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Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1078–1081

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Lauster, Jörg

Titel/Untertitel:

Der ewige Protest. Reformation als Prinzip.

Verlag:

München: Claudius Verlag 2017. 144 S. Geb. EUR 12,00. ISBN 978-3-532-62496-8.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Hasselhorn, Benjamin: Das Ende des Luthertums? Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 216 S. Kart. EUR 19,00. ISBN 978-3-374-04883-0.


Im Jubiläumsjahr 2017 überwiegen historische Darstellungen zur Reformation und ihren Protagonisten. Systematisch-theologische Beiträge zur Vergegenwärtigung des reformatorischen Erbes gibt es dagegen kaum. Was nach 500 Jahren von der Reformation geblieben und wie es um die Zukunft des Protestantismus bestellt ist, wird sehr unterschiedlich gesehen, und auch über die offiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten ist das Urteil geteilt.
In die Reihe der Kritiker am Kurs der evangelischen Kirchen reiht sich Jörg Lauster ein, der eine Lanze für das Erbe des Kulturprotestantismus und seine Idee der permanenten Reformation bricht. »›Protestantismus – das ist Traum einer Religion für freie Geister.‹ Über dieses Fazit hinaus, mit dem Ulrich Barth Überlegungen zur Zukunft des Protestantismus beschließt, lässt sich nichts Treffenderes zum Wesen des Protestantismus sagen«, ist L. am Ende seines Büchleins (137) überzeugt. So gesehen, hätte er sich seinen Essay eigentlich sparen können. Inhaltlich bietet er tatsächlich Altbekanntes aus der Fraktion derer, die den liberalen Kulturprotestantismus, der in Wahrheit seine eigene Zukunft schon längst hinter sich hat, für die Zukunft des Christentums halten. Einmal mehr wird auf die auf Trutz Rendtorff, Thomas Luckmann und Joachim Matthes zurückgehende religionssoziologische These zurückgegriffen, Religion als religiöses Apriori und das Christentum als seine vornehmste Gestalt seien nicht im Schwinden begriffen, sondern vollzögen lediglich eine seit der Aufklärung fortdauernde Transformation. Mögen die kirchlichen Ausdrucksformen des Christentums auch an Zustimmung verlieren, bleibe doch der Geist des Christentums in der Gesellschaft präsent, freilich nicht mehr in Gestalt dogmatisch abgesicherter Glaubensüberzeugungen, sondern in ethischen Überzeugungen und einem Sensorium für Sinnfragen und das Heilige.
Für L. hält ein dogmenfreies Christentum einen »geradezu kosmischen Trost« (39; vgl. 75) bereit, nämlich »die Erfahrung eines den Menschen tragenden Grundes, eines Angenommen- und Aufgehobenseins in einer umfassenden Ordnung« (39). L.s Kulturprotestantismus weiß sich »getragen von der Gewissheit einer Tiefe unseren Daseins, die allem Banalen und Seichten widerspricht« (138). Ach, hätte L. doch diesen Satz selbst beherzigt! Sein Buchtitel nimmt bei Tillich Anleihe. Der freilich schrieb 1962: »Der ewige Protest kann dazu führen, daß jeder konkrete Inhalt beseitigt wird. […] Das liberale Christentum hat nicht nur Kritik an der Religion geübt, es hat die Religion aufgelöst.« (GW VII, 136)
Eine Religionstheorie, die das Christentum, vor allem in seiner protestantischen Gestalt, zum Sachwalter der Moderne erklärt, immunisiert sich gegen jede Empirie und Kritik, weil ihr Konstrukt einer allgegenwärtigen subjektiven Religiosität, das moderne Subjektivität und Religion gleichsetzt, soziologisch nicht greifbar ist. Es handelt sich letztlich, mit Luckmann gesprochen, um eine »unsichtbare Religion«. Will man sich nicht in diesem metaphysischen Nebel verlaufen, kommt man wohl um die Erkenntnis nicht herum, dass zwischen Religiosität und Kirchlichkeit ein hoher Wahrscheinlichkeitszusammenhang besteht, wie die Untersuchungen von Detlef Pollack und Gerhard Wegner zeigen. Immerhin würdigt auch L. die Kirche als »eine bleibende Kraftquelle […], um das Wesen des Christentums in der Welt verwirklichen zu können« (57), aber für die Kirche als Institution hat er weitgehend nur Kritik parat, weil sie sich notorisch den Bedürfnissen der subjek-tiven Religion der modernen Individuen verweigere. Der »ewige Protest« des protestantischen Prinzips richtet sich gegen die »ewige babylonische Gefangenschaft der Kirche« (75), die sich zum Beispiel an der einseitigen Deutung sinkender Mitgliederzahlen als Symptom einer Krise des Christentums festmachen lasse.
