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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1085–1087

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Spieß, Christian

Titel/Untertitel:

Zwischen Gewalt und Menschenrechten. Religion im Spannungsfeld der Moderne.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016. 203 S. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-506-78534-3.

Rezensent:

Ewald Stübinger

Der an der katholischen Privat-Universität Linz Christliche Sozialwissenschaften lehrende Christian Spieß entstammt dem liberal-katholischen Umfeld des Münsteraners Karl Gabriel. In insgesamt acht Kapiteln entwickelt er Bedingungen, wie Religion und Mo-derne positiv miteinander vermittelt werden können. Obwohl der Schwerpunkt auf der katholischen Kirche und Theologie liegt, be­anspruchen die genannten Bedingungen auf Religion generell übertragbar zu sein. S. möchte zeigen, dass die Entgegensetzung von Religion und Moderne (sogenannte Kontroversthese) in ein für beide Seiten vorteilhaftes Miteinander (sogenannte Kompatibilitätsthese) überführt werden kann.
S. illustriert unter Rekurs auf den US-amerikanischen Diskurs zwei grundsätzliche Möglichkeiten, Religion und das normative Projekt der Moderne positiv aufeinander zu beziehen (Kapitel 1): Entweder man fokussiert (mit M. Lilla) auf die Trennung von Religion und Politik oder (mit M. Nussbaum) auf umfassende und gleiche Freiheitsrechte, unter Einschluss von größtmöglicher Religionsfreiheit. Die für den europäischen Diskurs relevanten Posi-tionen von N. Luhmann und J. Habermas werden leider nicht be­handelt, wodurch das Problem der Übertragbarkeit der anders gearteten, zivilreligiösen Prägung der USA entsteht. Ausführlich rekapituliert S. die geschichtliche Entwicklung (ab dem 19. Jh.) und Begründungen des katholischen Antimodernismus, der im Syllabus von Papst Pius IX. (1864) gipfelte und der die Ablehnung der modernen Menschenrechtsidee sowie der Trennung von Staat und Religion/Kirche beinhaltete (Kapitel 2). Die Wende erfolgte durch das Zweite Vatikanische Konzil (1963 ff.), wo unter Papst Johannes XXIII. die »große normative Transformation« (63) geschah: Wesentliche Elemente der Moderne, insbesondere die Menschenrechte und die Religionsfreiheit, die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat s owie die Autonomie des Individuums, wurden nun anerkannt (Kapitel 3). S. verweist jedoch auch darauf, dass diese »Theologie der Freiheit« (76) hinsichtlich ihrer Selbstapplikation auf die katholische Kirche defizitär blieb. Vor allem die US-amerikanischen Bischöfe hätten als Berater wesentlich zur Anerkennung der beiden Voraussetzungen für die normative Modernisierung der katholischen Kirche beigetragen: 1.) die positive Erfahrung mit der Moderne in Gestalt eines »religionsfreundlichen« säkularen Staates (USA) sowie 2.) das »Kontinuitätsnarrativ« (97), das eine begrenzte Modifizierung der kirchlichen Lehre für möglich hält. Für eine soziale und ethische Verortung der Religion im normativen Projekt der Moderne sei zum einen eine Limitation der Religion in Form der religiösen Neutralität des Staates erforderlich; zum anderen aber eine »politische Sensibilität für Diversität« (99) von Seiten des Staat es im Sinne eines Zugeständnisses an weiten Spielräumen für die religiöse Praxis (Kapitel 5). Beide Motive sieht S. konzeptionell grundgelegt bei John Lockes vertragstheoretisch-naturrechtlicher Legitimierung staatlicher Gewalt sowie dessen Betonung der Autorität des Individuums auch in Fragen der Religion, die zum Postulat liberaler Toleranz führt. Die bei Locke fehlende Begründung von Diversität liefere Hegel, der das »atomistische« Grundkonzept der Vertragstheorien zu einer Theorie der Intersubjektivität transformiere. Hegel entwickle (in seiner frühen Jenenser Zeit) eine politische Ethik der Anerkennung unter Vermittlung der beiden Prinzipien der gleichen Freiheit und der Diversität. Auf diese Weise könne die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit als der Ort der Religion in der Moderne bestimmt werden. Weshalb gerade auf Locke und Hegel rekurriert wird (warum nicht auf Kant oder die Aufklärungstheologie?), wird freilich nicht ganz deutlich.
Religionspolitisch befürwortet S. eine Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen (einschließlich »negativer Religionsfreiheit«) unter Gewährung von religiöser Diversität, die Religionsgemeinschaften eine begrenzte Selbstbestimmung einräumt (Kapitel 6). Kommt es zu einem Konflikt hinsichtlich der Religionsfreiheit zwischen den Religionsgemeinschaften und den Gläubigen (z. B. bei der Schlechterstellung der Frau in der katholischen Kirche), dann sei eine »Exit-Option« (131) erforderlich, sodass für den Gläubigen ein repressionsfreier Austritt aus der Religionsgemeinschaft möglich sei. Hinsichtlich des »Kopftuchstreits«, des »Verschleierungs- und Burkaverbots« u. ä. Fälle spricht sich S. we­gen des Diversitätsprinzips für staatliche Toleranz aus. Aufgrund der Trennung von Staat und Kirche/Religion plädiert S. für eine rechtliche Gleichstellung aller Lebenspartnermodelle (einschließli ch homosexueller), die auf der gleichwertigen wechselseitigen Fürsorge beruhen (Kapitel 8). Innerkatholisch votiert er für die Wertschätzung homosexueller Partnerschaften durch Segensfeiern, ohne deren völlige Gleichstellung zu fordern – Letzteres mehr aus pragmatischen denn aus theologischen Gründen. Er plädiert für die »Privatisierung der Religion« (170) nicht im Sinne des Laizismus, sondern dergestalt, dass Religion ihren Ort in der Zivilgesellschaft und nicht in der Politik haben sollte. Da Religion eine ge-sellschaftliche Sinnressource darstellt, sollte der Staat ihr aber großzügige Spielräume gewähren, sodass religiöses Leben sich im sä­kularen Staat als »Schule der Freiheit« (186) präsentiert.
Das gut lesbare Buch ist ein stimmiges Plädoyer für eine fortdauernde Reform der (katholischen) Kirche mit innerreligiösem Pluralismus sowie jeder Religion, um diese anschlussfähig an das normative Projekt der Moderne zu machen. S. fordert eine Abkehr vom religionspolitischen Konzept eines »Corpus Christianum« bzw. eines »christlichen Staates« sowie einer »christlichen Leitkultur« und nähert sich damit der reformatorischen Grundidee der Zwei-Reiche-Lehre an unter deren Weiterführung in die Moderne, womit die Anerkennung von religiösem und weltanschaulichem Pluralismus verbunden ist. Es ist das Modell eines religionsfreundlichen säkularen demokratischen Staates, das zugleich innerreligiöse Reform- und Liberalisierungsimpulse freisetzt. Mancherlei Redundanzen, die eine Konzipierung des Buches aus zum Teil separaten inhaltlichen Modulen vermuten lassen, hätten sich durch eine stärkere Komprimierung verringern lassen. Auch für Interessierte aus dem nicht-katholischen Milieu bietet das Buch eine anregende Lektüre und angesichts der momentan zu beobachtenden religionspolitischen Konfliktverschärfungen ein begründetes Plädoyer für eine liberale Haltung.