Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2017

Spalte:

1076–1077

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Grosse, Sven, u. Harald Seubert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Radical Orthodoxy. Eine Herausforderung für Christentum und Theologie nach der Säkularisierung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 251 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04859-5.

Rezensent:

Martin Hailer

Der Band dokumentiert eine Tagung an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule in Basel, die die im Wesentlichen auf Englisch stattfindende Diskussion um die von John Milbank und Catherine Pickstock angestoßene Debatte um das Programm der Radical Orthodoxy (RO) für den deutschen Sprachraum zugänglich machen will.
Die wichtigsten Motive der RO, die in einer ersten Zusammenschau in »Radical Orthodoxy. A New Theology« (1999) präsentiert wurden, werden einem Interview mit John Milbank (»ein Rough Guide für deutschsprachige Leser«, 39–72) bündig vorgestellt. Man darf auf zwei Hauptmotive schließen: Zum einen attestiert er der gesamten westlichen Theologie, Philosophie und Gesellschaftslehre nichts weniger als ein »Desaster« (66). Es beginnt bei Duns Scotus und William von Ockham, die den dichten Zusammenhang von Natur und Gnade bestreiten. Damit einher geht die Trennung von Vernunft und Glaube, der Vorrang des Möglichen vor dem Wirklichen und der Abschied von realistischen Erkenntnistheorien. Dies ist die eigentliche Wurzel des Desasters der Säkularisierung, in deren Gefolge die Partizipation alles Seienden am Sein selbst, das Gott ist, nicht mehr gedacht werden kann. Die Folge ist ein sich abkapselnder Fideismus auf der einen Seite und eine Philosophie andererseits, die den Kontakt mit der Theologie verliert (66 f.). Das Gegenstück ist für Milbank »ein neuplatonisches Schema, das von den christlichen Denkern weitgehend übernommen wurde« (70). Er skizziert eine vielfach gestufte Wirklichkeit, in der alles, was ist, am Sein des Höchsten partizipiert. Der Sündenfall gilt dabei als Verlust der Teilhabe an Gott, die Erlösung besteht in der Wiederherstellung des ungehinderten Sich-Verströmens des dreieinigen Gottes. In diesem Modell sieht Milbank die Radikalisierung der christlichen Orthodoxie, die u. a. dazu führt, »dass Origenes wirklich die gewichtigste Quelle der christlichen Bekenntnisorthodoxie ist« (71).
Ob dies »a new theology« ist, kann man fragen. Jedenfalls aber handelt es sich um ein sehr großes Bündel von Motiven und Ideen, das entsprechend schwierig zu diskutieren ist. Der häufig damit einhergehende Stil, eine große Menge von Namen, Begriffen und Programmen allenfalls anzureißen, macht die Auseinandersetzung nicht leichter. Sven Grosse fokussiert in seiner einleitenden Würdigung vor allem auf die sehr weitgehende Absicht, den postchristlichen Säkularismus zu überwinden, den er für eine der basalen Gefährdungen des Christentums hält. Dagegen gilt mit der RO, »es gibt nichts Säkulares, das unabhängig von Glaube und Theologie wäre« (24). Der Appell, »auf die Klarheit der christlichen Grundlegung, auf die Schärfe der Argumentation, auf die Perspektivik des eigenen Standpunktes und der Standpunkte, mit denen man sich auseinandersetzt« zu achten (37), ist freilich sehr allgemein.
Den für die RO zentralen Begriff der Partizipation allen Seins an Gott erläutert Adrian Pabst. Deutlich wird vor allem, wie sehr Milbank, Pickstock und auch Pabst selbst Klassiker wie Thomas von Aquin und Augustinus neuplatonisch lesen. Für die RO gilt, »dass Immanenz immer schon von Transzendenz durchdrungen ist, weil die reine Sichtbarkeit des Immanenten die geheimnisvolle Gegenwart des Transzendenten […] miteinschließt.« (95)
