformen von Ungerechtigkeit im Bildungssystem entgegenzutreten ist und dass dabei Gerechtigkeit immer im Lichte der Barmherzigkeit Gottes zu verstehen und zu gestalten ist, ist eine jener Selbstverständlichkeiten, deren inhaltliche Präzisierung und praktische Gestaltung angesichts der Komplexität des Feldes und der Strittigkeit bildungspolitischer Programmatiken jedenfalls sehr viel schwieriger ist als die Verständigung über die Grundmaximen von Bildungsgerechtigkeit. Auch dass nicht jedes Gerechtigkeitsproblem allein mit Barmherzigkeit zu lösen ist, ist trivial. Die EKD fordert auf diesem Felde »Befähigungs- und Teilhabegerechtigkeit« (und schon darüber könnte man streiten). Schon 1820 maß Schleiermacher Bildung an der Möglichkeit, die Fähigkeiten und Begabungen von Menschen entwickeln und in die gesellschaftlichen Praxisfelder einbringen zu können, ohne dem »Allmachtwahn« der Pädagogik zu verfallen, »daß man aus jedem Menschen machen könne, was man wolle.« Unter dem Programmtitel der »Bildungsgerechtigkeit« verbergen sich (allerdings kaum in dem hier besprochenen Band; eben das ist sein Vorzug) zum Teil auch Nivellierungsaktivitäten, durch die jede Form von Leistungsdifferenzierung (zum Nachteil besonders begabter Kinder und Jugendlicher) ausgehebelt wird. Nicht notwendig ist Bildungsgerechtigkeit als Verdikt gegen Heterogenität zu verstehen. Gerade wenn im recht fertigungstheologischen Sinne Menschen nicht durch Leistung definiert werden, kann es humane Formen von Leistungswettbewerb geben. Und es ist die Unbedingtheit des Menschenwürdepostulats, die auch das Gebildetsein nicht als Voraussetzung von Anerkennung versteht, und eben damit die Bildung von der Anmaßung entlastet, Menschenwürde durchzusetzen.
Auf ein Dilemma wird in diesem Band erstaunlicher Weise nicht näher eingegangen: das Dilemma des Religionsunterrichts an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland, der sich als segregationskritisch in jeder Hinsicht verstehen soll – eben das aber in Hinsicht auf konfessionelle Zugehörigkeit nicht so recht darf.