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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1091–1093

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Demmrich, Sarah

Titel/Untertitel:

Religiosität und Rituale. Empirische Untersuchungen an ostdeutschen Jugendlichen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 376 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 62. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-04284-5.

Rezensent:

Thomas Klie

Wenn eine Psychologin und Theologin sich im mehrheitlich konfessionslosen Umfeld empirisch mit »Religiosität« befasst und sie dies am Exempel rituellen Verhaltens durchdekliniert, dann verspricht eine solche Untersuchung in vielerlei Hinsicht Erkenntnisgewinne: Wie kommen ostdeutsche Jugendliche an Religion heran, der sie in ihrer primären Sozialisation in der Familie bzw. im sozialen Nahraum kaum begegnet sind? Welche Formen erweisen sich in diesem Kontext als praktizierbar? Und welche Inhalte werden in ihnen zum Ausdruck gebracht? Welche adoleszenten Entwicklungsaufgaben helfen sie ggf. zu bewältigen?
Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen hat Sarah Demmrich 410 Jugendliche in 9. Klassen aus Halle (Saale) (qualitativer Pretest: 23 Jugendliche) befragt. Die Ergebnisse überraschen auf den ersten Blick kaum: Die Jugendlichen geben sich intrinsisch motiviert im Blick auf ihr rituelles Such- und Probierverhalten, und sie kommunizieren diesbezüglich mit ihrer Peergroup und über ihre Medien. Anders würden westdeutsch-volkskirchliche Konfirman­den auch nicht antworten. Interessant sind dagegen hierbei die Wirkungen, die aus dem Ritualgebrauch resultieren und die ja mehrheitlich nicht in religionskulturelle Üblichkeiten eingebunden sind: »emotionsregulativ, selbstreflektierend, identitätsbildend«. Die Differenz zu nichtreligiös konnotierten Ritualen zeigt sich hier vor allem in der »übermenschlichen Mächten« zugeschriebenen emotionalen Prägung. Forschungsziel der vorliegenden Arbeit ist es, »die zwei Pole der existierenden und verdrängten christlichen Religiosität in einem […] rituellen Ausschnitt reli-gionspsychologisch zu erschließen« (27).
Die Arbeit gliedert sich wie folgt: ein knapp 100-seitiger Theorieteil (religionssoziologische und -psychologische Rahmenbedingungen, das »persönliche Ritual«, Lernprozesse, Emotionsregulation, Identität, Gottesbilder) mündet in die Fragestellung (121), der dann ein ausführlicher methodologischer Abschnitt zur qualitativen Analyse (122–135) und die Diskussion der qualitativen Ergebnisse (136–178) folgen. Analog ist auch der quantitative Teil gegliedert: Fragestellung (179–184), Methodik (186–214) und Ergebnisse (255–294). Auf zehn kompakten Seiten wird dann ein Fazit gezogen (295–305). Ein detailliertes Literaturverzeichnis sowie die im Anhang befindlichen Fragebögen, Leitfäden und Ergebnistabellen schließen die Arbeit ab.
Fragestellung, Methode und Ergebnisse leuchten unmittelbar ein; hier wurde eine solide Grundlagenforschung betrieben, die die (ostdeutsche) religionspädagogische Theoriebildung vor allem in performativer Perspektive befruchten wird. Die Untersuchung reiht sich ein in einen ganzen Cluster empirischer Untersuchungen zur Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland. Hier nun steht die rituelle Gestalt tentativer Religionspraxis unter Adoleszenten im Vordergrund. Dieser Fokus ist insofern von Interesse, als diese Kohorte – anders als in den alten Bundesländern – durchaus stärker religiös interessiert scheint als deren Elterngeneration.