Auch die Reformation ist für L. weniger historisches Ereignis denn »Prozess und Prinzip« (41) im Sinne Tillichs, oder, wie L. sagt: »sie ist eine Haltung« (138), die in allen Kirchen »Verwirklichungen des unerschöpflichen Heiligen« sieht (ebd.). Hingegen fällt L.s Ur­teil über die Reformation des 16. Jh.s zwiespältig aus. Zwar habe Luther den Ausbruch der Religion aus der babylonischen Gefangenschaft der spätmittelalterlichen Kirche ermöglicht, doch habe die Reformation in der Zeit des Altprotestantismus ihre Kinder gefressen (vgl. 38) und einen neuen religiösen Eifer befördert, den L. nur als fatal bezeichnen kann. Calvin war in seinen Augen ein besonders finsterer Geselle (vgl. 32). Das kolportierte Zerrbild zeugt nicht von eingehender Beschäftigung mit den historischen Quellen. Es gipfelt darin, dass L. eine Parallele von Calvin zu islamistischen Fanatikern zieht, die »sogar phänotypisch« eine »überraschende Ähnlichkeit« (ebd.) mit dem Genfer Reformator aufweisen. Auf diesem Niveau bewegt sich auch der Rest des po­pulär-wissenschaftlichen Buches. Zum prophetischen Wächteramt der Kirche in der Gesellschaft fällt L. nur ein, dass solch ein Amt »in der Regel nur iranische Ayatollahs für sich in Anspruch« nähmen (77). Und die Reformationsdekade zur Vorbereitung auf das Jubiläumsjahr 2017 quittiert er mit der Sottise: »Nicht einmal in Kuba, China oder Nordkorea käme man im 21. Jahrhundert auf die Idee, die eigene Gründungslegende zehn Jahre zu feiern.« (65) Nun kann man über die Idee eines Wächteramtes der Kirche trefflich streiten, aber gewiss nicht auf diesem platten Niveau.
Die Sorgen, die sich Benjamin Hasselhorn in seinem klugen Buch über die Zukunft und das mögliche Ende des Luthertums macht, treiben L. schon längst nicht mehr um. Er stellt sich vor, wie alle Bischöfe der lutherischen Kirchen den Namensteil »lutherisch« gemeinsam in einem feierlichen Akt aus der Bezeichnung ihrer Kirchen streichen (83). So könnten den lutherischen Kirchen die letzten Reste von falscher Heldenverehrung ausgetrieben werden. Als inhaltliche Bestimmung einer sich auf die Reformation berufenden Theologie spielt »lutherisch« für L. offenbar keine Rolle mehr.
Das ist nun bei H., dessen Buch sich ebenfalls an ein breites Publikum richtet, ganz anders. Er nimmt nicht nur eine Krise des Luthertums, sondern eine Krise des Evangelischen insgesamt wahr (vgl. 6), deren Erscheinungsformen und Ursachen er in einer ausgreifenden und kenntnisreichen historischen Darstellung nachgeht. H.s streitbare These lautet: »Vom Luthertum ist heute in der evangelischen Kirche nicht mehr viel zu spüren. Als besondere Ausprägung evangelischer Frömmigkeit scheint es historisch an sein Ende gelangt zu sein« (8), wobei H. vermutet, »dass die Schwierigkeiten, die das Luthertum zu seinem Ende führen könnten, mit seinem Ursprung unmittelbar zusammenhängen« (ebd.). Auch was es in der seiner Ansicht nach aus theologischer wie praktisch-religiöser Perspektive besonders interessanten Periode zwischen den beiden Weltkriegen noch an lutherischen Traditionsbeständen gegeben habe, sei »inzwischen aufgebraucht« (28). Um das Erbe des Kulturprotestantismus stehe es jedoch nicht besser (vgl. 183).
Vorausgesetzt ist ein systematischer Begriff des Luthertums, das er in den vier Begriffen Gottvertrauen, Gewissensernst, Hoffnung auf Gnade und Mut zum Bekenntnis zusammenfasst (vgl. 9 u. 63). Die Grundgedanken des Luthertums aber seien von Beginn an Missverständnissen ausgesetzt gewesen und für solche anfällig geblieben. Was das Gottvertrauen betrifft, so liege das Missverständnis einer Verharmlosung Gottes nahe, »eine fatale Verniedlichung des Problems der menschlichen Existenz« (69). Luther habe im Vergleich zur spätmittelalterlichen Frömmigkeit zunächst keineswegs eine Erleichterung, sondern im Gegenteil eine Verschärfung der christlichen Lehre vorgenommen (vgl. 33 ff.). Der von Luther eingeschärfte Gewissensernst könne als Vorwand dienen, das Gewissen als Ausrede zu benutzen (70), die lutherische Gnadenlehre könne zur billigen Gnade verkehrt werden, gegen die sich Bonhoeffer gewandt hat (72), und die mit dem Mut zum Bekenntnis verbundene Lehre vom Priestertum aller Gläubigen führe, missverstanden, zur »Dauerüberforderung des Einzelnen« (73).