Harald Seuberts Feststellung, die RO sei »eine Denkströmung mit der Löwenpranke« (102), ist eine hilfreiche Metapher. Ohne sich ihr direkt anzuschließen, gewinnt er Motive für sein eigenes religionsphilosophisches Projekt: Hier geht es vor allem um die Wiedergewinnung der Metaphysik, die »in einem auf Wahrheit abzielenden Begründungsdenken kaum vermeidbar« ist (109). Das lässt das Projekt einer Einheit von Theologie und Philosophie wieder in den Blick kommen. Als Denkaufgabe skizziert er dafür, dass die Wahrheitsansprüche der Metaphysik und die der Heilsgeschichte in Kongruenz zu bringen seien.
Daniel von Wachter kritisiert den Orthodoxie-Anspruch der RO, indem er ihr vorwirft, entscheidende Glaubensaussagen zu metaphorisieren (122 u. ö.). Das hierfür verwendete Raster dessen, was »liberal« und was »orthodox« sei, ist allerdings grobschlächtig und unausgewiesen (»Des liberalen Theologen Richtschnur sind nicht Argumente, sondern die Zeit«, 119, dagegen steht »die biblische Lehre«, 133). Was soll durch solche Verzeichnungen gewonnen werden? Die kurze Gegenrede von Adrian Pabst betont den Orthodoxieanspruch der RO, problematisiert aber die leitenden Kategorien nicht.
Eine weitgehende Kritik der RO trägt Achim Lohmar vor. Er bemängelt vor allem, dass in ihr säkulare Argumente nur als Defizit verstanden werden und also nie in ihrem eigenen Wahrheitsanspruch gewürdigt werden (151 u. ö.). Es ist bedauerlich, dass sich zu diesen Einwänden nur wenige Zeilen in der Einleitung der Herausgeber finden (9 f.), da er einen zentralen Punkt anspricht. Das gilt auch für Bemerkungen zum neuzeitlichen Theismus seitens der RO, auch wenn Lohmars Gegenüberstellung eines toleranten neuzeitlichen und eines herrscherlichen vorneuzeitlichen Gottesbildes wohl kaum zutreffen dürfte (161 f.).
Mit der Kritik an der Grundintuition der RO ist Lohmar freilich allein im Band. Gianfranco Schultz, Hans Otto Seitschek und Johannes Corrodi Katzenstein betonen in ihren Beiträgen vorsichtige bis deutliche Sympathie und schlagen weitere Lektüren vor, Schultz nennt Abraham Kuyper und die »Reformierte Philosophie« (171); freilich ist doch sehr fraglich, ob es letztere im Singular überhaupt gibt. Seitschek zeigt Parallelen zum – zu Unrecht? – weithin vergessenen Werk Romano Guardinis auf. Corrodi Katzenstein verweist vor allem auf Eric Voegelin und stellt dabei bedenkenswerte Rückfragen zur Lektüre von Duns Scotus durch die RO, der für Milbank ja der Urheber des »Desasters« überhaupt ist (208–211).
Christoph Schneider fokussiert auf erkenntnistheoretische Fragen. Er kritisiert die Idee der »Endlichkeit der Vernunft«, also dass sie »keinen Zugang haben kann zu transzendenten Realitäten« als dogmatische Setzung (195), und plädiert für ein Vernunftverständnis, das eine Mitte zwischen Konventionalismus und Abbildung transzendenter Wahrheiten anzielt (200 f.). Der Dogmatismusvorwurf an die Gegenseite plausibilisiert die eigene Position noch nicht, aber hier wird ein Thema so isoliert, dass es bearbeitbar erscheint.
Abschließend fragt Bernd Wannenwetsch, ob die genealogische Meistererzählung der RO sie nicht ungewollt triumphalistisch erscheinen lässt. Seine Sorge, dass die RO »ihre Sicht der Dinge insbesondere im Sinne des logischen Primats gegenüber anderen Gedankenkomplexen« präsentiert (234), spielt zu Lohmars Aufforderung zurück, kritisierte Positionen als sie selbst zu Wort kommen zu lassen.
Was tun angesichts der »Denkströmung mit der Löwenpranke«? Zum einen wird es um die Selbstdarstellung der kritisierten Positionen gehen müssen (Lohmar). Zum anderen tut Differenzierung dringend Not (tendenziell: Schneider, Pabst): Säkularisierung, Partizipation, Theismus, Analogiekonzepte, Natur/Gnade, Vernunftbegriff … sind derart diverse Konzeptionen, dass nichts gewinnt, wer meint, sie über einen Leisten schlagen zu sollen. Das gilt für Verteidiger wie Skeptiker der RO gleichermaßen.