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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1087–1089

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Sumser, Emerich

Titel/Untertitel:

Evolution der Ethik. Der menschliche Sinn für Moral im Licht der modernen Evolutionsbiologie.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XIII, 651 S. m. 2 Abb. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-11-040811-9.

Rezensent:

Johannes Soukup

Das Buch stellt eine großartige Einführung in den aktuellen Stand der Evolutionsbiologie dar und kann zu diesem Zweck nur empfohlen werden. Es ist gut geschrieben, und auch recht komplizierte Zusammenhänge – nicht-lineare beispielsweise – werden sehr verständlich beschrieben. Dadurch entsteht notwendigerweise ein sehr umfangreiches Buch (von 650 Seiten), dessen Studium für naturwissenschaftlich Interessierte – um nicht zu sagen: Gläubige – aber zweifelsohne lohnt. Der Anspruch von Emerich Sumser ist aber ein ganz anderer; er formuliert ihn gleich zu Beginn seines Vorworts:
»Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um ein interdisziplinäres Projekt. Derartige Unternehmungen einer konstruktiven Zusammenarbeit scheinen ja angesichts des zunehmenden gesellschaftlichen Konflikts zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nötiger denn je. Bei mir, dem Autor, erhält dieser Konflikt zusätzlich eine persönliche Qualität: Als Theologe [und amtierender katholischer Priester] und als Biologe – mit Hauptfach Evolutionsbiologie – ist es mir unmöglich, das eine vom andern zu trennen. Die echte Integration ist mir nicht nur ein intellektuelles, sondern ein existenzielles Bedürfnis. Auch wenn es nicht gelingt, ausnahmslos alle Fragen zu harmonisieren, so habe ich doch stets erlebt, daß die intensive Beschäftigung mit beiden Fachbereichen ungeahnte Integrationsmöglichkeiten eröffnet, die ich als eine persönliche Bereicherung meines Lebens und meiner Wahrnehmung erlebe.« (V)
Die Intention des Vf.s teile ich hundertprozentig, bezweifle aber sehr stark, dass ihm die Realisierung seines »echten Herzensanliegens« (V) gelungen ist. Abgesehen davon, dass die Evolutionsbiologie das Buch unverhältnismäßig dominiert und der Vf. einseitig fast nur von ihr ausgeht, philosophische Überlegungen kaum eine Rolle spielen und die theologische Entwicklung etwa bei Karl Rahners »kommunikationstheoretischem Offenbarungsverständnis« aus den 1960er Jahren endet, habe ich für meine Skepsis im Wesentlichen einen theologischen und einen philosophischen Grund. Beginnen wir mit ersterem.
In seiner Zusammenfassung schreibt der Vf. unter der selbstbewussten Überschrift »Die Strukturen der Wirklichkeit« (540):
»Die erstaunliche Anschlussfähigkeit von christlicher Theologie zur modernen Biologie ist auf den ersten Blick vielleicht überraschend. Aufgrund der theologischen Prämissen, daß sich die ›profanen Dinge und die Dinge des Glaubens von demselben Gott herleiten‹ (II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution, GS 36), müßte man aber genau dies erwarten.«
Nein; das müsste man nicht! Widerspruchsfreiheit »ja«, aber nicht die »Anschlussfähigkeit von christlicher Theologie zur modernen Biologie«. Warum denn gerade in dieser Richtung? Sie ergibt sich doch nur zwangsläufig, wenn die Evolutionsbiologie bereits als fraglos richtig vorausgesetzt wird. Der Vf. fährt fort:
»Richard Dawkins behauptet, daß das Universum genau so konstruiert sei, wie man es erwarten würde, wenn es keinen Schöpfer gibt. Unser Durchgang durch die Anthropologie hat ergeben, daß er durchaus Recht hat: Die Gestalt der Welt und die Natur des Menschen lassen sich durch bloße, nicht-intentionale, unbarmherzige Selektion erklären. Es braucht dazu nicht die Annahme eines Schöpfers.«
