Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1084–1085

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Gojny, Tanja, Kürzinger, Kathrin S., u. Susanne Schwarz[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Selfie – I like it. Anthropologische und ethische Implikationen digitaler Selbstinszenierung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2016. 223 S. m. 16 Abb. u. 2 Tab. = Religionspädagogik innovativ, 18. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-17-031496-2.

Rezensent:

Ilona Nord

Eine Szene, die vielen schon zu einem vertrauten Anblick auf Straßen und Plätzen oder in öffentlichen Räumen geworden ist: Ein Handy wird mit ausgestrecktem Arm, zuweilen verlängert mit einem Stab, sich selbst entgegengehalten, ein Foto geschossen, es folgt ein kurzer Moment, in dem das Selfie mit prüfendem Blick aufgerufen und bei Gefallen weitergeleitet wird [...] Doch eine em­pirische Untersuchung, die in New York, Berlin, Bangkok, Sao Paulo und Moskau gemacht wurde, weist aus, dass nur 3–4 % der ermittelten Fotos in diesem Sinne echte Selfies sind, dass sie auch von denjenigen aufgenommen wurden, die zu sehen sind (vgl. Gojny, 16). Es lohnt sich hinter den medialen Hype, der Selfies zugeschrieben wird, zurückzugehen und das Phänomen differenzierter zu betrachten. Dies verhilft auch dazu, mediale Welten und die Art und Weisen, wie insbesondere Jugendliche mit ihnen umgehen, besser zu verstehen.
Drei bayrische Religionspädagoginnen, Tanja Gojny, Kathrin S. Kürzinger und Susanne Schwarz, haben die Initiative ergriffen und dieses theologisch und religionspädagogisch bislang nicht reflektierte Phänomen unter die Lupe genommen. Herausgekommen ist ein hoch lesenswerter Band, der in zwei Arbeitsgängen Erkundungen zum Phänomen selbst (Katja Lobinger, Klaas Huizing, Michael Bauer, Kathrin S. Kürzinger) sowie religionspädagogische und -di-daktische Reflexionen (noch einmal Kathrin Kürzinger, Monika E. Fuchs, Britta Konz, Ulrike Witten, Susanne Schwarz) vorlegt. Selbstverständlich zeigt der nähere Blick auf Selfies, dass mit ihnen auch altbekannte Themen der Theologie und Religionspädagogik in neuen Kontexten zu thematisieren sind: Wahrheit und Lüge, der Umgang mit Eigentum, Leben in Gruppen, Schönheit und Ge­sundheit oder Freundschaft, Liebe und Sexualität u. a. m.
Tanja Gojny gibt einführend in den Band einen Überblick über die aktuelle Selfie-Forschung in medienwissenschaftlicher Sicht wie auch in Bezug zu systematisch-theologischen, praktisch-theologischen und im engeren Sinne religionspädagogischen Perspektiven. Selfies sind so gesehen Spiegel-Bilder, die Zeit rhythmisieren, erinnerungskulturelle Akzente setzen und zu Fremddeutungen dieser Selbstbilder anregen, nicht selten auch auf ambivalente Weise. Zugleich sind sie aber in all diesem Zeugnisse von Medienproduktionen von Jugendlichen und geben als solche der Religionspädagogik darüber Aufschluss, wie sich Identitätsbildungsprozesse heute vollziehen. Die Kommunikationswissenschaftlerin Ka­tharina Lobinger arbeitet heraus, dass man dem Phänomen Selfie nicht angemessen auf die Spur kommt, wenn allein die einzelnen Fotos analysiert werden. Sie müssen vielmehr in Zusammenhang mit Selfie-Praktiken untersucht werden, die deren Produktion und Aneignung berücksichtigen (vgl. Lobinger, 54).
Im Bereich der multiperspektivischen Zugänge zum Phänomen Selfie (Teil 1) wird diskutiert, ob und, wenn ja, inwiefern Selfies Ausdruck von Narzissmus sind. Die Ambivalenz, die in diesem liegen kann, wird von Michael Bauer bearbeitet: Sollen Theologie und Religionspädagogik für ein Selfie-Fasten plädieren und zum protestantischen Ikonoklasmus aufrufen? Bauer zieht in seinem auch durch empirische Studien informierten Beitrag den interessanteren Weg vor, nämlich über die Bedeutung eines nichtklinischen oder anders gesagt nicht pathologischen Narzissmus nachzudenken. Die Wirkung von Fotos bzw. Bildern auf die Emotionalität von Menschen thematisiert Klaas Huizing in Referenz zu Bildtheorien französischer Strukturalisten, sodann in Bezug auf die Wirkungen ihrer Oberflächen wie Gesichtslektüre, Auratisierung, Taktilität, Serialität u. a. m. Schließlich wendet er sich auch dem Genre erotischer Selfies zu, die er als Prozesse willentlicher Entschämung versteht.
Kathrin Kürzinger ist in einer Interviewstudie mit Jugendlichen dem Zusammenhang von Glücksempfinden und Selfie-Pos­ten nachgegangen. Hier zeigt sich zum einen, wie und dass Jugendliche medienkompetent mit eigenen Fotos umgehen, zum anderen wird in vier Dimensionen ausgewiesen, in welcher Weise Jugend-liche Selfies mit ihrem Glücksempfinden in Verbindung bringen. Dabei tritt ein Gemeinschaftsaspekt besonders hervor: Selfies zeigen, wie das In-Beziehung-Sein und Angenommen-Sein für Ju­gendliche viel von dem ausmacht, was es heißt, glücklich zu sein.
Im zweiten Teil des Bandes sind anregungsreiche religionspädagogische und -didaktische Perspektiven versammelt. Britta Konz greift Selfies als Ausgangspunkt des Theologisierens mit Kunst auf; Ulrike Witten stellt Selfies in den Kontext einer inklusiven Religionspädagogik und weist exklusivierende wie inklusionsorientierte Aspekte des Umgangs mit ihnen aus, übrigens auch im Rückgriff auf Kunst, nämlich eines Selfies von Ai Weiwei. Susanne Schwarz be­leuchtet Entscheidungsprozesse, die dazu führen, dass Selfies nicht geschossen werden, und thematisiert theologisch-hermeneutisch die anthropologischen Dimensionen der Unsichtbarkeit, Nichtdarstellbarkeit und des Entzogenseins menschlichen Daseins als Im­puls für religionspädagogisches Arbeiten. Die Erträge des Bandes bündeln die Herausgeberinnen abschließend in zehn Thesen. Diesem innovativen Thema, das viele theologische Anschlussstellen hat, sind zahlreiche Leserinnen und Leser zu wünschen!