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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1089–1091

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Weber-Guskar, Eva

Titel/Untertitel:

Würde als Haltung. Eine philosophische Untersuchung zum Begriff der Menschenwürde.

Verlag:

Münster: mentis Verlag 2016. 265 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-95743-065-6.

Rezensent:

Andreas Fritzsche

Dem Selbstbild entsprechen: Entelechie. Wer ein Buch über Tu­gend lesen will und dabei die Mainstream-Philosophie schätzt, dem kann man das Buch von Eva Weber-Guskar in die Hand drücken. Geläufig ist die Einstellung »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.« Wohltuend widerspricht die Vfn. diesem Satz und zieht den Horizont der inneren Verfassung, der Haltung, auf. Die Position der Tugendethik durchdenkt sie und überträgt sie in die intellektuelle Großwetterlage. »Es ist eine Frage, wie man diesen Gedanken [Gestaltungsauftrag der eigenen Person] fortführen kann, wenn es niemanden mehr gibt, der einen Auftrag erteilt; kein Kosmos, kein Gott und kein metaphysisches Freiheits- und Vernunftverständnis.« (141)
Das Thema des Buches ist die menschliche Würde. In der Philosophie taucht der Begriff der Würde (lat. dignitas) erst bei Cicero auf. In einer kosmischen Naturordnung hebt sich der Mensch aufgrund seiner Vernunft von anderen Dingen und Lebewesen ab. Das Vermögen der Vernunft begründet bei Cicero einen absoluten Wert, den man fortan Würde des Menschen nennt – kosmopolitisch, d. h. ohne Hinblick auf Nationalität oder Stand. Analog dazu sehen Christen die Würde des Menschen in der Gottesebenbildlichkeit bzw. -kindschaft grundgelegt. In gleicher Linie läuft auch Kant. Der Vernunftbesitz macht den Menschen zu einem moralischen Subjekt, weil er seiner Triebsteuerung nicht mehr erliegen muss und über Handlungsalternativen verfügt; Zweck an sich ist er. Dieser absolute, dem Menschen inhärente Wert heißt Würde des Menschen. Genau betrachtet – so die Vfn. – ist das eine Zuschreibung und setzt den Wertstatus einer Person. 1948 taucht der Begriff d er Würde des Menschen in Rechtsdokumenten auf und kennzeichnet den juristischen Status, der von Kommentatoren naturrechtlich, schöpfungstheologisch oder rechtspositivistisch be­gründet wird. Diese Begründung sei heute nicht mehr nachvollziehbar und ohnehin zweideutig.
Neben »Würde des Menschen« benutzen wir Würde umgangssprachlich in Redewendungen wie »Sie hat einen würdevollen Auftritt.« oder »Er benimmt sich würdelos.« Hier dockt die Vfn. phänomenologisch an und entwickelt ihren Vorschlag, Würde als Haltung zu verstehen, indem sie den aristotelischen Begriff der hexis aufnimmt. Die innere Haltung eines Menschen tritt in seiner körperlichen Haltung, seinen Bewegungen, seiner Sprache und Handlungen nach außen. So eine Haltung kann sehr wohl würdevoll, also gut, als auch würdelos, also schlecht, gestaltet sein.
»Danach ist Würde weder ein innerer Wert des Menschen, von dem abzuleiten wäre, wie ein Mensch zu behandeln sei, noch ein Status, den man sich zuschriebe und der eine moralische Behandlung verlangte. Vielmehr ist Würde eine Verfassung, in der sich Personen befinden können, genauer eine Haltung, die darin besteht, mit sich unter anderen in Einklang zu sein, indem man seinem Selbstbild entspricht.« (187)