Ein strukturelles Manko religionspsychologischer Zugriffe liegt jedoch in der notabene kulturtheoretischen »Blindheit« dieser Disziplin. Denn das Subjekt ist immer auch bewusst-unbewusst eingebunden in eine Großgruppensozialität, die auch und gerade in Ostdeutschland religionskulturell kontaminiert ist. So ist die nachsozialistische Indifferenz gegenüber religiösen, insbesondere rituell ausgelegten Deutungsprozessen natürlich kein Tabula rasa-Phänomen. Sie artikuliert sich als das hybride Verfalls- bzw. Transformationsprodukt eines mitteldeutschen Luthertums, das als Religion nicht nur rituell schwach war und ist, sondern sich darüber hinaus auch eminent ritualkritisch gibt und gab (vor allem in Form eines habitualisierten Antikatholizismus). Bezogen auf die hier manifeste Forschungsfrage: Rituale, auch und gerade »persönliche« Rituale, sind über ihre funktionalen Wirkfaktoren (»starke Verknüpfung mit adoleszenten Entwicklungsaufgaben«) nicht hinreichend definiert, aktualisieren sie sich doch immer auch in nicht-beliebigen kulturrelativen Formen. (So wird im ehedem he­gemonial protestantischen Ostdeutschland kaum ein »konfessionsloser« Jugendlicher auf die Idee kommen, einen Rosenkranz zu beten.)
Die die Untersuchung prägende Rede vom »konfessionslosem Umfeld« insinuiert den Exotismus eines »religiösen Vakuums« (57 passim), was weder empirisch noch kulturgeschichtlich plausibel ist. Bei immerhin 20 % Kirchenmitgliedschaft und etwa noch einmal so viel Getauften (und Konfirmierten), die früher entweder DDR-bedingt oder später nach der Wende aus anderen Gründen ausgetreten sind, erscheinen soziale Nichtkontakte zu gelebter Religion eher unwahrscheinlich. Und wenn sich dann das Sample auch noch aus Teilnehmern des »Ethik- und Religionsunterrichts« (127 vgl. auch 302–304: »zentrale Schwächen der Arbeit«) zusammensetzt, dann muss die hier implizit vorausgesetzte Non-religion-Sozialisation zumindest relativiert werden. Diese Kritik schmälert nichts am Erkenntnisgewinn dieser Studie, belegt sie doch, dass »die Mehrheit der hier untersuchten Jugendlichen, die im konfessionslosen Kontext Ostdeutschlands aufwachsen, Erfahrungen mit dem Gebetsritus oder gebetsähnlichem Verhalten« haben (144). Hieran ließe sich didaktisch-konstruktiv anknüpfen.
Die religionstheoretische Gretchen-Frage, die vor allem in em­pirischen Arbeiten von Ausschlag gebender Bedeutung ist, beantwortet die Vfn. mit einer spannungsvollen Synthese aus Tillichs »Tiefendimension«, Ulrich Barths Theorem des »Unbedingten« und Riesebrodts Transzendenzmarker »übermenschliche Mächte« (45–47). Gegenüber dem methodischen Gewicht dieser kumulativen Bestimmung von Religion (»Religion ist das, was […] als ein Bezug zu einer Entität, die über die Grenzen des endlichen, bedingten, menschlichen Seins hinaus geht«; 47) fällt die Reflexion darauf leider viel zu knapp aus. Auch die Religionspsychologie muss schon Auskunft darüber geben können, was genau sie zu ihrem Gegenstand erhebt.
Im Blick auf die religions(re)produktive Funktion tentativer Ritualisierungen leistet die vorliegende Arbeit dagegen Pionierarbeit. Gezeigt werden kann, dass bei den 15–17-Jährigen Rituale »sehr häufig durch soziale Bestätigung und Einsichtlernen erworben werden« (261). Auch weisen Jugendliche, die religiöse Rituale durchführen, signifikant »höhere Werte in adaptiven Emotionsregulationsstrategien« (269) bzw. im »informations- und normorientierten Identitätsstil« (274) auf. Ließen sich diese Ergebnisse verallgemeinern, müsste man liturgiedidaktisch bzw. performativ ausgelegte Vermittlungsoptionen von Religion religions-psychologisch völlig neu bewerten. Hier sind Anschlussuntersuchungen dringend gefordert.
Mit der »Vernetzung« von religionspsychologischen und kulturanthropologischen Theoriesträngen betritt diese Arbeit Neuland – es bleibt zu hoffen, dass diese Impulse in der Praktischen Theologie und hier vor allem in der Religionspädagogik breit rezipiert werden.