Ich bin vom glatten Gegenteil überzeugt und glaube, damit dem christlichen Schöpfungsverständnis näher zu kommen: Schöpfung meint die absolute Abhängigkeit und Angewiesenheit der Wirklichkeit von ihrem bzw. auf ihren Schöpfer. Jede Erklärung unserer Wirklichkeit ohne Gott muss – aus der Sicht eines christlichen Theologen – also falsch sein, weil sie sich ohne Schöpfer prinzipiell nicht verstehen lassen kann.
Der Schöpfungsglaube ist keine bloße Hinzufügung zu einem auch ohne ihn bereits kompletten Weltbild – und damit in jeder Hinsicht prinzipiell unentscheidbar, sodass sich lediglich feststellen lässt: »Ob man in der Beobachtung und Wahrnehmung dieser Wirklichkeit zu einem Hörer wird – ›horchend auf die Selbstmitteilung einer anderen, transzendenten Wirklichkeit‹ (Rahner, Hö­rer des Wortes) –, oder ob nicht, darf und muß jeder selbst entscheiden« (541). Richard Dawkins »hat durchaus Recht«, er hat sich nur anders entschieden.
Kommen wir zu meinem philosophischen Argument: Die Evolution ist eine Vorstellung in unserem Bewusstsein. Ich behaupte keineswegs, dass sie nur das sei; aber wäre sie das nicht (auch), wüssten wir gar nichts von ihr und könnten insbesondere keine Bücher darüber schreiben.
Nur bei dem, was sich innerhalb unseres Bewusstseins befindet, können wir überhaupt fragen, ob es auch außerhalb desselben existiert. Das ist keine (möglicherweise falsche) Behauptung, sondern (fast schon) eine Tautologie: Über das, was wir nicht wissen, können wir nicht nachdenken. Existiert die Evolution auch außerhalb unseres Bewusstseins? Diese Frage ist zumindest zweideutig.
Zum einen kann die Evolution in dem Sinne verstanden werden, dass sie – wie das Seiende oder Urbild der traditionellen Philosophie – als unabhängig von uns und unserem Bewusstsein verstanden wird. Und so müssten wir sie auch verstehen, wollen wir mittels dieser Evolution (unter anderem auch) die Entstehung des Menschen erklären. Diese Sichtweise ist aber prinzipiell ausgeschlossen, weil niemandem das Außerhalb seines Bewusstseins zugänglich ist. Die angeblichen Seienden oder Urbilder können also nicht abgebildet werden, sodass insbesondere unsere Evolutionstheorie kein nachweisbares Abbild einer angeblichen Evolution sein kann.
Zum anderen können wir die Evolution so verstehen, wie alle anderen naturwissenschaftlichen Theorien auch: Als Paradigmen, Modelle oder Denkwerkzeuge, mit denen wir etwas erklären und möglicherweise sogar machen können. In diesem Sinne steht die Evolutionstheorie etwa neben Newtons Gravitations- oder Einsteins Relativitätstheorie. Letztere gestattet es uns (zusammen mit anderen Paradigmen) beispielsweise innerhalb unseres Bewusstseins den Urknall zu errechnen. Soll es ihn tatsächlich gegeben ha­ben, müssen wir dieses rein mathematische Ergebnis als Wirklichkeit glauben, das heißt – ganz im Sinne von Feuerbachs Religi-onskritik – in das Außerhalb unseres Bewusstseins projizieren. Na­turwissenschaftliche Wirklichkeit ist das als Projektion Ge­glaubte; ohne diesen Glauben gibt es jene nicht. Natürlich könnte die Projektion zufällig mit den traditionellen Seienden oder Urbildern zusammenfallen, aber das ist prinzipiell nicht nachweisbar und eine entsprechende Behauptung hat folglich nichts mit Naturwissenschaft zu tun.
Die Evolution ist also das zu Projizierende, das sich innerhalb unseres Bewusstseins befindet und lediglich als geglaubte Projektion außerhalb desselben Wirklichkeit erlangen kann. Wollen wir, wie der Vf., die gesamte Wirklichkeit evolutiv verstehen, so ist auch eine Evolution des Bewusstseins erforderlich, auf die er leider überhaupt nicht eingeht. Darauf angewandt wird unser vorhergehender Satz jedoch selbstwidersprüchlich:
Die Evolution des Bewusstseins ist also das zu Projizierende, das sich innerhalb unseres Bewusstseins befindet und lediglich als ge­glaubte Projektion außerhalb desselben Wirklichkeit erlangt. Die Evolution des Bewusstseins kann sehr wohl innerhalb, aber un­möglich außerhalb desselben erfolgen.
Der Vf. hat Recht und liefert selbst das beste Beispiel dafür: »Der interdisziplinäre Dialog leidet an Einseitigkeit« (12).