Dem Rezensenten erschließt sich dieses Paradigma, wenn er Aristoteles zu Hilfe nimmt: Menschen haben das Vermögen, die Fähigkeit (dynamis) autonom ein Selbstbild von sich zu entwickeln und dieses im Lebensvollzug Wirklichkeit (energeia) werden zu lassen. Kommt dieser Vollzug im Sinne eines guten Lebens zum Ziel, erreicht diese Person die Würde des Menschen (entelecheia). Der Lebensvollzug entspricht dem Selbstbild. Die Vfn. stellt dem Leser die Würde des Menschen nicht habituell als Haltung, sondern als vollkommene Wirklichkeit vor – so die Kritik des Rezensenten.
In der klassischen Tugendethik wird die Haltung als Handlungsdisposition verstanden. Ein Beispiel: Als Menschen haben wir die Möglichkeit (dynamis, potentia), ein Musikinstrument zu spielen. Nun erlernt jemand, Gitarre zu spielen und beherrscht das Instrument. Das Können des Gitarristen ist ein anderes als das Können eines ungeübten Menschen, denn das Können des Gitarristen ist habituell. Drückt man ihm eine Gitarre in die Hand, wird man hören, dass er wirklich (energeia, actus) Gitarre spielen kann oder nur angegeben hat, denn am Gitarre-Spielen erkennt man sowohl den guten also auch den schlechten Gitarristen. Auch wenn der Gitarrist nicht musiziert, verfügt er über die Haltung (hexis, habitus) des Gitarristen. Die Haltung ist also mehr als das Vermögen, das Talent oder die Möglichkeit; die Haltung ist auf dem Sprung zur Handlung, in der sie dann auch für andere offensichtlich wird. Auf der Ebene der Tugend: Ob jemand ein couragierter Mensch, also ein tugendhafter Mensch ist, zeigt sich wirklich erst in einer kritischen Situation: Knickt er ein oder hält er stand. Tugend, und das sieht die Vfn. ganz klar, liegt auf der Ebene der Handlungsdisposition als Haltung.
»Würde als Haltung: Es ist eine zu Handlungen und Gefühlen disponierende Verfassung, die dadurch bestimmt ist, dass die Person damit ihrem Selbstbild entspricht […], dass sie unter anderen, also in einem sozialen Zusammenhang, mit sich in Einklang steht.« (156)
Sowohl das griechische Wort hexis als auch das lateinische Wort habitus kommen vom Verb »haben« (griechisch: echein) und bedeuten »sich selber haben«. Die Vfn. gibt diesen Sachverhalt recht zutreffend mit dem deutschen Verb »halten« wieder: »Eine Haltung ist ein Verhalten, das sich durchhält. [...] Haltung heißt, dass man sich (zusammen-)hält. Gelingt das nicht, verliert man Form und Haltung.« (95) Genau an dieser Stelle meldet der Rezensent Einspruch an. Tugend ist das Höchste (akros), was einem Menschen möglich ist, sie ist Höchstleistung. Verhält es sich ebenso mit der Würde des Menschen? Kommt sie nur der Person zu, welche sie erreicht? Die klassische Philosophie sah die Würde des Menschen schon in der Tatsache gegeben, dass jemand biologisch ein homo sapiens ist – also auf der Ebene der Möglichkeit, d. h. potentiell ein moralisches Subjekt sein zu können. Warum taucht eigentlich erst 1948 in Rechtsdokumenten der Terminus »Würde des Menschen« auf?
Begeht die Vfn. einen Kategorienfehler? Würde versteht sie als Wert und zwar als absoluten. Der Rezensent beharrt jedoch auf der klassischen Position: Der Mensch hat keinen Wert, denn diesen könnte man bezahlen; er hat eine Würde, die inkommensurabel ist. Andererseits trifft sie der Vorwurf des Kategorienfehlers nicht, denn sie lehnt klassische Positionen ab und bevorzugt »progressive«. Hier geht es postmetaphysisch, postreligiös, naturwissenschaftlich, vertragstheoretisch, autonom und selbstbestimmt zu; hier ist der Mensch das Maß aller Dinge.
»Wenn wir nicht an eine menschliche Natur in einem Kosmos glauben, womit eine Norm vorgegeben wäre; wenn wir nicht an einen Gott glauben, als dessen Ebenbild wir uns würdig erweisen müssten – wie ist dann die, wenn man so will, entstandene Leerstelle zu füllen?« (145)