H.s Narrativ unterscheidet letztlich nur zwei Phasen des Lu­thertums, nämlich seine klassische Phase in der Zeit der altprotestantischen Orthodoxie, die mit dem Pietismus zu Ende ging (90), und seine »kritische Phase«, aus der es »im Grunde bis heute nicht mehr herausgekommen« sei (92). Zwiespältig wie das Verhältnis des Luthertums zur Aufklärung fällt auch H.s Urteil über Kant und seine Folgen aus (105). Besonders prekär erweise sich die notorische Unterbestimmung der menschlichen Sündhaftigkeit, von der das Luthertum ausgehe (112). H. ist allerdings davon überzeugt, dass kein Weg zum voraufklärerischen Luthertum zurückführt. Unsere Haltung gegenüber der Religion bleibe unvermeidlich durch Lessing, Kant und Goethe geprägt. Die moderne Subjektivität, die es dem Einzelnen überlasse, das Urteil zu fällen, ob man der Religion wohlwollend oder ablehnend gegenübersteht, sei gleichermaßen die Folge von Transformationsprozessen des Luthertums wie der Kern seiner Krise (vgl. 113).
Die seit der Aufklärung unternommenen »Rettungsversuche« (114 ff.) – seien sie nun liberal oder konservativ – fasst H. in drei Begriffen zusammen: Verinnerlichung, Vereinfachung und Verteidigung des Glaubens. Als Paradebeispiel für die Verinnerlichung dient Schleiermacher (121 ff.), Ergebnis seines Programms sei »reiner Subjektivismus« (126), es habe aber nicht zu einer allgemeinen Erneuerung des evangelischen Christentums geführt. Das Stichwort Vereinfachung bringt H. mit dem Kulturprotestantismus in Verbindung, für den exemplarisch Adolf von Harnack steht (131 ff.). Der Kulturprotestantismus sei allerdings »kein Programm für Krisenzeiten«, denn es begleite »das allmähliche Verschwinden des Christentums aus der modernen Kultur bloß, ohne ihm etwas entgegenzusetzen« (137). Der dritte Versuch, nämlich die Verteidigung des Glaubens gegen seine Infragestellung durch die Moderne habe – etwa bei Reinhold Seeberg – die Tendenz gezeigt, »Traditionsbestände zu verteidigen, deren Zeit ganz offenbar vorbei war« (142), und stehe »in der Gefahr, jeden Anschluss an das moderne Lebensgefühl zu verlieren« (ebd.). Aber auch H.s Urteil über die Dialektische Theologie, die Lutherrenaissance und das Erbe Bekennende Kirche, das nach 1945 zur Politisierung von Christentum und Kirche geführt habe, fällt im Ergebnis kritisch aus. Die »Kollaboration mit dem Staat« (165) und die mit ihr einhergehende Reduktion der Kirche zur Moral- und Werteagentur hätten dem Luthertum den entscheidenden Stoß versetzt, von dem es sich möglicherweise nicht mehr erhole. Auch an Bultmanns Programm der existentiellen Interpretation lässt H. kein gutes Haar. Bei Bultmann werde das Christentum »esoterisch«, die Folge sei ein »gewisser evangelischer Klerikalismus« der zwischen den theologisch Eingeweihten und den ungebildeten Laien eine Kluft aufreiße.
Über dieses und manche andere Urteile H.s kann man geteilter Meinung sein, wie auch Emanuel Hirsch, der sich den »Deutschen Christen« anschloss, nicht unbedingt ein guter Gewährsmann für ein Plädoyer zur Erneuerung lutherische Sündenlehre ist (vgl. 182). Und ob das philosophische Heil im »neuen Realismus« eines Markus Gabriel zu finden ist (vgl. 188), kann man ebenfalls bezweifeln. Dass aber das Paradigma einer vom Erbe des deutschen Idealismus zehrenden Subjektivitätstheologie keine Lösung für die Krise des Luthertums und des Protestantismus insgesamt bietet, ist auch schon von anderer Seite zu Recht festgestellt worden. Auch H. hat, wie er selbst einräumt, kein Patentrezept bereit. Sein Plädoyer ge­gen die Entsubstantialisierung evangelischen Glaubens gibt aber einen wichtigen Diskussionsanstoß.